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Preisrede Karl Kraus-Preis 1987

14.08.2012 20:12

Hermann L. Gremliza

 

ICH MUSS Sie enttäuschen: Noch einmal geht die Verleihung des Abschreckungspreises über die Bestimmungen, nach welchen er vergeben werden soll, hinweg. Noch einmal ist es nicht das hoffnungsvolle Talent, dem mit dem ausgelobten Preisgeld das Versprechen abgekauft werden könnte, nichts dergleichen mehr zu tun, sondern einen nützlichen Beruf zu ergreifen. Der Träger des Karl Kraus-Preises 1987 ist vielmehr ein Mann, den der letztjährige Preisträger einen »weltberühmten Schriftsteller« genannt hat und dessen Produkte dem Soziologen Oskar Negt schlicht »ein Gesamtwerk« sind. Ein weiteres Hindernis: daß der Preisträger dem Verlangen, nichts mehr zu schreiben, längst zuvorgekommen ist, und nur noch dazu verpflichtet werden könnte, künftig auch das Schreibenlassen zu lassen.  
Erweist dieser Preis seine Eignung als richtiggehender deutscher Literaturpreis also darin, daß er am Wortlaut der Ausschreibung vorbei verliehen wird, soll er sich immerhin dadurch unterscheiden, daß er den Absichten des Namensgebers die Treue auch dann hält, wenn es der Jury weder zur Ehre noch zum Vorteil gereicht. Denn am Erfolg jenes Wirkens, das ich nun beendet zu sehen wünsche, kann ich mich nicht unschuldig bekennen, und ich weiß, daß mein Sprechen weniger Anklang finden wird, als mein schweigendes Mitmachen gefunden hat. Aber die Neigung, sich eine Gefolgschaft um den Preis geistiger Nachgiebigkeit zu erhalten, besteht nicht. Kein anderer Zwang als der, den ich mit der Einrichtung eines nach Karl Kraus benannten Preises über mich verhängt habe, bestimmt mich dazu, mit mir abzurechnen. Es ist das Pech des Preisträgers, daß die Begradigung meiner Wege seinen Karren aus der Bahn bringen wird. Er möge es für sein Glück halten. Denn noch einmal, wie zur Krönung eines lebenslangen Martyriums, darf dies Lamm alle Sünden der Welt auf seinem Karree tragen, nicht mehr nur bespieen von reaktionären Dunkelmännern und verfolgt von allgegenwärtigen Spitzeln, sondern beim Namen genannt und beim Wort genommen von einem Helfer und Genossen, der es nicht mehr sein kann; der ausbricht aus dem Netzwerk ökonomischer Solidarität und politischer Konjunktur, journalistischer Gesinnung und menschlicher Taktik; der die letzte der Enthüllungen, die den Titel trägt: »Sie nannten mich Wallraff«, selbst in die Hand nimmt, bevor der Auftrag, sie zu schreiben, an eine Konkurrenz vergeben wird, die es doch nur verpfuscht.  
Täppische Anfänge hat sie schon unternommen. An dem Erfolgreichen, dessen Buch über die Leiden des Türken Ali gerade zum zweimillionsten Mal verkauft worden war, wurde da und dort herumgestichelt. Es wurden Zweifel an der »Glaubwürdigkeit« des »Unternehmens Wallraff« laut, das mit der Beschreibung des Elends reich geworden sei, und sogar daran, daß der Autor alles, was unter seinem Namen erscheint, selbst schreibe. In einem Interview mit dem »Spiegel« klärte Wallraff die Sache auf: »Es haben – das ist gar kein Geheimnis – bei meinen Büchern andere geholfen, und zwar auf unterschiedlichste Weise... Was das 'Bild'-Buch betrifft, haben mir die Freunde von 'Konkret' insofern geholfen, als sie für mich Archive gewälzt haben, indem sie für mich die Geschichte des Springer-Verlags recherchiert haben. Dann hat tatsächlich Hermann Gremliza das Buch redigiert. Er hat das so redigiert, wie es eigentlich mein Lektor vom Verlag hätte machen sollen, der aber zu der Zeit einen Böll-Roman bearbeitete und daher beim allerbesten Willen zeitlich nicht in der Lage war.« Keiner kann das mehr bedauern als ich, an dem es, wie ich nun erfahre, bloß wegen der beim allerbesten Willen unaufschiebbaren Bearbeitung irgendeines Böll-Romans hängenblieb, des Autors Erlebnisse in der »Bild«-Redaktion zu Protokoll zu nehmen und daraus ein Buch zu machen, das von der ersten Zeile des Vorworts bis zur letzten des Nachworts, das unter dem Pseudonym Reinhold Neven Du Mont erschien, an meinem Schreibtisch entstand. (Nicht anders verhält es sich mit dem größten Teil des zweiten »Bild«-Buchs und einem kleineren des dritten; die anderen Teile und die anderen Bücher, Aufsätze, Rezensionen und Reden haben andere geschrieben.) Ich sage die Wahrheit und Wallraff lügt nicht: Keins seiner Werke hat er geschrieben und alle stammen von ihm. Denn der »weltberühmte Schriftsteller«, der nicht schreiben kann, hat es vermocht, die verschiedenartigsten Autoren, deren Hilfe er sich versicherte, auf jenen einheitlichen Ton zu stimmen, der den echten Wallraff verbürgt, und die gesamte deutsche Literaturkritik und -wissenschaft glauben zu lassen, der Verfasser des »Aufmachers« sei von selbst nach »Ganz unten« gekommen. Daß keiner der Feingeister die groteske Unvereinbarkeit der Stile bemerkte, sollte es den Jüngern des Preisträgers, die diese Verleihung übrigläßt, zur Pflicht machen, jedem, der sich meiner späten Information bedienen will, das Wort, das er zuvor nicht fand, ins aufgerissene Maul zurückzustopfen.  
