Am 14. April verstarb der kolumbianische Journalist und Schriftsteller Gabriel Garcia Márquez. Der Literaturnobelpreisträger und Vertreter des Magischen Realismus zählte in der BRD zu den meistgelesenen Autoren Südamerikas. Daß sich Márquez Zeit seines Lebens insbesondere auch für die Entwicklung und Förderung des lateinamerikanischen Films eingesetzt hat, wird momentan leider kaum erwähnt. Lidice Valenzuela sprach in konkret 8/87 mit dem Autor über seine Rolle als Vorsitzender der Stiftung Neuer Lateinamerikanischer Film sowie die Gründung der Hochschule für Film- und Fernsehen in Havanna.
konkret: Wie fühlt man sich als Vorsitzender der Neuen Lateinamerikanischen Film-Stiftung? Gemessen am Ehrgeiz der Projekte, könnte man die Stiftung für eine bürokratische Einrichtung halten.
García Márquez: In Wirklichkeit ist die Stiftung die unbürokratischste Sache, die man sich vorstellen kann. Sie hat nur drei Mitarbeiter: mich als Präsidenten, einen Geschäftsführer und einen Sekretär, Punkt aus. Alle Mitarbeiter würden in diesen Raum hier passen. Wir sind drei Schriftsteller, und ich benutze nicht einmal mein Büro.
konkret: Wie wird die Arbeit dann erledigt?
García Márquez: Wir entwickeln nur die Ideen, die wir dann an geeignete Experten weiterreichen. Wir sagen ihnen, sie sollen die Idee prüfen und uns ein Projekt vorschlagen. Wenn ihre Überlegungen abgeschlossen sind, fragen wir sie, was es kosten wird und sehen uns nach einer Förderung um.
Ein konkretes Beispiel ist die Studie über die Situation von Film und Fernsehen in Lateinamerika. Die ist in Arbeit. Anderes Beispiel: Ein Film-Fachwörterbuch auf Spanisch, das den Leuten aber nicht vorschreiben soll, was sie zu sagen haben, sondern das darüber Auskunft gibt, wie die Dinge in den verschiedenen Ländern benannt werden. Es ist ja schon vorgekommen, daß eine brasilianisch-kubanische Co-Produktion in Kolumbien gedreht hat, und der Regisseur dem Kameramann oder seinem Assistenten, die aus verschiedenen Ländern kamen, einen Befehl gegeben hat und niemand wußte, worüber der redet. Es hat einfach Mißverständnisse gegeben, die die Arbeit behindert haben.
konkret: Was ist das Ziel der Studie über Film und Fernsehen? Was passiert, wenn sie abgeschlossen ist?
García Márquez: Wenn wir schon eine Stiftung aufbauen, deren Ziel die Entwicklung und Zusammenführung des Neuen lateinamerikanischen Kinos ist, müssen wir zuerst etwas über die wirkliche Lage wissen. Dann können wir Entscheidungen treffen.
Es ist klar, daß keine Stiftung eine Filmbewegung wie das Neue Lateinamerikanische Kino erfinden kann. Wir müssen nur aufmerksam sein für das, was schon da ist. Und das ist eine Explosion an neuen Filmen. Wir versuchen nur, Bedingungen zu schaffen um die Entwicklung zu fördern, die neue Bewegung auf dem Markt vorzustellen. Der Haken ist nur: es gibt keine Zentralisierung oder Vereinigung. Die Brasilianer, die Venezulaner, die Kolumbianer, die Argentinier, alle machen sie Filme. Aber das ist im Großen und Ganzen bruchstückhaftes, unvollständiges Kino. Wir wollen die Bewegung zusammenführen und Verbindungen herstellen zwischen den nationalen Kinos.
konkret: Was meinen Sie mit Vereinigung?
García Márquez: Vorab muß ich wohl klarstellen, daß wir nicht die Absicht haben, die Ästhetik der Filme zu beeinflussen. Wir wollen uns um das unentdeckte Potential kümmern. Wir sind ja nicht die einzigen, die die Existenz dieser Bewegung entdeckt haben, es stellt sich inzwischen heraus, daß die Regierungen versucht haben, ihre eigene nationale Filmindustrie zu schützen. Jedes dieser Länder hat ein eigenes Protektions-Gesetz vorgelegt.
konkret: Glauben Sie, daß Co-Produktionen eine Lösung sein könnten?
