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Ein Jahrhundert wird besichtigt

02.10.2012 15:51

Gestern ist der Historiker Eric Hobsbawm verstorben. In konkret 12/1995 widmete sich Georg Fülberth dem Briten und seiner Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts (Das Zeitalter der Extreme), die zugleich als Autobiographie gelesen werden kann.
 
Die Konstruktion von Distanz  
Mit Geschichte kann man viel machen. Nimmt man sie vorweg und stattet sie mit künftigen technologischen Errungenschaften aus, ist es Science Fiction. Es gibt den historischen Roman und das Handwerk der Geschichtsschreibung. Auch auf die Idee des »Was wäre gewesen, wenn ...« ist man schon gekommen: wenn also, zum Beispiel, Hitler den Krieg gewonnen hätte.  
Der britische Historiker Eric Hobsbawm hat diesen Möglichkeiten jetzt eine weitere hinzugefügt. In seinem Buch Das Zeitalter der Extreme bemüht er sich darum, das zwanzigste Jahrhundert so zu behandeln, als befände er sich schon tief im einundzwanzigsten. Über die Gegenwart schreibt er, wo es irgend geht, im Präteritum.  
Die frühe Historisierung – noch fast in der Gegenwart des Beschriebenen – mag auch therapeutisch gemeint sein, ist dies vielleicht aber nur im Sinne der Sterilisierung. Man wird das überprüfen müssen, wenn das Buch in späteren Jahrzehnten noch einmal gelesen wird.  
Das ist aber nur die eine Seite. Die andere besteht aus einer Person: Hobsbawm selbst, im Buch »der Autor« geheißen. Er ist beschreibendes Subjekt, an einigen Stellen auch Objekt der Betrachtungen, an seinen Reaktionen werden Wirkungen der Zeitläufte sichtbar gemacht.
 