Ich aber kann und will das nicht mehr, und nicht, weil sein Erfolg meinen Neid geweckt hätte. Im Gegenteil: Ich freue mich daran, weil es ja doch bitter wäre, meine Verhältnisse auf dem Rücken eines Sozialhilfeempfängers ordnen zu müssen. Und ordnen muß ich sie. Es geht nicht an, Autor des »Wie Hannelore Kohl die Russen bezauberte« zu sein, den Menschenrechtler Blüm abzuführen, den Karl Kraus-Preis einzurichten und zugleich ein »Gesamtwerk« erst durch Mitmachen und dann durch Schweigen zu decken, dessen literarischer Wert Müll und dessen politischer eine Pleite bedeutet. An dem nichts wahr ist, keine Erkenntnis, kein Gedanke, kein Wort. Jeder Satz meilenweit hinter und unter dem, was gedacht und geschrieben wurde, konsumierbar gemacht. verflacht, plattgehauen zu dünnsten Stereotypen, doch vorgetragen wie die letzten Worte vom Kreuz (»und heute nun das erste deinerseits«, singt Wedekind). Mit dem Gestus des Enthüllers, der dem kränkelnden Mittelstand immer noch einmal und alle maßlos überraschend beweist – bitte sehr, hier sind erstklassige Unterlagen! – , daß es die da oben besser haben als die dort unten, daß Gerling tatsächlich ein Ausbeuter ist und ausländischen Proleten – man glaubt es kaum – noch übler mitgespielt wird als ihren deutschen Kollegen. Vor solcher Entdeckerfreude muß der Stolz eines Mannes verblassen, der herausgefunden hat, daß naß wird, wer einen Eimer Wasser übern Kopf kriegt, und dafür das Urheberrecht auf die Relativitätstheorie beansprucht. Als genügte es nicht, einen Blick durch die Speisenausgabe des Stammlokals zu werfen, um sich die Lektüre von »Ganz unten« zu ersparen; als enthüllte »Bild« mit der Schlagzeile »Steffi, wir lieben dich!« nicht mehr von sich, als alle echten »Bild«-Redakteure je erfahren werden und der falsche, der noch deren Unverständnis mißversteht, je begreifen wird; als deckte sich die Fiktion, diese Gesellschaft sei in all ihren Widersprüchen und ihrer Niedertracht nicht mit bloßem Auge, nämlich durch die Lektüre ihrer offiziösen Presse, restlos zu erkennen, nicht mit der Vorstellung des Generaldirektors, sein Söhnchen werde, wenn man es bloß ein paar Wochen an den Hochofen stellt, »von der Pieke auf lernen«. Was über den Kapitalismus in Erfahrung gebracht werden kann, steht im »Handelsblatt« und im Wirtschaftsteil der »Frankfurter Allgemeinen«, und präziser als in den »Industriereportagen«. Unterhaltsamer freilich sind diese. Und darin, heißt es, bestehe ihre »enorme« politische Wirkung.  
Nun muß man ja nicht gleich fragen, ob denn eine Bundesrepublik, die diesen »weltberühmten Schriftsteller« nicht hätte, anders aussähe. Keinem Dichter wäre daraus, daß sie es nicht tut, ein Vorwurf zu machen. Einen aber, der jede Kritik an der geistigen, der künstlerischen Produktion mit dem Hinweis auf die »enorme politische Sprengkraft« seiner Werke abweist, wird man doch fragen dürfen, wie es zu verstehen ist, daß nach Verkauf einer Million Enthüllungsbücher über die »Bild«-Zeitung deren Auflage genau eine Million höher liegt als zuvor. Ist es dies Resultat, das Wallraff nach Ansicht seines Biographen Linder zu einem »der gefährlichsten deutschen Schriftsteller« macht? Und gefährlich für wen? Für die Konkurrenz von »Bild«?  
