Vom 22. - 26. August 1992 fand in Rostock-Lichtenhagen ein von deutschen Neonazis organisierter »Volksaufstand« gegen Flüchtlinge und Arbeitsmigrantinnen und -migranten statt. Der damalige Rostocker Polizeipräsident versteht »bis heute nicht, was da passiert ist«; der damalige stellvertretende Oberbürgermeister von Rostock bedauert, man sei mit »dieser Form der Zuwanderung« überfordert gewesen. Was da im »Deutschen Herbst 1992« passiert ist und warum es passieren konnte, darüber klärt Hermann L. Gremliza in seiner Kolumne der konkret-Oktoberausgabe 1992 auf:
Wer erinnert sich in diesem deutschen Herbst nicht an jenen anderen, der dem Anschlag auf Schleyer folgte? Wie damals nur ein Thema die Reden aller Politiker und die Kommentare aller Journalisten beherrschte: wann endlich die im Grundgesetz garantierte Freiheit des Privateigentums abgeschafft oder doch so eingeschränkt werde, daß nicht länger sensible, aber verunsicherte junge Deutsche durch Kapitalistenwillkür, durch Entlassungen und Aussperrungen, durch die Wahl von SS-Männern zu Arbeitgeberpräsidenten und andere Erniedrigungen zu gewalttätigen Aktionen herausgefordert würden? Wer denkt nicht zurück an die »Zugabe«-Rufe, mit denen Kölner Passanten die Schüsse der RAF begleitet haben, und an das Gericht, das einen der Täter zu zwei Jahren Jugendstrafe mit Bewährung verurteilt hat? An die Polizei, die die Suche nach den Tätern wegen Einbruchs der Dunkelheit eingestellt hat? An den Krisenstab, der sich einig war, daß der Staat den Forderungen der Gewalttäter nachgeben müsse?
Darf man, weil gegen die Verstocktheit der Landsleute anders als mit gröbsten Provokationen nicht anzukommen ist, die unzähligen versuchten und elf gelungenen Mordanschläge auf die ohnmächtigen, schuldlos gehetzten Flüchtlinge in einen Vergleich setzen mit dem Attentat auf einen mit schwerbewaffneten Bodygards reisenden Repräsentanten der herrschenden Klasse, der seine Karriere als der ranghöchste SS-Führer im Reichsprotektorat Böhmen und Mähren begonnen hatte? Und wie muß eine Lage beschaffen sein, in der man es dennoch tut? So:
Seit den Pogromnächten von Rostock und den Reaktionen der anständigen deutschen Bürger, der Polizei, der Regierung, der Opposition, der Medien und der Intellektuellen darauf ist Deutschland in der Wirklichkeit, als was Kritiker es nicht zuletzt darum beschrieben haben, weil selfdenying prophecy die Realisierung des Erkannten bannen sollte. Nicht obwohl, sondern weil brave mecklenburger Kleinbürger und Proleten beim Einschlag von Brandflaschen »Zugabe« gerufen haben, ist der Vorstand der sozialdemokratischen Partei jetzt bereit, das Grundgesetz zu Lasten der Flüchtlinge zu ändern. Nicht obwohl, sondern weil sie im Fernsehen die vietnamesischen Familien auf der Flucht vor dem Tod in Rauch und Flammen gesehen und um Hilfe schreien gehört haben, stimmen 51 Prozent der Deutschen dem ersten Teil des Nazi-Schlachtrufs zu, 26 Prozent dem zweiten: »Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!« Nicht obwohl, sondern weil die Parole den Abschied von der Demokratie markiert, wurde ihr Inhalt im Herbst 1992 zu einer Gemeinsamkeit der Demokraten.
Der Chef des Hamburger Amts für Verfassungsschutz hat dieser Tage entdeckt, »wie sich die innere Ausrichtung von großen Teilen der Gesellschaft umkehrt... Die Visionen, die in den vergangenen 20 Jahren unsere Gesellschaft geprägt haben – Integration von Minderheiten, mehr Partizipation, mehr Bürgerrechte, mehr Europa , all das wird von einer rückwärtsgewandten, nach innen gerichteten Bewegung zur Disposition gestellt. Die Themen der neunziger Jahre werden Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit,Nationalismus und Rückkehr in die Innerlichkeit sein... Mehr als 20 Prozent der Jugendlichen (sympathisieren) mit den rechtsextremistischen Parteien. Wenn die sich erst einmal etabliert haben, werden sie die Gesellschaft mit umgekehrtem Vorzeichen mehr verändern, als es die Linken nach 1968 getan haben.«
Der Verfassungsschützer irrt berufsbedingt, wenn er meint, die Nazis gäbe es in der BRD erst, seit er sie bemerkt hat. Schon im ersten Bonner Bundestag waren die ehemaligen Mitglieder der NSDAP die stärkste Fraktion, und wenn dreiunddreißig Jahre danach die CDU zum ersten Mal einen Kanzler wählen konnte, der sich nicht schon bei Göring oder Goebbels beliebt gemacht hatte, verdankte sie das nicht einer Revolution ihrer Werte, sondern den verläßlichen Gesetzen der Biologie. Nur der Mißverstand von Verfassungsschützern und der Größenwahn von Achtundsechzigern hat es als als einen Demokratisierungs- bzw. Zivilisierungsprozeß aufgefaßt, daß sogar deutsche Mittelständler und Kleinbürger aller Art einen bürgerlichen Staat, der ihre materielle Gier befriedigt, eine Zeitlang gewähren lassen, ja daß sie, reelle Aussicht auf Zweitwagen und Dritturlaub vorausgesetzt, sogar das Geschwätz von Partizipation und Multikultur ein Weilchen anhören können, ohne gleich das Messer zu ziehen.
