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Filmkritiken

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Unbekannt verzogen

von Magnus Klaue

In deutschen Alternativkiezen häufen sich Beschwerden über Hostelbewohner und Partytouristen. In Wahrheit sind die Einheimischen dort längst ebenfalls nur auf der Durchreise. Eine kurze Verfallsgeschichte des Wohnens.

Seit es Mietwohnungen gibt, erzählen Geschichten vom unheimlichen Dasein der Mieter. Die Studenten und Junggesellen in den Erzählungen von E. T. A. Hoffmann, Arthur Schnitzler und Franz Kafka leben in Zimmern, die ihnen nicht gehören, obwohl sie dort zu Hause sind. Wie in den Häusern ihrer Eltern die Dienstmädchen sind sie selbst bei ihren Hauswartsfrauen und Logierherren nur zu Gast. Sie stehen in der Schuld von Menschen, mit denen sie nichts verbindet als ein Vertrag und die sie manchmal überhaupt nicht kennen. Weil ihr bürgerliches Dasein ihnen nur geliehen wurde, kann es ihnen jeden Augenblick wieder genommen werden. In ihrem Leben verschränken sich Seßhaftigkeit und Obdachlosigkeit. Auch wenn sie nach Hause kommen, sind sie zu Besuch; in einer kargen Pension fühlen sie sich nicht weniger heimisch als in den eigenen vier Wänden.

Daß das Leben als Mieter, das sich vom Zwang der Bodenständigkeit emanzipiert hat, unter den gegebenen Bedingungen keine Freiheit gewährt, sondern früher oder später in die Psychose führt, haben die frühen Filme von Roman Polanski gezeigt, die fast alle um das Grauen des Mieterdaseins kreisen. In »Ekel« von 1965 spielt Catherine Deneuve eine labile junge Frau, die von ihrer rücksichtslos lebenslustigen Schwester in der gemeinsamen Wohnung allein gelassen wird und dem Wahnsinn verfällt. Sie geht nicht mehr zur Arbeit, läßt den Haushalt verkommen und isoliert sich. Einen Verehrer, der aus Sorge um sie in die Wohnung eindringt, tötet sie ebenso im Affekt wie den Vermieter, der sich ihr ungeschickt brutal zu nähern versucht. Der drei Jahre später entstandene Film »Rosemarys Baby«, eine Parabel über die Affinität von Mutterschaft, Häuslichkeit und Freiheitsberaubung, inszeniert das Glück der Lebensgemeinschaft als satanisches Selbstopfer. In »Der Mieter« von 1976 schließlich arbeitet Polanski den antisemitischen Gehalt des Stereotyps vom parasitären Untermieter heraus. Die Hauptfigur dieses Films, die Polanski selber spielt, ist ein schüchterner Pole, der von seinen neuen Nachbarn diffamiert, abstruser Delikte beschuldigt und in den Selbstmord getrieben wird. Seine Versuche, als Gleicher unter Gleichen anerkannt zu werden, enden damit, daß er sich freiwillig zu dem Monstrum macht, als das die Mietergemeinschaft ihn betrachtet.

Aber Polanskis Filme wirken heute ebenso archaisch wie die Mietergeschichten von Schnitzler und Kafka. Ihr Schrecken entsprang der Erfahrung, daß die Befreiung von der Bindung an Scholle, Familie und Herkunft, die das Mieterdasein verspricht, sich als Illusion erwies. Wegzuziehen aus der Heimat, die man sich nicht ausgesucht hat, führte stets in neue, weniger greifbare Abhängigkeit hinein. Statt Herren ihres eigenen, wenngleich eingeschränkten Lebens zu sein, wurden die Mieter zu geisterhaften Geschöpfen, die in ständiger Furcht vor den wahren Eigentümern ihres nur scheinbar geregelten Daseins leben oder selbst zur Bedrohung werden. Nicht weniger populär als der Topos vom gepeinigten Mieter ist der vom dubiosen Untermieter, der sich als Serienmörder oder zumindest als Psychopath entpuppt. Was jedoch bei Kafka und Polanski noch abgründig wirkte, gehört heute zum Alltag, in dem sich die Menschen ebenso furcht- wie illusionslos eingerichtet haben. Das alltäglich gewordene Unheimliche erzeugt statt Grauen lediglich Streß.

Wenn die Menschen nicht mehr fähig sind, vor sich selbst und voreinander zu erschrecken,
gehen sie sich nur noch auf die Nerven. In liebloser Umgänglichkeit hocken sie aufeinander und halten die Bruthitze, die ihr nach innen gestauter Frust erzeugt, für Herzenswärme. Ob sie sich dabei in ihrer Wohngemeinschaft, ihrem Projektraum oder ihrer Lieblingskneipe aufhalten, können sie kaum noch unterscheiden. Nirgends lassen sich die Folgen der freiwilligen Selbstqual, zu der das zwanglose Miteinander der Mieter geworden ist, die fast immer Freunde, Feinde, Mitbewohner und Kollegen zugleich sind, anschaulicher studieren als im Berliner Bezirk Kreuzberg, dem Avantgardebiotop für alternative Niedertracht. Hier, wo »Mieterkollektive« darauf bestehen, ihre Briefkästen nicht reparieren zu lassen, weil das Postgeheimnis Ausdruck bürgerlicher Ideologie sei, und jeder, der sich über laute Musik um drei Uhr nachts beschwert, als Spießer gilt, verachten alle an ihren Nebenmenschen die Unarten, die sie an sich selber nicht mehr bemerken.