Oskar Negt hat Wallraff in einem Aufsatz, in dem auch Wendungen vorkommen wie: »...läuft der Schreibprozeß ab nach den Regeln systematischer Vorurteilslosigkeit«, wovon sich wiederum der Literaturkritiker Heinrich Vormweg inspirieren ließ, als er schrieb: »Einmal festgemacht in einer überlegt ausgewählten sozialen Situation, läuft der Schreibprozeß ab...«, über den ich alter Gerichtsdiener Geschichten erzählen könnte – doch ich muß weiter: Negt also hat Wallraff den »politisch wirksamsten und von Arbeitern am meisten gelesenen Arbeiterschriftsteller der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft« genannt. Selbst wenn es wahr wäre, daß mehr als zehn Prozent der Wallraff-Leser Arbeiter sind und nicht bloß diplomierte Sozialarbeiter, bewiese das weder den Wert der Bücher noch den der Wirkung auf diese Leser. Es ist natürlich nicht wahr, und wie es ist, hat Wolfgang Pohrt, ohne sich in der Maske eines Uwe Herzog bei Wallraff eingeschlichen zu haben, ganz allein am Schreibtisch herausgefunden: Wallraff habe »mit wachsendem Erfolg wertvolle Orientierungshilfe für den sinngeschüttelten, von Selbstzweifeln und Identitätsproblemen geplagten Mittelstand geleistet, der in der leichtverdaulichen Social Fiction die dringend benötigte tröstliche Botschaft findet, es gäbe außerhalb seiner Klasse, also dort, wo es den Mittelständler hinzieht, nur Menschen, denen es entweder viel schlechter geht, oder die viel schlechter sind«. Das macht ja den Unwert der bloß moralischen Empörung aus: sie muß den Unterdrückten, um mit ihm leiden zu können, idealisieren, muß den mit Gewalt Entfremdeten, Entwürdigten, den Proleten, den Türken, den Schwarzen als den wahren, guten, schönen Menschen begreifen, dem die Armut als ein großer Glanz aus innen blinkt. Und wenn schon nicht mehr: arm aber glücklich, wie bei Rilke, so doch: arm und unglücklich, aber gut und heldenhaft. Des freuet sich der Leser sehr, auf daß es ewig bliebe. Ich übertreibe? Aber da sei der Preisträger vor, der wenigstens seine Interviews noch selbst gibt (Ich kenne nur einen Fall, in dem er dem Redakteur auch die Beantwortung der Fragen überließ, ohne daß darunter jene Authentizität, die dem »Gesamtwerk« eignet, gelitten hätte) und bei solcher Gelegenheit sich auf die Lehre berief, die diesen Schwindel erfunden hat: »Was mich mit all diesen Christen verbindet, ist das, was man in der religiösen Sprache ganz schlicht 'Nachfolge Christi' nennt... Ich würde Christus als eines der großen Vorbilder ansehen... Ich bin auch heute noch christlich geprägt.« Der Arbeiterschriftsteller als Nachfolger Christi, ganz schlicht. Aber eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr als ich auf solchen Leim. In dieser Gesellschaft ist das eben nicht die Selbstanzeige, die Verfolgung nach sich zieht, sondern der Versuch, das Dasein zum Dabeisein zu steigern. Adorno und Horkheimer, deren Urteilskraft freilich darunter litt, daß sie nie in der Nachfolge Christi das WC von McDonalds geschrubbt hatten, haben den Fall beschrieben, lange bevor er eintrat: »Was widersteht, darf überleben nur, indem es sich eingliedert. Einmal von der Kulturindustrie registriert, gehört es schon dazu wie der Bodenreformer zum Kapitalismus. Realitätsgerechte Empörung wird zur Warenmarke dessen, der dem Betrieb eine neue Idee zuzuführen hat.« Und wie zur Bestätigung dieses Befundes schlug der ebenfalls christlich geprägte, wiewohl aus der Kirchensteuer ausgetretene Heinrich Böll diese Worte ans Brett, das die Aufsichtsräte und Kardinäle vor der Stirn tragen: »Und so weiß ich nur einen Ausweg: schafft fünf, sechs, schafft ein Dutzend Wallraffs.« (Daß er die Herstellung von Wallraffs als Dutzendware für möglich hielt, spricht einmal nicht gegen das literarische Urteilsvermögen des Nobelpreisträgers.)  
