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Der Fall Daschner

26.09.2012 11:31

»Beherzter Schritt«

Aufhängen! Foltern! Kastrieren! Der kleinste Anlaß genügt, schon gerät die deutsche Zivilgesellschaft außer sich (das heißt: zu sich).

»Wenn eine unaufschiebbare polizeiliche Maßnahme getroffen werden muß und eine andere Möglichkeit nicht besteht, halte ich es nicht für gerechtfertigt, von Folter zu sprechen. Folter ist die Zufügung von Schmerzen um der Schmerzen willen, nicht um ein Ziel zu erreichen.« Wolfgang Daschner, Polizeivizepräsident in Frankfurt/Main

»Im Sinne dieses Übereinkommens bezeichnet› Folter‹jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem Dritten eine Aussage zu erlangen, wenn diese Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes ... verursacht werden.« Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, Bundesgesetzblatt 1990 II, Seite 247

Das Komitee findet es bedenklich, daß eine präzise Definition von Folter, wie sie Artikel 1 der Konvention enthält, immer noch nicht in das deutsche Strafgesetzbuch aufgenommen worden ist ... Besorgniserregend ist auch, daß das deutsche Strafrecht nicht absolut klarstellt, daß jede Form der Rechtfertigung oder Entschuldigung von Folter durch Notwehr oder Notstand kategorisch ausgeschlossen ist, wie es die Konvention verlangt.«

Fünf Jahre ist es her, daß das Antifolter-Komitee der Vereinten Nationen auf seiner zwanzigsten Sitzung im Rahmen seiner routinemäßigen Diskussion der Lage in Deutschland deutliche Kritik übte. Angesichts des kurz zuvor erschienenen Berichts von Amnesty International über dutzendfache Mißhandlungen von Flüchtlingen durch deutsche Polizeibeamte, fielen auch die Empfehlungen des Komitees nicht allzu freundlich aus

obwohl ihm die Bundesregierung gerade noch selbstzufrieden ihre Spende über 180.000 Mark an den United Nations Voluntary Fund for Victims of Torture in Erinnerung gerufen hatte. Neben anderem sollten Disziplinarmaßnahmen und die Strafverfolgung von Polizisten, die gegen das absolute Folter- und Mißhandlungsverbot verstoßen hatten, deutlich verschärft werden. Außerdem sollte sichergestellt werden, daß jede direkte oder indirekte Verwertung von Beweisen, die durch Folter gewonnen worden sind, kategorisch zu unterbleiben hat.

Die diplomatisch formulierte, aber deutliche Kritik am zielgerichteten Einsatz deutscher Polizeigewalt stieß schon 1998 in Deutschland nicht gerade auf offene Ohren. Immerhin mühten sich die politisch Verantwortlichen damals, die vielfältigen und schwerwiegenden Verstöße der Polizei gegen deutsche Grund- und internationale Menschenrechte zu leugnen.

Heute geht der Streit nicht mehr um die Fakten, nur noch um deren Bewertung. Der Vizepräsident der Frankfurter Polizei hat in mehreren Interviews detailliert dargestellt, wie er den festgenommenen mutmaßlichen Entführer Jakob von Metzlers malträtieren lassen wollte, um an Informationen über den Aufenthaltsort des entführten Kindes zu gelangen, dessen Leben seine Beamten noch hofften retten zu können. Daß ein Polizist, den das Präsidium offenbar als einen kannte, der besonders effizient Schmerzen zufügen kann, schon eingeflogen und auch ein Polizeiarzt zur Überwachung der peinlichen Befragung bereits angefordert worden waren, läßt keinen Zweifel, daß die Ermittler es ernst meinten.

Zugleich zeigt der Vorgang, daß es in einer solchen Situation keine funktionstüchtige institutionelle Kontrolle im Apparat gibt: Folter anzudrohen gehört für deutsche Polizistinnen und Polizisten sicher nicht zum täglichen Geschäft. In der konkreten Lage, in der die Verantwortlichen meinten abwägen zu dürfen zwischen der Aussicht, das Leben eines Kindes zu retten, und der Gewißheit, die Menschenrechte eines höchst Verdächtigen von Staats wegen zu mißachten, schien es weder den Streifenbeamten, noch den Vernehmern aus dem gehobenen Dienst, weder den Führungskräften, noch den der Polizei lose assoziierten Ärzten unvorstellbar, einen Festgenommenen physischer Gewalt auszusetzen.