Galt in der Moderne der Mieter selbst als finsterer Gast, der ständig in Gefahr stand, von den Einheimischen um sein Existenzrecht gebracht zu werden oder sich leibhaftig als die Bedrohung zu erweisen, die man in ihm sah, haben sich im postmodernen Patchwork-Kiez die Mieter zu Einheimischen erhoben, die zwar einander nicht leiden können, sich im Kampf gegen die Feinde ihres »Lebensraums« aber immer wieder zusammenraufen. Als »Lebensraum«, den es zu bewahren gelte, bezeichnete jüngst Nina Warneke, Betreiberin des Café Marx in Kreuzberg, gegenüber der Wochenzeitung »Jungle World« ihren Multikultikiez, um zu begründen, weshalb mutmaßliche Touristen bei ihr 20 Prozent mehr bezahlen müssen. Vor allem die Bewohner des nahegelegenen Hostels, die regelmäßig vor dem Café randalierten und das Geschirr zerschlügen, wolle man auf diese Weise abschrecken. Glaubt man dem »Selbstversuch« des »Jungle World«-Autors, genügen im Café Marx ein Reiseführer und eine Kamera, damit man den höheren Preis berechnet bekommt, während »echte Berliner« sich mit einer »Kiezkarte« ausweisen dürfen. Obwohl die Nachricht wenig später in einem Gastro-Forum im Internet mit dem Hinweis dementiert wurde, das
Café biete keine »Kiezkarte«, sondern nur einen geschäftsüblichen Rabatt für Stammkunden an, gilt es seither als drastisches Beispiel für die im Bezirk grassierende »Fremdenfeindlichkeit«.

Als »Fremdenfeindlichkeit« oder – in Anlehnung an einen von dem Soziologen Wilhelm Heitmeyer geprägten Begriff – als »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« bezeichnen den in Kreuzberg, Friedrichshain und andernorts angeblich virulenten Haß auf Touristen auch antideutsche Gruppen, die darin den Ausdruck einer verfehlten Gentrifizierungskritik erblicken. Vorfälle, die diesen Eindruck nahelegen, hat es in den vergangenen Monaten so viele gegeben, daß die Kreuzberger Grünen sich genötigt sahen, unter dem humorigen Motto »Hilfe, die Touristen kommen« zum »friedfertigen Miteinander« aufzurufen. Die Berliner Hipster Antifa Neukölln hat einige Ereignisse auf ihrem Blog dokumentiert. Im Görlitzer Park in Kreuzberg werden Menschen mit Flaschen beworfen, weil man sie für Touristen hält, auf Häuserwänden stehen Sprüche wie »Zündet Touristen an, und keiner muß mehr frieren«. Kinderwagen und Autos von Zugezogenen werden angezündet und die Fensterscheiben von potentiellen Investoren zerschlagen. Eine Gruppe Kritische Geographie Berlin phantasiert derweil von einer »Touristification«, die »monostrukturelle Ökonomien« zu etablieren helfe und »die Bedürfnisse der Anwohner« vernachlässige. Solche sich als »antikapitalistisch« gerierende »Heimatschutzinitiativen«, schreibt die Hipster Antifa Neukölln, überhöhten »Armutsbezirke zu erhaltenswerten Soziotopen …, anstatt daran zu arbeiten, sie zusammen mit der Armut selbst und ihren Gründen abzuschaffen.«

So sympathisch diese Ansicht ist, sie krankt an einem Widerspruch: Die betroffenen Alternativkieze sind längst keine »Armutsbezirke« mehr, sonst würden sich die Partytouristen, gegen die der Zorn sich richtet, gar nicht dorthin verirren. Im Gegenteil ist die Miete dort inzwischen höher als in den »bürgerlichen« Nachbarbezirken Schöneberg oder Tempelhof. Bezahlt wird sie nicht selten durch temporäre Zwischenvermietung der eigenen Wohnung an ebenjene marodierenden Partygäste, über die man sich hinterher im Kiezbüro beklagt. Überdies sind Touristen nicht einfach »Fremde«. Für diese nämlich hatten Kreuzberger, die stolz auf ihren angewandten Ethnopluralismus sind und jedes Kopftuch als Ausdruck kulturellen Selbstbewußtseins verteidigen, schon immer schrankenloses Verständnis übrig. Gerade Antideutsche haben diesen völkischen Multikulturalismus seit jeher denunziert. Sie sollten am besten wissen, daß die »Touristen«, die den Kiezlinken als Feindbild gelten, nicht als Repräsentanten des »Fremden« bekämpft werden, sondern als Agenten des Kosmopolitismus, der die Grenze zwischen dem Fremden und dem Eigenen in Frage stellt. In den »Touristen« läßt sich als Feind exorzieren, was man an der eigenen Umgebung, die längst durch eigene Mithilfe »aufgewertet« wurde und autochthone Nestwärme nur mehr als Simulation zuläßt, mit Unbehagen wahrnimmt.