Sozialpolitik ist der verzweifelte Entschluß, an einem Krebskranken eine Hühneraugenoperation vorzunehmen. Immerhin schadet es auch nicht. Wallraff aber fällt mit seinem Hühneraugenskalpell dem Krebskranken in den Rücken. Seinem »Aufmacher« hat er (und diese Zeilen sind wirklich von ihm ausgesucht) diesen Dialog vorangestellt: »Herr Keuner begegnet Herrn Wirr. 'Ich bin ein großer Gegner der Zeitungen', sagt Herr Wirr, 'ich will keine Zeitungen.' Herr Keuner sagte: 'Ich bin ein größerer Gegner der Zeitungen: Ich will andere Zeitungen’« Herr Wirr ist kein anderer als Karl Kraus, während der wirre Herr Keuner Herr Brecht ist, dessen Sinnsprüche über Politik, Kunst und Theater schon bei Kraus nur Ratlosigkeit zurückließen, wie solch kleine Gedanken in einem so großen Dichter Platz finden konnten. Journalist heißt einer, der das, was der Leser sich ohnehin schon gedacht hat, in einer Form ausspricht, in der es eben doch nicht jeder Kommis imstande wäre. – Der Journalismus dient nur scheinbar dem Tage. In Wahrheit zerstört er die geistige Empfänglichkeit der Nachwelt. Die dumme Antwort, die Brecht darauf gab, mochte immerhin durch die Hoffnung entschuldigt sein, die Revolution bedeute auch die Umwertung aller journalistischen Werte. Zitiert von einem Sozialpolitiker, der eine bessere »Bild«-Zeitung will, wird sie so trostlos wie das Bekenntnis, das Wallraff an anderer Stelle ablegt: »Ich bin dort (bei 'Pardon') weggegangen, weil es für mich nicht das richtige Forum war. Die wenigen Arbeiter, die das Blatt in die Hände bekamen, waren so verunsichert durch den arroganten verselbständigten ironischen 'wimsigen' Humor der Zeitschrift, daß sie zum Teil die realistischen Reportagen von mir gar nicht realistisch empfanden, sondern schrieben, das sei wohl eine tolle Satire gewesen.« Statt also dem Himmel für das gütige Mißverständnis zu danken, das den ernstgemeinten Sozialkitsch neben Texten von Gernhardt und Zeichnungen von Waechter als »tolle Satire« erscheinen ließ (obwohl ich nicht glaube, daß einer, der »tolle Satire« schreibt, eine Satire lesen kann), nimmt er sich noch ernster, als es die Satire erlaubt, und entwickelt eine Philosophie, die man eine deutsche nennen müßte, wenn sie nicht in einer ganz fremden Sprache daherkäme, nämlich so: »Auch die Wirkung von dem, was geschrieben wird, ist ja immer damit verbunden, inwieweit der, der schreibt, auch wirklich dahintersteht, inwieweit er es bezeugt.« Wie immer dem nun sei: ob die Wirkung von dem, was wird, damit zu tun hat, inwieweit der, welcher... oder ob zwar nicht die Wirkung dessen, was geschrieben ist, aber doch die Wahrheit eines Satzes sich danach bemißt, ob der Autor sagen kann, was er denkt, und also die Verbundenheit von Sprache und Gedanken bezeugt – jedenfalls entschloß sich unser Preisträger, die Arroganz der Satire zu fliehen und ein reiner Bezeuger zu werden. Er ging hinaus, um zu erleben.  
Er hätte besser etwas gelesen: Den Autoren wird jetzt geraten, Erlebnisse zu haben. Es dürfte ihnen nicht helfen. Denn wenn sie erleben müssen, um schaffen zu können, so schaffen sie nicht. Und wenn sie nicht schaffen müssen, um erleben zu können, so erleben sie nicht. Und außerdem: Der geistige Leser hat das stärkste Mißtrauen gegen jene Erzähler, die sich in exotischen Milieus herumtreiben. Der günstigste Fall ist noch, daß sie nicht dort waren. Aber die meisten sind so geartet, daß sie eine Reise tun müssen, um etwas zu erzählen. Denn abenteuerlicher als Nepal oder die Kantine von Gerling ist doch der Platz am Schreibtisch, kein Tiger schrecklicher und kein Werkschützer bedrohlicher als das leere Blatt Papier. Unser Preisträger aber muß reisen, weiter als ins wilde Kurdistan, nämlich bis ganz »hinter die Kulissen«, wie Kisch und Sinclair, die vor ihm dort »unmenschliche Zustände erforschten und unters Volk brachten«, sich aber vielleicht doch verbeten hätten, ihre Arbeit als eine gewürdigt zu sehen, die unmenschliche Zustände unters Volk bringt. Wallraffs Plan ist es, »Mißstände beim Namen zu nennen«, so daß »die Leser Bescheid wissen«, denn »für mich hat realistische Literatur noch immer die größere und durchschlagendere Aussagekraft, ... sie ist für die Mehrheit der Bevölkerung nachvollziehbar«, kann »die Aufarbeitung vermitteln«. Während ich die Vermittlung der Aufarbeitung zuständigkeitshalber gern dem Soziologen Negt überlasse, dem auch prompt der Satz einfällt: »In Wallraffs Schriften hebt sich die Arbeiterliteratur als Form der Gegenproduktion, der klassenspezifischen Alternative zum Kulturbetrieb tendenziell auf« (an was für großen Ereignissen man doch beteiligt war, ohne es zu ahnen – aber wie sagt der Dichter? Ein Schein von Tiefe entsteht oft dadurch, daß ein Flachkopf zugleich ein Wirrkopf ist) überantworte ich den Beitrag zur Bescheidwisserei und zur Nachvollziehbarkeit einem älteren Autor: Einer Idee ist weit mehr gedient, wenn sie nicht so gefaßt ist, daß sie den geraden Weg durch die Massen nehmen kann. Nimmt sie ihn nur durch das Hindernis einer Persönlichkeit, so kommt sie weiter, als wenn sie sich populär macht. Es beweist mehr für ihre Tragfähigkeit, daß sie ein Kunstwerk erzeugen kann, als daß sie in der schmucksten Hülle eines Tendenzwerks zu unmittelbarer Wirkung gelangt. – Was leicht ins Ohr geht, geht leicht hinaus. Was schwer ins Ohr geht, geht schwer hinaus. Das gilt vom Schreiben noch mehr als vom Musikmachen. – Ich aber glaube, daß im Kunstwerk aufgespart ist, was die Unmittelbarkeit geistiger Energien vergeudet. Nicht die erste, die letzte Wirkung der Kunst ist Menschlichkeit. Goethes Menschlichkeit ist eine Fernwirkung. Sterne gibt es, die nicht gesehen werden, solange sie sind. Ihr Licht hat einen weiten Weg, und längst erloschen leuchten sie der Erde. – Der Künstler steht ohne Anteil am Kampf. Er ist kein Mitgeher. Seine Sache ist es nicht, mit der Gegenwart zu gehen, da es doch Sache der Zukunft ist, mit ihm zu gehen.  