Wie sich schon in den ersten Tagen nach Bekanntwerden der Vorgänge im Frankfurter Polizeipräsidium herausstellte, ist auch die zivile bundesdeutsche Gesellschaft mittlerweile so weit, daß über die Frage »Foltern oder nicht?« ernstlich ausgiebig gestritten werden kann. Die politische Spannbreite der Bedenkenträger gegen das absolute Folterverbot reicht, wenn’s dem Wohl der Kinder dient, für deren Sicherheit niemand Tempo 30 in den Innenstädten auch nur vorzuschlagen wagte, mittlerweile vom CSU-Rechtsaußen Gauweiler bis zum SPD-Populisten Lafontaine. Und auch etliche Kommentatoren in den Medien stellen sich auf den Standpunkt, daß Folter ein legitimes Mittel sei, dem Bösen Einhalt zu gebieten.

Charakteristisch für die Debatte, in der von der einen Seite grübelnde Unentschiedenheit demonstriert und damit der weniger zögerlichen Macht des Faktischen Generalpardon erteilt wird, sind zwei Beiträge in der »Taz«, einer Zeitung, die, wenigstens erinnern sollte man daran, vor einem Vierteljahrhundert als Reaktion auf die entfesselte Staatsmacht im Deutschen Herbst gegründet worden ist. »Taz«-Redakteur Patrik Schwarz bringt die gegenwärtige Aufbruchstimmung auf den Punkt, als er der Debatte über den Nutzen der Folter auch »ein Gutes« abgewinnen kann: »Sie hat uns vor Augen geführt, wie fragwürdig unsere Selbstgewißheiten sind. Wir merken daran, wie schwer es ist, richtige Entscheidungen in einer unübersichtlichen Welt zu treffen.«

Auch »Taz«-Autorin Monika Goetsch mag keine Gewißheiten, ohne die Welt ganz unübersichtlich zu finden. Sie kann sich deswegen ganz utilitaristisch gegen die »Moralisten« wenden, die Folter in »Bausch und Bogen« verwerfen, und das hohe Lied vom kleineren Übel singen, denn »wer sich an Prinzipien zu klammern pflegt, (gerät) im Fall von Jakob von Metzler leicht in die Zwickmühle«. So schlicht und routiniert wie die Wahl der Metaphern ist auch die Überlegung, die die Autorin anstellt: »Die Androhung eines Schmerzes, sonst ein erheblicher Verstoß gegen die Menschenwürde, mag da durchaus als das kleinere Übel erscheinen und der Tabubruch durch die Polizei ... vielleicht sogar als beherzter, einzig richtiger Schritt.« Ob die Folter das kleinere Übel ist oder nicht, läßt die Schreiberin vorsichtshalber offen, statt dessen schließt sie mit einer klug durchdachten Forderung: »Daß dem Mißbrauch der Folter als Mittel zum Zweck dadurch Tür und Tor geöffnet wird, muß eine gründliche Argumentation allerdings unbedingt verhindern.«

Sicher hat sie nicht sagen wollen, was sie da schrieb, genauso sicher ist aber, daß sie genau das denkt: Folter darf nicht mißbraucht werden. Denn gegen den pragmatischen Gebrauch von Folter im Kampf für eine gute Sache hat die Zivilgesellschaft mittlerweile nichts mehr einzuwenden, Hauptsache sie wird von Sicherheitskräften im eigenen Land angewandt, mit Maß und mit Ziel.

Tatsächlich schreiben allerdings, so leichthin und unbedarft, ungelenk und vage formuliert die Texte sind, die beiden Journalisten nicht über das moralische und rechtliche Dilemma, dem sich die Polizei zur Zeit des Verhörs real ausgesetzt gesehen haben könnte: Ob es nicht doch noch eine Chance gäbe, den vermißten Jungen, dessen konsequent schweigenden mutmaßlichen Entführer man vor sich sitzen hat, zu retten? Den Angriffen auf moralische Prinzipien, die in die Rhetorik des kleineren Übels münden, boten die Frankfurter Ereignisse nur eine weitere Gelegenheit, sich mit der besten aller Welten einverstanden zu erklären, Abschied von den alten Idealen zu nehmen, Abschied von der einfachen Sicht der Dinge, und sie zu ersetzen durch die noch einfachere, daß alles so schrecklich kompliziert sei und mithin allein ein rückhaltloser Fall-zu-Fall-Pragmatismus weiterhelfen könne.

