Günter Wallraff, schreibt die Illustrierte »Spiegel«, »wird nun auch mit Fragen nach seiner journalistischen Redlichkeit konfrontiert: Wie viel von dem, was unter seinem Namen in den letzten Jahren veröffentlicht wurde, hat er selbst geschrieben, wie viel hat er schreiben lassen … Der Publizist Hermann Gremliza sagte schon vor Jahren, in Wahrheit habe er und nicht Wallraff das Buch Der Aufmacher über die Methoden bei ›Bild‹ geschrieben.«
Vor Jahren? Vor einem Vierteljahrhundert. In seiner Rede zur Verleihung des von ihm gestifteten Karl-Kraus-Preises an Wallraff hatte Gremliza 1987 gestanden, dessen Erlebnisse in der »Bild«-Redaktion zu Protokoll genommen und daraus ein Buch gemacht zu haben,
das von der ersten Zeile des Vorworts bis zur letzten des Nachworts, das unter dem Pseudonym Reinhold Neven Du Mont erschien, an meinem Schreibtisch entstand. Nicht anders verhält es sich mit dem größten Teil des zweiten »Bild«-Buchs und einem kleineren des dritten; die anderen Teile und die anderen Bücher, Aufsätze, Rezensionen und Reden haben andere geschrieben. Ich sage die Wahrheit und Wallraff lügt nicht: Keins seiner Werke hat er geschrieben und alle stammen von ihm. Denn der »weltberühmte Schriftsteller«, der nicht schreiben kann, hat es vermocht, die verschiedenartigsten Autoren, deren Hilfe er sich versicherte, auf jenen einheitlichen Ton zu stimmen, der den echten Wallraff verbürgt, und die gesamte deutsche Literaturkritik und -wissenschaft glauben zu lassen, der Verfasser des »Aufmachers« sei von selbst nach »Ganz unten« gekommen. Daß keiner der Feingeister die groteske Unvereinbarkeit der Stile bemerkte, sollte es den Jüngern des Preisträgers, die diese Verleihung übrigläßt, zur Pflicht machen, jedem, der sich meiner späten Information bedienen will, das Wort, das er zuvor nicht fand, ins aufgerissene Maul zurückzustopfen.
Die Wendung »der nicht schreiben kann« wurde von der Journaille in dem Sinn verstanden, den der Satz »Karasek kann nicht schreiben« meint. Ein Mißverständnis. Karasek kann nicht schreiben, aber er tut es; Wallraff kann nicht schreiben und tut es nicht, weil er keinen Satz zu Papier bringt. Nach dieser Preisrede hat Wallraff zwanzig Jahre lang nichts (außer einer Predigt in Zürich) mehr veröffentlicht. Dann tauchte er plötzlich wieder auf – als »Under-Cover-Reporter« der »Zeit«. In KONKRET merkte Gremliza im Juni dieses Jahres an:
Inzwischen erscheinen Wallraffs Enthüllungen des ungeahnten Treibens von Callcentern und seiner Erlebnisse als schwarz angemalter Karnevalsjeck in der »Zeit«, die das Geheimnis hütet, ob der Inoffizielle Mitarbeiter, der heute das Zeug ihres Autors schreibt, von Wallraff verpflichtet werden muß oder von Giovanni »Mielke« di Lorenzo gestellt wird.
Lorenzos Name aber war Hase, wie auch der »Spiegel« von nichts wußte, jedenfalls bis Mitte August. Dann plötzlich fiel es allen wie Schuppen von ihren jahrzehntelang zugekniffenen Augen: Die »Zeit« gab an, man befände sich über diese Sache mit Wallraff »im Gespräch«. Über den jüngsten der Wallraff-Kulis weiß der »Spiegel«: »E-Mails, die zwischen Albrecht Kieser und Wallraffs Büro hin- und hergingen, legen nahe, daß Kieser eine Zeitlang Wallraffs Manuskript-Mann war. Es sieht danach aus, als habe Kieser in den vergangenen Jahren Texte geschrieben, die unter dem Namen Wallraff veröffentlicht wurden.«
Soweit die komische Seite der Geschichte, zu der auch der vom Gefühl der Minderwertigkeit beseelte Moralprediger Leyendecker gehört, dessen Investigationsgenie es erst nach mehreren Anläufen gelang, für die »Süddeutsche Zeitung« Namen und Adresse desjenigen ausfindig zu machen, der Wallraffs Methode des Schreibenlassens anno 1987 bekanntgemacht hatte. Die ernstere Frage nach dem
Wert der vielgepriesenen Literatur der sozialen Krampfader, die Gremlizas Preisrede vor fünfundzwanzig Jahren beantwortet hat, überfordert die Möglichkeiten der Enthüller des Enthüllers, deren Grenzen zwei Meldungen markieren, die ein Branchendienst an die Spitze seiner Aktualitäten gesetzt hat:
Die Staatsanwaltschaft Köln hat wie erwartet zwei Ermittlungsverfahren wegen angeblicher Steuerdelikte und angeblichen Sozialbetrugs gegen den Undercover-Reporter eingeleitet. Wallraffs ehemaliger Mitarbeiter Andre Fahnemann erklärt unterdessen, er habe noch »Leichen im Keller« und besitze »Audiodateien«, die Wallraffs angebliche »Lügen« belegten. »Süddeutsche Zeitung«, S. 24, »FAZ«, S. 29.
Burda Creative Group entwickelt ein neues Mode- und Lifestyle-Magazin für den Versandhändler Otto. Das hochwertig gestaltete Magazin soll erstmals im November erscheinen. Die Chefredaktion des Titels übernimmt Nina Schulz-Kuhnen von der Burda Creative Group.
Ginge es nach KONKRET, übernähme Günter Wallraff die Burda Creative Group und die Staatsanwaltschaft Köln ermittelte gegen Burda wegen des Verdachts der Entwicklung eines Lifestyle-Magazins.