Entschieden altmodisch und gar nicht zu gebrauchen für eine realistische Literatur, deren durchschlagendere Aussagekraft und Nachvollziehbarkeit sich danach bemißt, ob sie am Erstverkaufstag ins Fernsehen kommt und auf der Lesereise die Säle füllt, aber rechtzeitig vom Tisch ist, bevor das nächste Buch erscheint. Auf solche Nahwirkung hat es der Preisträger abgesehen, nicht ohne sie auch bei Goethe zu entdecken: »Die Leiden des jungen Werther führten in einer sehr bürgerlichen Schicht ja auch zu unmittelbaren Wirkungen, nämlich zu Selbstmorden... Hier (nämlich seit Erscheinen der Leiden des jungen Ali) gibt es jetzt auch so eine Stimmungslage.« Bringen sich die Türken, gepackt von Alis Selbstmitleid, um? Im Gegenteil: »Eine Stimmung, die sicher schon da war, die aber jetzt auf den Punkt gebracht wird und dazu führt, daß viele sich souveräner, freier fühlen.« Nicht nur bei den Türken ist gelungen, was nie gelang: die Stimmung auf den Punkt zu bringen. Sondern »es gibt jetzt Erweckungen bei Bürokraten«. Er wollte sagen, daß einige Bonzen aufgewacht seien, aber in der Nachfolge Christi wird nun mal nicht aufgeweckt, sondern erweckt. Herr, er riecht schon! Aber das kommt davon, wenn man »von daher aus dem Aspekt des Eingreifens« schreibt statt unter dem Gesetz der Sprache, die freilich auch jenes Adelsprädikat nicht kennt, das die Zugehörigkeit zur Gilde der Betroffenheitsliteraten ausweist: Von Heinrich Vormweg, Ritter »Von ihm her«, über Christian Linder, Edler »Von hier aus«, bis eben zu Günter Wallraff, Herzog »Von daher«, aber nicht verwandt mit dem anderen Herzog.  
Iphigenie, beispielsweise, hat es auch nicht immer leicht gehabt im Leben, aber vertrackter ist doch die Lage eines Schriftstellers, der nicht schreiben kann, der deshalb, bevor es herauskam, endloses Prävenire spielen mußte und vor keiner Dummheit zurückscheuen durfte: »Eine Literatur, die sich nicht autonom setzt, sondern sich an dem weiterentwickelten und veränderten Bewußtsein der Bevölkerung orientiert, muß formal und in ihrer Methodik den neuen Ansprüchen und Bedürfnissen gerecht werden, neue Ängste, Sehnsüchte, Hoffnungen und erreichbare Ziele artikulieren, muß versuchen, ihren Aktionsradius und ihre Aussage zu erweitern... Sie darf den fortschrittlichen Kräften einer Gesellschaft nicht hinterherhinken,... kann unter Umständen ein Stück vorangehen, falls sie den fünften Schritt nicht vor dem ersten tut.« Die Kunst muß, darf oder kann, wenn, falls und solange sie dem Oskar (Lafontaine, Negt oder Vetter) nicht zwei Schritte voraus ist. Ein halber wird unter Umständen, die noch festzulegen sind, genehmigt. Des Künstlers Werk sei eine Anstak für die neuen Bedürfnisse. Aber es ist zum Kotzen: »Einige lebende Literaturdenkmäler...erweisen sich als unpolitisch, wenn sie gefordert, ihre Parteilichkeit unter Beweis stellen, in Dienst genommen werden sollen. Gewisse anarchistische Neigungen sind sozial bedingt durch ihre Soloarbeit, die den Gemeinschaftssinn untergräbt... In ihren 'bleibenden Werken' haben sie sich an ihren Dichter-Ehrenkodex zu halten: geistreich, aber nicht klar und eindeutig, exzentrisch, aber dabei distanziert und harmonisch.« Nehmen wir zu des Preisträgers Gunsten an, daß auch diese Sätze nicht in einer den Gemeinschaftssinn untergrabenden Soloarbeit entstanden sind, sondern – sie stammen aus einer früheren Schaffensperiode des Meisters – im Kulturreferat des MSB Spartakus. Doch die Meinung teilt er bis heute, weshalb ihm noch ein Stückchen »Dialektik der Aufklärung« um die Ohren gehauen sei: »Die Reinheit der bürgerlichen Kunst, die sich als Reich der Freiheit im Gegensatz zur materiellen Praxis hypostasierte, war von Anbeginn mit dem Ausschluß der Unterklasse erkauft, deren Sache, der richtigen Allgemeinheit, die Kunst gerade durch die Freiheit von den Zwängen der falschen Allgemeinheit die Treue hält.