Teilnehmende Beobachtung  
Hobsbawm, 1917 in Alexandria (Ägypten) geboren, in Wien und Berlin aufgewachsen, kam 1933 nach Großbritannien. Ab 1947 lehrte er an der Universität London. Der Klappentext seines neuesten Buches belehrt uns, daß er Gastprofessor an der Stanford University, am Massachusetts Institute of Technology, der Cornell University, der École des Hautes Études en Sciences Sociales sowie am Collège de France war und seit 1984 an der New School for Social Research in New York tätig ist.  
In den dreißiger Jahren mag es wohl gewesen sein, daß er in Großbritannien der Kommunistischen Partei beitrat. Er hat sie bis heute nicht verlassen. Als er in einem Interview nach den Gründen für diese Beharrlichkeit gefragt wurde, antwortete er: Die Mitgliedschaft sei für ihn ein Schutz, nicht so zu werden wie die anderen, welche sich vor allem um Geld und Reputation kümmern. Von den einflußreichen linken Intellektuellen, die Großbritannien im zwanzigsten Jahrhundert hervorgebracht hat, ist er jetzt der letzte. Die Londoner »Times« hänselt ihn auch schon einmal, weil er am Historischen Materialismus festhält und auf der Bedeutung der Großen Französischen Revolution besteht. Im Vorwort seines Buches revanchiert er sich, indem er die Tageszeitungen nennt, denen er etwas verdankt: »Guardian«, »Financial Times« und »New York Times«.  
Als Leninisten kann man ihn sich kaum, als Breschnewianer überhaupt nicht vorstellen. In den siebziger Jahren war er ein Sympathisant des Eurokommunismus. Zur gleichen Zeit machte er die britische Öffentlichkeit protestierend auf die Berufsverbote in der BRD aufmerksam. Unverkennbar gehört seine Sympathie heute der »liberalen Demokratie«, doch dieser Sprachgebrauch kann im Deutschen zu Mißverständnissen führen. Hobsbawm macht nämlich klar, daß diese von ihm favorisierte Ordnung sich mit purem Kapitalismus nicht verträgt. Es ist offensichtlich eine soziale und radikale Demokratie gemeint, wodurch auch die Nähe und Entfernung zu einer ähnlich sich nennenden politischen Formation bestimmt wird.  
Hobsbawms umfängliche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts enthält zugleich eine Autobiografie in Mini-Form. Er macht sich zwischendurch mit einem knappen Satz sichtbar, und der Leser kann über die Jahrzehnte hin verfolgen, wie sich die Perspektive ändert.  
Am Anfang steht die Wahrnehmung eines empfänglichen Halbwüchsigen: Das Datum der Machtübertragung an Hitler »ist auch ein unvergessener Winternachmittag in Berlin, an dem ein Fünfzehnjähriger und seine jüngere Schwester von ihren benachbarten Schulen in Wilmersdorf auf dem Nachhauseweg nach Halensee waren und irgendwo dazwischen auf ebendiese Schlagzeile stießen. Ich kann sie noch immer, wie im Traum, vor mir sehen«.  
Bald darauf, in der Emigration, hat Hobsbawm Partei ergriffen: »Wir – und auch der Autor kann sich da auf seine Erinnerung berufen – erwarteten, daß wir im kommenden Krieg kämpfen und auch sterben würden. Und als Antifaschisten hatten wir nicht die geringsten Zweifel, daß wir, wenn die Zeit gekommen wäre, keine andere Wahl hätten, als zu kämpfen.« Das prägende Ereignis dieser Jahre ist der spanische Bürgerkrieg, und nach allen Niederlagen und Blamagen der sozialistischen Angelegenheiten kann auf diesen Erfahrungen bestanden werden: »Was Spanien für Liberale und Linke in den dreißiger Jahren bedeutete, scheint heute nur noch schwer feststellbar. Doch für viele von ihnen, die überleben konnten und heute alle in biblischem Alter sind, scheint die Verteidigung ihrer Sache in diesem Land selbst rückblickend betrachtet die einzige politische Tat gewesen zu sein, die ihre Gültigkeit bewahrt hat.« An anderer Stelle finden wir den Autor in einer »›Schule‹ für kommunistische britische und ›Kolonialstudenten‹«.  
Nach 1945 wird die Luft dünner. Ein viel reisender Akademiker, bewandert in den Statistiken der internationalen Organisationen, tut sich um, doch da er nicht nur sieht und hört, sondern auch denkt, ist er immer mehr als nur ein Tourist. Aus einem nachkolonialen Land berichtet er über die staatlich verordnete Identitätsstiftung durch die »Einführung von Schulsporttagen, bei denen auf geborgten Kassettenrecordern plötzlich die Nationalhymne gespielt wurde« – und wir können annehmen, daß er dabei war oder es von guten Bekannten gehört hat. Er schreibt über die Avantgarde in der bildenden Kunst, berichtet vom Kino, vom Jazz und seinen Fans, »darunter auch der Autor, seit er 1933 in London zum erstenmal Duke Ellington erlebte«: die Welt, gesehen durch ein nicht nur gelehrtes, sondern auch neugieriges Temperament.
 