Vorboten des Kosmopolitismus, der aus bornierten Staatsbürgern freie Weltbürger machen sollte, waren zu den Zeiten von Kafka wie Polanski noch die Mieter selbst. Wer auf eigenem Grund und Boden lebte, den erinnerten sie an den Anachronismus seiner Existenz. Weil sie das nie gehaltene Glücksversprechen der Einheit von Freizügigkeit und Seßhaftigkeit verkörperten, wurde das Dasein der Mieter halb neidisch, halb ängstlich als verantwortungslos und parasitär diffamiert: Entweder man wird sie nicht mehr los, oder sie bleiben ihr Geld schuldig, sie bereiten den Nachbarn Scherereien oder schmieden im Schutz ihrer geliehenen Privatsphäre finstere Pläne. Weil die Mieter auch in der eigenen Stadt gleichsam nur dauerhaft zu Gast waren, verschwammen vor dem Auge der nicht mehr allein transzendental Obdachlosen allmählich die Unterschiede zwischen Mietwohnungen, Pensionen und Hotels im Wunsch- und Angstbild eines wurzellosen urbanen Gewimmels.

Die Angstbilder, die bei Kafka und Polanski beschworen werden, waren freilich nur möglich, weil stets auch das Wunschbild präsent blieb, die Hoffnung nämlich, aus dem bürgerlichen Recht auf Freizügigkeit möge die Möglichkeit ungeteilter Freiheit erwachsen. Verwirklichte Freizügigkeit aber ließe selbstgewählte Seßhaftigkeit überhaupt erst zu. Deshalb ist diese, und nicht ein angemaßtes deterritorialisiertes Nomadentum, das wahre Gegenbild zum Fetisch der Heimat, die man sich niemals aussuchen kann. Gerade jene Klientel jedoch, in deren zu ebenso unansehnlichen wie lärmigen Groß-WGs verkümmerten »Kiezen« nun plötzlich über Partytouristen und Hostelbewohner geklagt wird, verabscheut nichts so sehr wie selbstgewählte Seßhaftigkeit. Wie die selbstgewählte Treue in der Liebe, für welche die zu Sachverwaltern ihrer Intimsphäre heruntergekommenen Apologeten »offener Beziehungsmodelle« nichts als aufgeklärte Verachtung übrig haben, erinnert die Entscheidung, an einem Ort zu bleiben, solange man will, an das bürgerliche Versprechen freier Selbstidentität, das vom Bürgertum verraten wurde. Dessen unfreie Nachfolger, die ihre mißlungene Emanzipation als Autonomie verklären, empfinden jede Erinnerung an dieses enttäuschte Versprechen als lästigen Anachronismus.

In Wahrheit ist ihrem Haß auf »Touristen«, der sich nicht zufällig nahezu wahllos auch gegen »Hipster«, »Yuppies« oder »Schwaben« richten kann, längst das konkrete Objekt verlorengegangen. Andernfalls würden sie selbst bemerken, daß es sich bei jenen, die in Kreuzberger Hostels leben und denen man nicht umsonst in klassischen Touristenbezirken kaum begegnet, um Abziehbilder ihrer selbst handelt. Wie der Kreuzberger Dauerfreiberufler mit seinen Kollegen wohnt, mit seinen Mitbewohnern »Projekte« erarbeitet und seine Kollegen als Mitbewohner, seine Freunde aber als Kollegen anheuert, bis sein Leben sich in einen undurchdringlich verfilzten Cliquenteppich verwandelt hat, so pinkelt er am Wochenende in denselben Hausflur, den während seines Kurztrips nach New York bereits sein Freizeitpartygast markiert hat, als dieser wegen eines mit Freunden erarbeiteten »Projekts« in der Stadt gewesen ist. Gerade weil in den Alternativkiezen, in denen am häufigsten pro Jahr umgezogen wird, niemand mehr wirklich wohnt, das eigene Leben als Dauergast aber statt als verwirklichter Kosmopolitismus erst recht als provinzialistische Qual empfunden wird, müssen »Touristen« her, an denen man den Frust auslassen kann, den die enttäuschte Sehnsucht nach Horizonterweiterung hinterlassen hat.

Schade nur, daß die scheinbaren Kosmopoliten ebenso beschränkt sind wie man selbst und daß sie das Glücksversprechen, das man in ihnen verachten möchte, noch nicht einmal überzeugend verkörpern. Erst wenn die Einwohner der Alternativkieze erkennen, daß ihr eingebildeter Kosmopolitismus nur Multikulturalismus war und sie auf all ihren Reisen doch nur in der immergleichen eigenen Sache unterwegs gewesen sind, wenn sie sich also entscheiden, endlich bei sich selber auszuziehen, um bei sich selber anzukommen, wo immer das auch sei, könnten auch die Kreuzberger ein-mal zu Menschen werden. Es wird noch lange dauern.                                                                         l

 Magnus Klaue schrieb in KONKRET 6/12 über Ethnomarketing

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