« Weil es, um jeden Zweifel auszuschließen sei's erklärt, der richtigen Allgemeinheit von größerem Nutzen ist, wenn ein Arbeiter, dem dieser Satz vor die Augen kommt, ihn fünfmal liest und im Wörterbuch nachschlägt, was hypostasiert bedeutet, als wenn er die Forderung, die Kunst müsse sich von daher in Dienst nehmen lassen, auf Anhieb versteht. Und am Ende so wie Wallraff: »Nicht jede Literatur zielt auf Handeln, auf die Veränderung des Bestehenden. Aber es ist ein bedeutender Unterschied, ob sie anerkannt, museumsreif und damit folgenlos ist – oder ob sie unbequeme Wahrheiten verbreitet, hinter die Kulissen schaut, auf Unrecht und Mißstände aufmerksam macht... Sicher sind Goethes Faust, Mörikes Gedichte oder neuere Klassiker wichtig. Aber sie zählen mehr zur repräsentativen bzw. zur Erbauungsliteratur... Das ist Literatur für die Feierlichkeiten, Weihrauch-Kultur.« Wallraff teilt ein. Der Frechheit eines weltberühmten Halbalphabeten, der Goethe und Mörike mit schlechten Zensuren straft, weil der Faust nicht hinter die Kulissen schaut und der Frühling sein blaues Band nicht in die Mißstände tunkt, ist nur noch der Namenspatron dieses Preises gewachsen: Ist Schriftstellerei nicht mehr als die Fertigkeit, dem Publikum eine Meinung mit Worten beizubringen? Dann wäre Malerei die Kunst, eine Meinung in Farben zu sagen. Aber die Journalisten der Malerei heißen Anstreicher.  
Das geschriebene Wort sei die naturnotwendige Verkörperung eines Gedankens und nicht die gesellschaftsfähige Hülle einer Meinung. Denkste? Nein, meinste: »Warum eigentlich immer am sogenannten 'guten Alten' anknüpfen, warum nicht genauso am 'schlechten Neuen'; zum Beispiel Trivialformen benutzen, um gesellschaftsbezogene politische Inhalte...ins Bewußtsein zu bringen... Ich stelle mir einen Schlüsselroman vor, ähnlich wie der 'Pate', nur weniger psychologisierend, als Gangsterboß etwa Schleyer von Daimler-Benz, ausgehend von seiner SS-Zeit bis zu seinen jetzigen Praktiken im Unternehmerlager. Ich glaube, da ließen sich mehr Krimihöhepunkte herauskristallisieren als in manchem fiktiven Gangsterroman.« Ein schöner Schund, in dem Höhepunkte herauskristallisiert werden. Aber die Anstreicher stellen jetzt aus und geben Malkurse: »Eine andere Möglichkeit ist der Schlüsselroman... Ein anderer Weg, den ich bei einem Thema soeben anwende, ist folgender: Man ist Z. B. im Besitz von brisantem Material... Man benutzt das Material in so einem Fall erst einmal als Inspirationsquelle, baut eine Krimihandlung darum...«, wobei es gehupft wie gesprungen ist, ob man die Handlung um die Quelle, die Inspiration oder die Information baut, solange man darauf achtet, daß der Weg, wie vorgeschrieben, angewandt und nicht etwa eingeschlagen wird. Es folgt sodann »die Bearbeitung der Sprache entsprechend der Zielgruppe, für die das Buch geschrieben wird«, und erst hier begreift man die Größe des Glücks, das die Sprache hat: daß nämlich dieser sie weder für die eine noch für die andere Zielgruppe »bearbeiten« kann. Deshalb sollen die Kollegen ran, aber »einige müssen erst einmal eine Fremdsprache dazulernen, nämlich die des Arbeiters«. Denn es kömmt darauf an, daß die Sprachlosigkeit, zu der die Herrschaft das Proletariat verurteilt hat, eine allgemeine werde, und nicht, daß die Entfremdeten die fremd gewordene Sprache sich wieder aneignen, wie es der Erbauungsliterat Arno Schmidt verlangte: »Denn Kunst dürfte immerhin die (hoffentlich!!) kommende, allen Gebildeten nicht nur verständliche, sondern überzeugende 'Religion' darstellen: da wird es heute-schon zur Pflicht jedes auch nur einigermaßen rechtlich Denkenden, (schätzungsweise doch 1 % der Menschheit), sämtliche in dieser Beziehung weltanschaulich oder sonst-empfindliche Halbmenschen hinter den Grenzpfahl zu verweisen! Mit anderen Worten: in Richtung Bonn dekretieren: 'Ob jemand KARL MARX besingt oder die Jungfrau MARIA – : das ist ganz gleich! Hauptsache, es wird gut gesungen.'; und nach Pankow hinüber: 'Der Arbeiter ist nicht das Maß der Literatur; sondern er hat sich gefälligst nach ihr hin zu bemühen!'. – «  
Da stöhnt der Sozialpolitiker auf, aber es hilft nichts: Eine Literatur, eine Sprache, die auf den Strich geht, um die Heruntergebrachten anzumachen, bringt sie nicht hinauf und sich herunter. Besser, der Arbeiter hat kein Buch im Haus als zehn Konsaliks, fünf Simmels und einen Wallraff, denn auch die gute Meinung hat mit der schlechten gemein, daß aus beiden kein Gedanke entsteht.  