Geschichte der siebenundsiebzig Jahre  
In Hobsbawms Version reichte das »Lange neunzehnte Jahrhundert« von 1789 bis 1914. Das »Kurze zwanzigste« brachte es nur auf die Zeit von 1914 bis – ungefähr – 1991. Seine drei Perioden nennt er das »Katastrophenzeitalter« (bis 1945), das »Goldene Zeitalter« (von 1945 bis zum Beginn der siebziger Jahre), den »Erdrutsch« (danach). Die Themen langer wissenschaftlicher Debatten werden zuweilen mit apodiktischer Kürze abgehandelt. Zum Beispiel ist seiner Ansicht nach »der Faschismus niemals Ausdruck des ›Monopolkapitalismus‹« gewesen. Er begründet dies damit, daß »das wirkliche Großunternehmertum mit jeder Art von Regime zurechtkommt, das nicht zu Enteignungsmaßnahmen greift, und daß jedes Regime mit dem Großunternehmertum zurechtkommen muß. Der Faschismus war kein stärkerer ›Ausdruck der Interessen des Monopolkapitals‹ als der amerikanische New Deal, die britischen Labour-Regierungen oder die Weimarer Republik.« Hobsbawms Behandlung des deutschen Falls, in dem das große Kapital die Weimarer Republik zunächst nur widerwillig hingenommen und dann auf ihre Beseitigung hingearbeitet hat, ist nicht sehr gründlich.  
Hobsbawm ist fasziniert vom »Goldenen Zeitalter«. Die materielle Besserstellung breiter Massen, hohe soziale Mobilität, Umgestaltung des Alltags durch technologische Innovation sind für ihn Revolutionen innerhalb der westlichen Gesellschaften. Die andere Seite des Goldenen Zeitalters war die Systemauseinandersetzung. Hobsbawm kritisiert den »apokalyptischen Ton des Kalten Krieges. Dieser Ton kam aus den USA«. Als einen Meister antikommunistischer Rhetorik identifiziert er John F. Kennedy, den »am stärksten überschätzten amerikanischen Präsidenten des Jahrhunderts«. (Sein kultureller Standard veranlaßt ihn noch zu einer anderen Bemerkung ad personam: Nixon war »das unsympathischste Individuum unter den amerikanischen Nachkriegspräsidenten«.)  
Dabei ist sein Urteil über den realen Sozialismus unbarmherzig: Dieser erzielte seine Erfolge »mit enormen, unerträglichen, unannehmbaren menschlichen Kosten, zum Preis einer Wirtschaft, die, wie sich herausstellen sollte, in der Sackgasse endete, und zum Preis eines politischen Systems, zu dessen Gunsten nichts vorgebracht werden kann«. Die Frage, ob eine andere, bessere Ökonomie des gesellschaftlichen Eigentums denkbar gewesen wäre, bejaht Hobsbawm mit einem Hinweis auf die Diskussion über sozialistische Rechnungsführung, die in den dreißiger Jahren ihren Höhepunkt mit der Auseinandersetzung zwischen F.A. von Hayek und Oskar Lange erreichte. Dann mußten allerdings Marktpreise gebildet werden. »Die Möglichkeit einer solchen sozialistischen Wirtschaft zu demonstrieren heißt aber natürlich nicht, ihre Überlegenheit über sozial gerechtere Varianten der gemischten Wirtschaft im Goldenen Zeitalter unter Beweis stellen zu wollen; und noch weniger heißt es, daß sie die Menschen auch tatsächlich bevorzugen würden.«  
Hobsbawm trennt diesen denkmöglichen Marktsozialismus von der Politik der KPdSU und fragt, ob letztere eine andere Wahl hatte. Hier muß er ausführlicher zitiert werden, denn wir befinden uns am Kern eines Problems, an dem Dogmatismus und »Western Marxism« gleichermaßen nicht mehr weiterwissen:  
Einer der hervorragendsten sozialistischen Ökonomen der dreißiger Jahre, Oskar Lange, war aus den USA in sein Geburtsland Polen zurückgekehrt, um beim Aufbau des Sozialismus mitzuhelfen. Schließlich starb er in einem Londoner Krankenhaus. Auf seinem Sterbebett sprach er mit seinen Freunden und Bewunderern, darunter auch mit dem Autor, der sich an folgende Worte erinnert:  
»Wäre ich in den zwanziger Jahren in Rußland gewesen, dann hätte ich Bucharins Politik der graduellen Entwicklung unterstützt. Wäre ich Berater für die sowjetische Industrialisierung gewesen, dann hätte ich flexiblere und begrenztere Ziele empfohlen – wie die ausgezeichneten russischen Planer es tatsächlich getan haben. Aber wenn ich so zurückdenke, frage ich mich immer wieder: Hat es eine Alternative zu dem wahllosen, brutalen und im Grunde völlig planlosen Vorwärtssturm des ersten Fünfjahresplans gegeben? Ich wollte, ich könnte die Frage bejahen, aber das kann ich nicht. Ich weiß einfach keine Antwort.«  
Hobsbawms Rettung der von ihm beschriebenen und erlebten Zeit erfolgt auf einem Gebiet, für das er sich selbst keine originäre Kompetenz zumißt: in den Naturwissenschaften. (Daß er ihre Darstellung ausgerechnet in den »Erdrutsch«-Teil packt, zeigt, daß es ihm doch unmöglich war, den gesamten Stoff in seinem Drei-Phasen-Schema unterzubringen.) Für sie gilt: »Ihretwegen wird das 20. Jahrhundert als ein Zeitalter des menschlichen Fortschritts und nicht primär als Zeitalter der menschlichen Tragödie in Erinnerung bleiben.«  
Wie das? Idealismus, der gedankliche Leistungen »an sich« respektiert? Eher besteht ein Zusammenhang mit dem Beitrag von Wissenschaft und Technik zur »Sozialen Revolution« (die er ebenfalls nicht in einer einzigen Periode festhält, sondern für die Jahre 1945-1990 datiert). Von hier aus nimmt Eric Hobsbawm den Kampf gegen die Postmoderne auf.
 