García Márquez: Ich denke mehr an Multi-Co-Produktionen. Als ich von der Zusammenführung des lateinamerikanischen Kinos sprach, meinte ich nicht, daß alles eins werden sollte und alles gleich. Jedes Land will seine Identität ausdrücken. Aber um herauszufinden, ob Co-Produktionen eine Lösung sein könnten, sollten wir uns ein Beispiel ansehen. Im letzten Jahr machten Kuba und Kolumbien zwei Filme gemeinsam, die sich als große Erfolge erwiesen. Das sind zwei Länder ohne diplomatische Beziehungen, mit anderen Worten, das Kino kann über derartige Probleme hinausgehen, sie überbrücken. Es ist viel leichter für die lateinamerikanischen Länder, Co-Produktionen zu machen, als daß jeder seinen eigenen Kram macht.
Es gab darüber vor 25 Jahren schon einmal eine Diskussion, aber nicht nur über das Kino sondern den Roman und die Literatur allgemein. Seit vielen Jahren gibt es hervorragende lateinamerikanische Romanciers. Aber sie haben keine lateinamerikanische Literatur-Bewegung zustandegebracht. Das Kriterium, das damals an oberster Stelle rangierte, hieß: »Der-und-der ist phantastisch«. Er ist ein großer Schriftsteller, seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt«. Damals, vor zwanzig Jahren mußten wir zur Kenntnis nehmen daß die Übersetzung in viele Sprachen gar nicht so wichtig ist. Diese Bücher erschienen auf Englisch, Italienisch, Französisch. Sie brachten drei oder vier gute Kritiken, wurden wiederaufgelegt, ließen sich in ein paar Tausend Exemplaren verkaufen und das war's dann. Zu einer wirklichen Bewegung wurde die Literatur erst in dem Augenblick, als wir die lateinamerikanischen Leser gewannen, als wir unser eigenes Publikum hier aufbauten.
Indien produziert etwa 700 Filme pro Jahr. Warum? Weil die Industrie gestützt wird vom Inlandmarkt. Aber wir sprechen ja hier vom lateinamerikanischen Film. Unsere Filme sind reif für den Oscar, sie werden auf Festivals gezeigt und gewinnen Auszeichnungen. Aber in Lateinamerika bekommt sie niemand zu sehen, weil die Verleiher keine lateinamerikanischen Filme wollen.
Ich will großzügig sein, ich denke nicht, daß sie es aus politischen Gründen tun. Sie tun es weil es kein Publikum gibt, weil die Leute nicht in diese Filme gehen. Von dem Tag an, wo sich die Leute in unseren Ländern ihre eigenen Filme ansehen, werden sich die ausländischen Gesellschaften darum reißen. Und sie werden sie verleihen. Solange sie ein Geschäft damit machen können, werden sie es auch tun.
Was also muß die Stiftung anstellen, wenn sie das berücksichtigt? Sie darf nicht nur die Herstellung der Filme fördern, sie muß auch ein Publikum dafür schaffen. Aus diesem Grund verhandeln wir, um in jedem Land ein Film-Zentrum einzurichten.
konkret: Mit welcher Strategie wollen sie denn das Publikum in die Kinos bringen. In den vierziger Jahren fühlte sich das Publikum vom lateinamerikanischen Film angesprochen. Glauben Sie, daß es heute eine ähnliche Reaktion geben könnte?
García Márquez: Das war während des Zweiten Weltkrieges. Das europäische Kino lag am Boden und die Vereinigten Staaten steckten alles in die Kriegs-Propaganda. Sie hinterließen eine Lücke in Lateinamerika für die nationalen Filmindustrien. Und die Leute haben sich deren Filme angesehen – es waren die einzigen, die man hatte. Argentinien war ein guter Filmproduzent, Mexiko auch. Mexiko brachte es sogar zu einer gewissen Popularität. Aber als der Weltkrieg einmal vorbei war, begann der Kampf um den Markt. Die nationalen Filmindustrien wurden von den Vereinigten Staaten beiseite geschoben, nicht von den Europäern übrigens, die sich ein eigenes Publikum erarbeiteten.
Deshalb ist unser Vorhaben immens, es ist strategisch und sehr langfristig angelegt. Und es schließt jene kleinen Filmzentren in den Ländern ein, in denen die Klassiker des lateinamerikanischen Kinos, von denen Sie gesprochen haben und von deren Existenz die jüngere Generation nicht einmal weiß, dann auch gezeigt werden können. Das gehört alles zu den Förderungsplänen der Stiftung, bedeutet aber nun nicht, daß wir uns um den Rest der Welt nicht kümmern. Für Ende nächsten Jahres stellen wir eine Übersicht über die lateinamerikanischen Filme zusammen, die in Tokio, Peking, Neu-Delhi und Moskau gezeigt werden wird.
konkret: Seit der Gründung der Film- und Fernseh-Hochschule sind nun ein paar Monate vergangen und es scheint, sie leistet ganz ordentliche Arbeit.