»Ich will keine sogenannte Literatur machen«, sagt der Preisträger, aber nicht, weil die Trauben zu sauer sind, sondern weil er nicht einer der »Großschriftsteller« sein mag, »die über allem am Schreibtisch thronen... Es kommen jetzt gelernte Literaturkritiker mit ihren Erfahrungswerten von gestern, die sie anwenden auf meine Form, die aber ganz anders gelagert ist. Es ist eine neue Kunstform.« Die Zeitschrift der Journalistengewerkschaft steht ihm bei: »Ganz und gar scheinheilig ist die Kritik am 'Autor' Wallraff. In welchem Jahrhundert leben wir eigentlich? Wallraff ist ein moderner Autor, der sich nicht mehr mit dem Schreibtisch begnügt, sondern mitmischt.« Und Biograph Linder kündigt den endgültigen Abschied von diesem Foltergerät an: »Er hat einen Traum: daß eines Tages nicht mehr geschrieben wird, weil man sich dann direkt spontan unmittelbar (schon alles?) mitteilen kann, ohne erst den Umweg über Literatur zu machen«, damit kein Vers von Mörike mehr die direkte spontane unmittelbare Mitteilung stört, die Karl-Heinz der Dagmar macht. »Vieles spricht dafür«, verspricht Linder, »daß Wallraff über die Phase des Schreibens hinaus will.« Ich bin gerade dabei, dem Manne zu helfen und ihm auch noch das Mitmischen an anderer Leute Schreibtischen abzugewöhnen. Was es aber mit der »ganz anders gelagerten Kunstform« auf sich hat, ist dieses: Das Rollenspiel, die Verkleidung und Verstellung, unter deren Schutz Wallraff zwar nicht, wie Böll in seinem katholischen Diskant vortrug, »in die uns umgebenden Geheimwelten eindringt«, sondern bloß in Werkshallen, Pförtnerlogen und Hamburgerküchen, die den Millionen »da unten« lebenslänglicher Aufenthalt sind, dies Rollenspiel könnte immerhin künstlerischen Reiz gewinnen, wenn der Spieler ein Künstler wäre, der den Betrieb geistreich und exzentrisch auf den Kopf stellte, anstatt die Zeit, die er dort verbringt, damit zu vertrödeln, Fälle von mangelhafter Befolgung des Betriebsverfassungsgesetzes zu sammeln, die sich irgendwann zu Anfragen der Opposition an die Landesregierung verdichten lassen. Doch er bringt den Witz des Schalks, der ihm das Eindringen ermöglicht, sogleich herunter auf den Ernst des Sozialpädagogen, der an den Petitionsausschuß schreibt. Und so kommt weder Kunst heraus noch Politik. Daß einer sich der Sprache bedient, um zu sagen, daß ein Minister untauglich sei, macht ihn noch nicht zum Schriftsteller.  
Weil Wallraff das spürt, hat er aus der neuen Kunstform, aus Authentizität und Selbsttherapie ein kompliziertes Verteidigungssystem errichtet: Weil er nicht schreiben kann, muß wenigstens politisch was dabei rauskommen; weil nichts rauskommt, muß es wenigstens gefährlich sein; weil es nicht gefährlich ist, muß wenigstens die Seele leiden; und weil sie nicht leidet, muß es herausgeschrieen werden. Das Publikum blickt nicht mehr durch und die Kritiker weisen keine Zumutung zurück. Allen Ernstes schreibt der Christian Linder, der den Wälzer »In Sachen Wallraff« herausgegeben hat und tatsächlich in den Sachen des Meisters daherkommt: »In den oft halbverdunkelten Bildern des Films 'Ganz unten' wirkt das auf eine gespenstische Art realistisch, wobei die Dunkelheit und gelegentliche Unschärfe der Bilder gerade ihre Authentizität ausmachen.« Wahrheit entsteht, wenn die Kamera wackelt und es mit der Beleuchtung hapert. Auf diese Überzeugung ist der ganze Wallraff-Kitsch gebaut.  