Kritik der Gegenaufklärung  
Dritter Teil: »Der Erdrutsch«. Dieser besteht nicht nur im Untergang des ungeliebten real existierenden Sozialismus, sondern auch darin, daß einige Zähmungen des Kapitalismus zur Disposition gestellt werden. Nur zum ersten Vorgang hat Hobsbawm Fundiertes zu sagen, denn dieses Kapitel ist abgeschlossen. Die gegenwärtige Transformation des Kapitalismus aber scheint noch nichts für Historiker zu sein. Hobsbawms Fiktion, aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert werde über das zwanzigste geschrieben, läßt sich nicht durchhalten. Seine Prognose, daß staatliche Intervention auf Dauer kaum so stark reduziert werden kann, wie die einen hoffen, die anderen fürchten, dürfte ebenso realistisch sein wie seine Annahme, daß eine zusätzliche Ressourcenbewirtschaftung notwendig ist, umweltökonomisch also der »Kapitalismus der Krisenjahrzehnte« keine Lösung darstellt. Auch muß man nicht Hobsbawm heißen, um folgenden Satz zu schreiben: »Dennoch wäre es gut möglich, daß die Debatte, die den Kapitalismus und den Sozialismus als sich gegenseitig ausschließende, konträre Gegensätze darstellte, von zukünftigen Generationen nur als Relikt der ideologischen Kalten Religionskriege des 20. Jahrhunderts gesehen wird.«  
Auf mehr Unterscheidung besteht er dort, wo er gegen die Begleit-Ideologien der »Krisenjahrzehnte« polemisiert. Am ausführlichsten geht er gegen den marktradikalen Wirtschaftsliberalismus an, der nur »eine Art von Theologie« sei. Er lehnt es ab, selbst auf die Sowjetunion Stalins den Totalitarismusbegriff anzuwenden. Damit wendet er sich gegen eine Doktrin, die noch aus dem »Goldenen Zeitalter« stammt und gegenwärtig vitalisiert wird. Für »die seltsamen Rufe nach einer diffusen ›Zivilgesellschaft‹, nach ›Gemeinschaft‹ – und das in einer Zeit, in der solche Worte ihre traditionelle Bedeutung bereits verloren hatten und zu leeren Phrasen geworden waren«, bringt er bereits auf den ersten Seiten gerade mal nachsichtigen Spott auf. Da und dort mag er von den Bornierungen des »Goldenen Zeitalters« nicht frei sein, etwa in seiner Verwunderung über die »tiefsitzende Abneigung der Umweltschützer gegen jegliche Art von Kernkraftenergie«. Seine spröde und wieder leicht spöttische Haltung gegenüber den Intellektuellen von 1968 beruhte dagegen wohl von Anfang an auf Hellsicht.  
Marxisten werden an Hobsbawm zwar ihre intellektuelle und ästhetische, auch moralische Freude haben, politisch aber gehen sie leer aus: Die sozialliberale Variante des herrschenden Bewußtseins erscheint nach links hin als alternativlos.  
Der banale Titel des letzten Kapitels: »Ein Jahrtausend geht zur Neige«, gibt zutreffend wieder, daß hier – trotz aller Beschwörungen der Notwendigkeit einer Änderung – abgeschlossen wird, ohne daß irgendwo ein Neuanfang zu sehen ist. Das Buch endet mit dem Wort »Finsternis« (als Gegenmetapher zu dem, was der Verfasser hofft, »einer umgewandelten Gesellschaft«), und man stellt sich vor, daß der junge Eric Hobsbawm, welcher bereit war, im Kampf gegen den Faschismus zu fallen, gewiß niemals die Summe des Jahrhunderts hat schreiben wollen.  

 

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