Denn lange vor Rostock waren 32 Prozent der Deutschen der Ansicht, an den Judenverfolgungen seien auch die Juden schuld. Und wenn die deutsche Intelligenz nach Rostock jammert, dann nicht um die knapp dem Tode entronnenen Vietnamesen oder die elf anderen, die bei den Deutschen nicht so viel Glück hatten, sondern um sich und die eigenen: Entgegen ersten Eindrücken sind nämlich nicht Menschen gejagt, angezündet oder totgeschlagen worden – »gefährdet«, »beschädigt« und »verletzt« wurden »der Rechtsstaat«, »Deutschlands Ansehen im Ausland« und anderes empfindliches Volkseigentum. Die Schlagzeile der vom früheren Bundeskanzler Schmidt verlegten Wochenzeitung »Zeit« zu den Pogromen lautete demgemäß »Anschlag auf die Republik«, der Titel des »Spiegel« hieß »Wut auf den Staat«.
Und doch hat der Hamburger Verfassungsschützer auch recht: Nichts ist mehr, wie es war, seit die Deutschen ihre Meinung über Integration von Minderheiten, mehr Partizipation und mehr Bürgerrechte nicht mehr für ein Linsengericht bzw. einen Frontspoiler verkaufen können und, weil sie mangels Nachfrage auf ihr sitzengeblieben sind, mit ihr hausieren gehen müssen. Es stellt sich dabei heraus, daß sie die Visionen, die in den vergangenen 20 Jahren unsere Gesellschaft geprägt haben sollen, immer mit einem stillen Haß betrachtet hatten, der sich jetzt, da man ihr gutmütiges Schweigen nicht mehr honorieren will, in laute Gewalt erbricht. Wen sie bis gestern im Freundeskreis einen Kanaken nur genannt haben, den »klatschen« sie heute in Gemeinschaft von Kameraden »auf«, oder sie stehen den Tätern Schmiere.
Und wie die Gesellschaft so ihr Staat: Die politische Polizei, die mühelos tausende Demonstranten von einem Treffen der Waffen-SS fernhalten oder wegtreiben konnte, steht ganz hilflos da, wenn zweihundert Glatzköpfe mit ihren Baseballschlägern stundenlang Leute durch eine Stadt jagen, die es gewagt haben, Asylbewerberzu beschützen.
Die Justiz, die gegen einen linken Attentäter lieber fünf- als nur viermal lebenslänglich verhängt hat, entdeckt, wenn die Mörder eines Afrikaners vor ihr stehen, die resozialisierende Wirkung kurzer Bewährungsstrafen. Wer Plakate gegen die Isolation inhaftierter RAF-Mitglieder geklebt hatte, kam wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vor Gericht und ins Gefängnis, wer vor Fernsehkameras den Angriff der Nazibanden auf Ausländer anfeuert, kann leider nicht belangt werden, weil die Vereinigungen nazistischer Terroristen keine terroristischen Vereinigungen nach Paragraph 129a bilden. Unbehelligt bleibt auch, wer vor Kameras und einer Hundertschaft Polizei die Hand zum Hitlergruß hebt und »Heil« brüllt, obwohl das Gesetz dies unter Strafe stellt (Paragraph 96a StGB: »Wer... Kennzeichen... einer ehemaligen nationalsozialistischen Organisation verwendet, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft... Kennzeichen sind insbesondere Fahnen, Abzeichen, Uniformstücke, Parolen und Grußformen«).
Man muß nicht der Meinung sein, daß es gut wäre, möglichst viele Nazis möglichst lange einzusperren. Ich wäre zwar, wenn mich einer fragte, sehr dafür, aber auf was es hier ankommt, ist der Kontrast, der es niemandem zu leugnen erlaubt, daß Polizei und Justiz Morde und andere Straftaten von rechts genau so sehr begünstigen, wie sie das auf dem Weg der Weimarer Republik ins Dritte Reich getan haben.
Die instinktiv gleichgestimmte Reaktion der ganzen deutschen Gesellschaft, ihrer Politiker, ihres Apparats und ihrer Intelligenz auf die brennenden Unterkünfte von Asylbewerbern markiert den Anfang vom Ende der zweiten deutschen Republik. »Bei aller Verneinung der Gewalt – die wahren Schuldigen sitzen in Bonn«, sagt Schönhuber, den sich seit Rostock 39 Prozent der »Bild«-Leser als Bundeskanzler wünschen, und findet sich damit in der guten Gesellschaft des Chefredakteurs der »Zeit«, der die selbe Meinung für seine Studienräte formuliert: »So notwendig es ist, daß Gewalt ohne Rücksicht auf ihre vorgeschobenen Motive rigoros unterbunden werden muß, so sehr trifft auch dies zu: Wer vorbeugen will, muß die Vorwände begrenzen.«
Sie sind ein Volk. Noch, da sie nur nicht mehr so schnell reicher werden wie zuvor, sind bloß 37 Prozent der Meinung, daß »die Deutschen sich im eigenen Land gegen die Ausländer wehren müssen«. Sich vorzustellen, welcher Meinung wieviele von ihnen sein werden, wenn das Volk ein Volk in Not ist, weil das Sozialprodukt nur um ein Prozent statt um zwei steigt, ist nicht schwer. Was daraus folgen wird, wo die Entwicklung vom Autoritären zum Faschistischen halten wird, ist offen. Daß sich dagegen noch weniger Widerstand regen wird als beim letzten Mal, ist seit dem deutschen Herbst 1992 gewiß.