Denn seine Absichten sind gut, und wenn es nur die ist, das eigene Leid zu lindern, welches im Falle Wallraff in sogenannten Identitätsfindungsschwierigkeiten liegt, also einem Problem, das die Nation mit ihm teilt. Man sieht: Er ist auch krankheitsmäßig auf der Höhe dieser bekloppten Zeit. »Man kann sagen«, sagt Linder und tut's, »daß er es geschafft hat, sich schreibend ein wenig zu normalisieren; er ist einer der wenigen, die es geschafft haben, sich qua Literatur von einigen ihrer individuellen Krankheiten zu heilen.« Auch Wallraff selbst bekennt, daß er »beim sich Freischreiben« heilende Kräfte spüre. Es muß sich um einen Placebo-Effekt handeln. Nun mag Literatur oft oder immer Therapie sein, aber auch dann, scheint mir, käme es noch darauf an, wer da leidet, worunter und wie: ob Goethe mit Elegien an seiner jungen Geliebten oder Wallraff mit »qua-Literatur« an Identitätsproblemen, die sich mit denen des Marktes seltsam decken und obendrein einen Schrillton erzeugen, der jeden Verkäufer der jüngsten Messeneuheit erbleichen läßt. Umgangston ist der Superlativ. Ständig will der Preisträger sich »total auf die Situation einlassen«, sieht »die Möglichkeit, total mißverstanden zu werden«, steht »als Schwächerer absolut mächtigen Institutionen« gegenüber, will »das Unrecht absolut bekämpfen, wenn es sein muß bis zur Selbstaufgabe«, sein Tun ist »eine existenzielle Notwendigkeit«, er ist oder ist nicht »mit seiner totalen Existenz verwurzelt«. Nach dem Erscheinen des Ali-Buches »gab es einen pausenlosen Krieg..., geht es mir so dreckig wie noch nie im Leben. Es war, als wenn ein Krieg losgegangen wäre... Dadurch ist mein Familienleben kaputtgegangen, dadurch sind Freundschaften kaputtgegangen, und nun stehe ich vor einem Riesenscherbenhaufen... Die Prozesse donnern... (Alles ist) eine Qual, eine wahnsinnige Selbstüberwindung«, während die Rolle bei »Bild«, jetzt können wir's ja zugeben, bloß »eine totale Selbstverleugnung« war. Sein Leben unter Türken war »eine totale Anforderung, ein Totaleinsatz, und jetzt geht die Folter freiwillig weiter«. Die Folter geht freiwillig weiter – ob wohl einer der Wallraff-Apologeten, der Negt, der Linder oder der Vormweg, der ja behauptet, mein Preisträger mache »Literatur von der überzeugendsten Art«, mir sagen kann, was der Autor damit sagen wollte? Die Folter geht freiwillig weiter – oder bin ich der Depp, der dort nach einem Gedanken sucht, wo doch nichts ist als gestaltloser Meinungsschleim? »Mit Literatur«, meint Vormweg abschätzig, »meint man, wenn auch unausgesprochen, noch immer 'Gestaltung', und mit ihr eine Art höhere Bedeutung und Wahrheit.« In der Tat, darauf hat es der Preisträger nicht abgesehen, und so droht er bereits, daß er in seiner nächsten Rolle, also der auf den total existenziellen Einsatz unter der Folter folgenden, sich »noch existenzieller einlassen« werde. Wir haben hier den ersten deutschen Schriftsteller, dem es gelang, einen Komparativ von existenziell zu bilden. So hoch ist noch keiner hinaufgekommen, da kann der Reinhold Messner zusperren.  
»Mit all dem ist Günter Wallraff einer jener Autoren, die für die heute tatsächlich aktuelle Literatur stehen.« Damit hat der Vormweg ausnahmsweise recht, und ich kann mich in der Wahl des Preisträgers, die ich getroffen habe, nur bestätigt fühlen, da der Literatur nicht besser gedient werden könnte als mit ihrer Befreiung von der heute tatsächlich aktuellen Literatur. Das müßte auch dem Preisträger gelegen kommen, weil es dann doch ein Ende hätte mit den existenziellen Einlassungen und den Folterqualen, insbesondere aber mit den von ihm beklagten »Schwierigkeiten beim Schreiben«: »Jeder Satz fällt einem schwer, man muß sofort abwägen: Hält der Satz den Gedanken?« Entschuldigen Sie das kleine Experiment – ich wollte nur sehen, ob am Ende dieser Rede noch einer hier für möglich hält, daß Wallraff sich fragt, ob ein Satz einen Gedanken hält. Bei Wallraff hieß es natürlich: »Jeder Satz fällt einem schwer, man muß sofort abwägen: hält der Satz juristisch?« Weil sonst doch wieder die Prozesse donnern.  
Bis zum Erbrechen haben uns die Feuilletonisten und der Preisträger selbst mitgeteilt, sein Werk sei so bedeutend, daß die Schweden das Wort »wallraffen« in ihr Wörterbuch aufgenommen hätten. Das ist schön von ihnen. Aber mich, den weder die Liebe zu den Mücken noch die zum sozialistischen Wohlfahrtsstaat besticht, bestätigt es nur in der Überzeugung, daß es außer dem bekannten alten Schweden auch eine Menge dumme gibt. Und so sei der Preisträger mit einem Wort, das in keinem schwedischen Lexikon steht, aus meiner literarischen Intensivstation entlassen: Es ist aber ein alter Irrtum, daß bei Aufregungszuständen statt Kompressen Drucksachen aufzulegen sind.
 
Die in kursiver Schrift gesetzten Abschnitte sind Zitate aus den Werken von Karl Kraus.

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