García Márquez: Ja, aber es gibt auch Probleme. Für den Grundkurs müssen die Studenten als Aufnahmebedingung bloß einen höheren Schulabschluß vorweisen und sie müssen zwischen 20 und 30 Jahre alt sein. Aber einige Studenten haben schon zwei oder drei Jahre an anderen Schulen verbracht und dies und das probiert. Wir können das nicht verhindern. Wir müssen sehen, was wir in Zukunft in solchen Fällen unternehmen werden, aber da die Studenten nun einmal da sind, können wir sie auch nicht einfach rausschmeißen. Deshalb überlegen wir, wie wir das Qualifikations- und Zulassungssystem verbessern können, damit so etwas nicht wieder passiert.
konkret: Wie sollen denn in Zukunft die Unterhaltskosten für Stiftung und Hochschule aufgebracht werden. Welche Resonanz hat es auf ihren Spendenaufruf gegeben, den sie bei der Einweihung gemacht haben?
García Márquez: Die finanzielle Situation der Schule ist ganz klar. Die Schule ist ein Geschenk Kubas, sie ist uns, vollständig ausgerüstet und ausgestattet mit einem Jahresbudget in kubanischer Währung, übergeben worden. Zwangsläufig hat die Schule aber auch hohe Kosten, die in konvertierbarer Währung zu bezahlen sind: Das Material, die Ausrüstung, die Gehälter für die Lehrkräfte, die Flug-Tickets – das alles wird von der Stiftung bezahlt und für die Stiftung habe ich um Spenden geworben.
konkret: Wird der Stiftungs-Etat diese Kosten decken?
García Márquez: Im Augenblick hat die Stiftung Mittel für die kommenden zwei Jahre.
konkret: Aber wie war die konkrete Antwort auf ihren Appell?
García Márquez: Es gab eine Äußerung der spanischen Regierung, die anfragte, ob wir Geld oder Ausrüstung benötigten. Als Ministerpräsident Gonzalez nach Kuba kam, habe ich ihm gesagt, daß wir ihn nicht um Geld bitten würden. Denn wenn wir darum gebeten hätten – sagen wir eine Million Dollar – man hätte sie uns gegeben, nehme ich an. Aber danach wären wir nicht mehr in der Lage gewesen, Spanien auch nur um einen Cent zu bitten.
konkret: Was haben sie also vereinbart?
García Márquez: Spanien könnte uns z. B. eine bestimmte Anzahl von Stipendien zur Verfügung stellen, Lehrkräfte schicken. Und immer wenn wir etwas brauchen, was Spanien uns geben könnte, werden wir Spanien darum bitten.
Oder Peru. Sie haben uns wissen lassen: »Wir möchten Ihnen helfen, was brauchen Sie?« Wir haben uns bedankt, aber wir haben nicht gesagt, was wir haben wollen. Aber in dem Augenblick, wo wir wissen, was wir benötigen, werden wir es ihnen mitteilen. Denn es geht nicht bloß darum, Geld zu bekommen.
So wie es aussieht, haben wir mit den Rechten aus dem Miguel Littin Buch ( Garcia Marquez: »Das Abenteuer des Miguel Littin, Illegal in Chile«, erscheint im Herbst bei Kiepenheuer & Witsch, d. Red.) die ersten beiden Jahre der Stiftung bereits finanziert. Ich bekomme ein Riesen-Gehalt für mein Seminar, das ich der Stiftung zur Verfügung stelle. Die meisten Leute, die dort arbeiten, können das nicht, weil sie nicht die Mittel haben. Ich bin versorgt. Aber ich kann Ihnen versichern, daß die Lehrer ihren Klassen allein wegen des Vergnügens alles geben. Mehr noch, sie sind alle Profis von hoher Qualifikation, die ihre Arbeit zuhause unterbrochen haben, um für einige Zeit nach Kuba zu kommen.
Und das ist ein zusätzliches Problem, denn die auswärtigen Lehrkräfte können nicht ein ganzes Jahr in Havanna bleiben, schon gar nicht zwei oder drei Jahre. Und die Leute sind gefragt, wir könnten sie gar nicht mit hohen Gehältern locken, weil sie überall mehr verdienen könnten. Sie sind hier, weil sie es genießen. Es gibt eine enorme Sympathie für dieses Unternehmen unter den Filmemachern in Lateinamerika.
Dieses Interview erschien zuerst in der kubanischen Zeitschrift »Prisma« 5/87.