Andere denken schärfer und prinzipieller. Ihnen geht es auch wirklich um Folter. Das gilt vor allem für den Heidelberger Völkerrechtler Winfried Brugger, der in den letzten Jahren aus dem akademischen Off mehrfach Plädoyers für die Legalisierung der Folter formuliert hat. Brugger ist kein bornierter Rechtsaußen und auch kein in Erinnerungen schwelgender Emeritus. Der 1950 geborene Jurist agiert unter anderem als Mitglied des Vorstandes der Deutsch-Amerikanischen Juristenvereinigung und zeichnet als Mitherausgeber der angesehenen Zeitschrift »Der Staat«. Außerdem ist er Mitglied des Beirats des Projekts »Europäische Grundrechte«.

Hatte Brugger früher zur Begründung seiner Position, daß es sogar eine Pflicht zu foltern geben könnte, noch die Bedrohung einer ganzen Stadt durch Terroristen imaginiert, die über eine chemische Bombe verfügen, reicht ihm heute eine durch sieben Merkmale charakterisierte Ausnahmesituation: »Eine (1) klare, (2) unmittelbare, (3) erhebliche Gefahr für (4) das Leben oder die körperliche Integrität einer Person durch (5) einen identifizierbaren Aggressor, der (6) gleichzeitig die einzige Person ist, die zur Gefahrenbeseitigung in der Lage (7) und auch verpflichtet ist.« Diese Merkmale, behauptet Brugger, seien Juristen vertraut, sie seien justitiabel und ausreichend bestimmt, weshalb ein Dammbruch als Folge eines so enggefaßten Folterverbots nicht zu befürchten sei.

Brugger meint, daß Lebensschutz Vorrang vor der Wahrung der Zivilität habe. Da der Staat ein Gewaltmonopol beansprucht, das den Bürgern untersagt, ihre Rechte selbst durch Anwendung von Gewalt zu schützen, sei der Staat seinerseits verpflichtet, alles zu tun (und notfalls auch zu foltern), um Gefahren insbesondere für das Le-ben seiner Bürger abzuwehren. Andernfalls müßte er sein Monopol legitimer Zwangsgewalt aufgeben und den Bürgern ihren Schutz selber überlassen.

Brugger und die anderen Vertreter der Aufweichung des Folterverbots im westlichen Diskurs werben für ihre Position damit, daß die Anwendung dieses außerordentlichen Zwangsmittels systematisch eng begrenzt werden könnte und damit dem seit einigen Jahren in manchen deutschen Polizeigesetzen erlaubten (aber auch scharf kritisierten) »finalen Rettungsschuß«, der gezielten Tötung beispielsweise von Geiselnehmern, verwandt sei: Folter soll demnach nur als Mittel zur Abwehr von Gefahren, nicht aber als Maßnahme im Strafverfahren legitim sein.

Bruggers Vorstellung fordert, von einer zentralen Vorstellung des Strafprozesses Abschied zu nehmen: Nicht zufällig schreibt der Heidelberger Ordinarius durchgängig von »dem Entführer«, der sein Recht auf Unversehrtheit verwirkt habe, und verlangt, daß es als Voraussetzung für Folter einen »identifizierten Aggressor« gebe: Mit der Vermutung der Unschuld des Beschuldigten bis zu seiner rechtskräftigen Verurteilung ist das nicht in Übereinstimmung zu bringen. Die Frage, die Emnid in diesem Zusammenhang an 500 repräsentative Bundesbürger stellte, ist eben unsinnig: »Fänden Sie es gut, wenn die Polizei die Möglichkeit hätte, überführte Straftäter unter Anwendung von körperlicher Gewalt zu einer Aussage zu zwingen, wenn dadurch das Leben eines Opfers gerettet werden kann?« Sollte ein Straftäter bereits rechtswirksam überführt sein, wird es für Gefahrenabwehr in diesem Sinne keinen Bedarf mehr geben. Dabei geht es nicht nur um ein begriffliches Problem. Es hat schon viele Verdächtige gegeben, bei denen die Polizei lange Zeit sicher war, sie seien die Täter, deren Schuld im Verlauf des Verfahrens dann aber doch nicht bewiesen werden konnte.

Das grundsätzliche Problem zeigt sich, wenn man den aktuellen Fall weiterdenkt. Zweck der Strafe ist zwar im deutschen Recht in erster Linie das an die rechtstreue Bevölkerung ausgehende Signal, daß das Recht sich bewährt. Auch die Sicherung der Bevölkerung vor dem Straftäter für die Dauer seiner Haft kann ein Zweck der Strafe sein. Wenn die Indizien aber zu seiner Verurteilung nicht ausreichen, obwohl ihn die Polizei als »Aggressor« identifiziert hat, ein Geständnis aber mit den herkömmlichen Mitteln nicht zu bekommen ist, warum sollte dann dem Staat, der seiner Polizei zuvor zur Gefahrenabwehr die Folter erlauben durfte, weil sie von der Schuld des Täters ausging, nun erlaubt sein, das Risiko einzugehen, den als Entführer Angeklagten, aber so nicht zu Verurteilenden, auf freien Fuß zu setzen? Müßte dann nicht konsequenterweise ein zweiter Folterdurchgang zur Erlangung des erforderlichen Geständnisses folgen?

Aber nicht nur die notwendigerweise damit verbundene Absage an die Unschuldsvermutung verbietet ein bißchen Folter. Bruggers Argumentation übergeht vor allem, daß das Verhältnis von Staat zu Festgenommenem ein ganz anderes ist als das vom Staat zum Entführungsopfer. Der Staat hat zwar eine Schutz- und Rettungspflicht gegenüber dem Opfer des Verbrechens, er ist für dessen Lage aber nicht ursächlich verantwortlich, seine Möglichkeiten, sie zu ändern, sind notwendigerweise begrenzt. Der Staat kann nicht nur nicht alles, er muß auch nicht alles, was er könnte, tun, um seine Aufgabe, Sicherheit zu gewährleisten, zu erfüllen. Selbst wenn es beispielsweise aussichtsreich erschiene, über einen Stadtteil eine zweitägige Ausgangssperre zu verhängen und dort alle Wohnungen zu durchsuchen, um einen Entführten zu finden, wird der Staat dazu jedenfalls nicht verpflichtet werden können, auch wenn die Einschränkung der Bewegungsfreiheit im Vergleich zum Leben des Entführungsopfers weniger schwer wiegen mag. Andernfalls wären die ohnedies in den letzten Jahren substantiell beschnittenen Freiheitsrechte nichts mehr wert.

Der festgenommene Verdächtige dagegen ist dem Staat ausgeliefert, sein Wohl und Wehe hängt alleine davon ab, wie weit der Staat der Polizei zu gehen erlaubt – das unterscheidet ihn übrigens auch vom Straftäter, gegen den die Polizei gegebenenfalls mit einem tödlichen Schuß vorgehen kann: Der befindet sich in Freiheit, wird auf frischer Tat ertappt und hat selbst in dieser Lage stets die Möglichkeit, sein Unterfangen abzubrechen. Über die Menschenwürde und das Leben des Entführten kann der Staat nicht entscheiden, die Menschenwürde und das Leben des Festgenommenen sind dagegen ganz in seiner Hand. Dieser asymmetrischen Situation trägt das Übereinkommen gegen Folter Rechnung, und es speist sich aus dem Wissen, daß bei Folter nicht allein das Ausmaß des tatsächlich erlittenen Schmerzes die Traumatisierung bewirkt, sondern die Verknüpfung von Angst vor dem ungewissen Schmerz mit der Erfahrung des restlosen Ausgeliefertseins.

Winfried Brugger hat in der gegenwärtigen Debatte für seinen Versuch, das absolute Folterverbot zu unterminieren, nicht mehr Unterstützung seiner akademischen Kollegen erfahren als bei seinen Vorstößen in den neunziger Jahren. Dennoch ist die Situation eine gänzlich andere. Denn anders als damals hat er jetzt offene Verbündete bei den Praktikern in der Polizei, wie dem Polizeivizepräsidenten Daschner, und bei den Gerichten, die für eine Relativierung des Folterverbots mindestens Verständnis äußern, wie der Vorsitzende des Richterbundes Geert Mackenroth, wenngleich mit weniger systematischen Überlegungen. Auch Innen- und Rechtspolitiker aus der Union haben das absolute Folterverbot öffentlich relativiert, ebenso wie die neue Bundesjustizministerin Zypries, die sich nach ersten verständnisvollen Worten später allerdings auf die bemerkenswerte Erklärung zurückzog, die Bundesregierung beabsichtige nicht, das bestehende Folterverbot durch ein neues Gesetz in Frage zu stellen. Immerhin.

In der deutschen Öffentlichkeit aber ist Folter mit dieser Debatte endgültig enttabuisiert – nicht weil sich bei verschiedenen Umfragen aus diesem Anlaß eine deutliche Mehrheit der Bundesbürger für die Anwendung von Polizeigewalt gegen einen Verdächtigen ausspricht, wenn dadurch Menschenleben gerettet werden können, sondern weil Folter jetzt wie die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zum Thema geworden ist, bei dem alle nur erdenklichen Standpunkte als menschlich verständlich präsentiert werden.

Und nicht nur das. Da selbst das von der CDU radikal reformierte Hessische Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Erlangung einer Aussage ausdrücklich ausschließt, hat Daschner eindeutig gegen geltendes Recht verstoßen. Jetzt wird zwar gegen ihn ermittelt, Konsequenzen hat das für ihn bislang aber keine. Seine Dienstvorgesetzten und die politisch Verantwortlichen mochten an eine Suspendierung nicht einmal denken. Ganz allgemein wird angenommen und offensichtlich auch gebilligt, daß das Strafverfahren gegen Daschner zu keiner Strafe führen wird. Als Verteidigungslinie wird ein bemerkenswerter Entschuldigungsgrund ins Feld geführt: Der zweithöchste Frankfurter Polizeibeamte soll sich in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum über das Verbot, Folter anzudrohen, befunden haben. Eine bemerkenswerte Aussage über die rechtsstaatliche Verfaßtheit der Bundesrepublik.

Zwar ist die Diskussion über Folter keine deutsche Besonderheit. Gegenüber der andauernden Debatte in Ländern wie beispielsweise Israel oder auch den USA nach dem 11. September weist das deutsche Szenario aber doch bemerkenswerte Eigentümlichkeiten auf. Sowohl in den USA als auch – stärker noch – in Israel findet die Kontroverse über Folter vor dem Hintergrund von Verbrechen statt, die, was Ausmaß, Intensität und Opferzahl angeht, außergewöhnliche Dimensionen haben. In Deutschland lieferte ein zwar schreckliches, aber doch in seiner Dimension nicht außergewöhnliches Verbrechen den Anlaß, innerhalb weniger Tage das Thema Folter auf einen der oberen Plätze der politischen Tagesordnung zu setzen.

Auch im Rückblick auf den rigiden Umgang mit Gefangenen aus der RAF in den siebziger und achtziger Jahren, der immerhin zur Gründung von Komitees gegen die Folter geführt hat, fällt der gravierende Unterschied auf, daß die RAF damals, wie schwach sie auch tatsächlich gewesen war, immerhin dem Staat und seinen Repräsentanten den Krieg erklärt hatte. Im Vergleich mit den USA und Israel fällt zudem auf, daß die Debatte hierzulande eine bemerkenswerte Schieflage aufweist: Während sich dort Gegner aus weiten Teilen der Gesellschaft vehement gegen Folter artikulieren und engagieren, fanden sich hier zwar in den Medien etliche Stimmen, die für eine konsequente Beibehaltung des Folterverbots argumentierten und das zivilisatorisch Regressive dieser Debatte kritisierten. Die soziale Basis dieser an grundlegenden Menschenrechten orientierten Haltung erweist sich beim zweiten Blick aber als bemerkenswert schmal: Nur der kleine Kreis liberaler Strafjuristen hat eindeutig Stellung bezogen. Selbst Mitglieder von Menschenrechts-Organisationen wie Amnesty International in Deutschland haben sich über den strikten Antifolterkurs ihrer Offiziellen beschwert.

Für ein rotgrün regiertes Land, dessen politische Elite bereit ist, für die Wahrung der Menschenrechte weltweit sogar Krieg zu führen, ist das eine aufschlußreiche Entwicklung. Daß fast gleichzeitig mit der Debatte über Folter ein deutscher Ministerpräsident (Peter Müller, CDU) für die Zwangskastration von Sexualstraftätern plädiert, ist mehr als nur ein Hinweis darauf, wie dünn der Lack ist, der die deutsche Gesellschaft als zivilisiert erscheinen läßt.

 - Oliver Tolmein in KONKRET 4/03 - 

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