15.10.2012 14:53
Dietrich Kuhlbrodt, der sich als Oberstaatsanwalt und Autor über lange Jahre mit der Verfolgung von Naziverbrechen befaßt hat, feiert heute seinen 80. Geburtstag. Die Redaktion gratuliert herzlich und dokumentiert aus diesem Anlaß einen Beitrag aus KONKRET 05/2005. Darin zeigt Dietrich Kuhlbrodt, wie Nazis in der BRD zwar nicht aus führenden Positionen in Politik und Wirtschaft entfernt wurden, dafür aber aus ausländischen Filmen.
»Eine Zensur findet nicht statt«
Hamburg. S-Bahn. Kiebig dieses Kid. Es saß zwei Reihen weiter zwischen Kumpeln und rief mir was zu: »Was haben Sie denn da auf dem Kopf?« Schön, es war nicht von H & M. »Mütze«, rief ich zurück. »M.Ü.T.Z.E.! Kriegt ihr noch in der Schule!« Ich nahm die Bedeckung runter, er entdeckte meine Glatze, und dann kam prompt: »Nazilook ist out!« Inzwischen guckte der halbe Wagen auf die Szene. Ich schämte mich: falscher Dresscode, falsches Styling! Da hatte ein Zwölfjähriger bewältigt, was die Vergangenheitsbewältiger gepredigt hatten. Ob er den »Untergang« gesehen hat? Die FSK hat ihn ja für Zwölfjährige freigegeben. Danach dürfte allerdings der Führerlook wieder in sein, aber das wäre für ihn kein Problem, weil die Codes sowieso alle ein, zwei Jahre wechseln, und er hätte weiter nichts zu tun, als sich zu informieren. Man will ja dazugehören. Prinz William, ein paar Jahre älter, wußte auch nicht, warum das ein Problem sein soll, mit der Hakenkreuzbinde rumzujuxen.
Als ich zehn war, hieß es nicht Dresscode, sondern Uniform (ich war Pimpf) oder Tracht (meine Mutter im Dirndl, Arbeiterviertel Hamburg-Basch), und aus dem Volksempfänger oben an der Wand sprach ER. Ergriffen lauschte die Volksgemeinschaft.
Wie wär’s gewesen, hätten wir 1940 Chaplins »Großen Diktator« gesehen oder 1942 Lubitschs »Sein oder Nichtsein«? Hätten wir den Code wechseln können? Natürlich nicht. Erstens wußten wir von den Filmen nichts. Zweitens war »Hitler« mehr als ein Code, nämlich Markenzeichen, Kulmination und Superkonsens jahrhundertelangen deutsch-völkischen Wahns. »Hitler« war das Zeichen für alles Gutewahreschöne, das nach Erlösung strebte (vom Judentum). Unter dem Zeichen »Hitler« erkannte man einander wieder, und meine Mutter erzählte mit leuchtenden Augen, wie die alten und neuen Deutschen in der Ostmark beim Abschied nicht Servus sagten, sondern sangen: »Sag beim Abschied / leis Heil Hitler!«
Der Eichinger hat das nicht wissen wollen, daß »Hitler« ein Markenname war für die, die kurz vorher noch die Völkischen hießen, d. h. für ziemlich alle. Aber nach 1945 haben das noch die gewußt, die ins Kino gingen, also alle, und das gut zwanzig Jahre lang. Das ging so: Sagt der Film was gegen Nazis, dann sagt er was gegen Deutsche. Also gegen uns und mich. Das laß ich mir nicht bieten. Das muß weg. – Und so geschah es. Die Marke »Hitler« wurde von der neuen alten Volksgemeinschaft geschützt.
Der Fall »Notorious« (Hitchcock)
Gedreht 1946. USA. Ingrid Bergmans Vater, der in den Staaten für Nazideutschland spionierte, sitzt im Knast. Die Tochter spioniert jetzt, Cary Grant zuliebe, in Rio de Janeiro für die Amerikaner. Zielpersonen: die Nazikameraden ihres Vaters, ein Geheimbund der Oberschicht. Im Keller entdeckt sie, in Weinflaschen versteckt, eine körnige Masse: Uran!
In der deutschen Verleihfassung von 1951 waren aus den Nazis internationale Drogenbosse geworden und aus dem uranangereicherten Stoff Rauschgift. Der deutsche Titel für »Notorious« hieß konsequenterweise »Weißes Gift«. In der gefälschten Fassung blieb der Film fast 30 Jahre lang in den BRD-Kinos. Das ZDF sendete ihn 1969 erstmals werkgetreu synchronisiert. Unter dem Titel »Berüchtigt«.
1950 hatte Herr Podehl, Vorsitzender der FSK, der RKO Radio Film Gesellschaft im Wege der Vorprüfung die Freigabe des Films avisiert, jedoch »nicht am Karfreitag, Buß- und Bettag und Allerseelen oder Totensonntag. Es wird jedoch gebeten, bei der Bearbeitung der deutschen Dialoge diejenigen Stellen, die demoralisierend wirken können, soweit als möglich abzuschwächen.«
Man wird sich fragen, was denn nun noch demoralisieren sollte, nachdem das Dubbing Department des Verleihs bereits aus den Nazis, die hinter der Luxusfassade wirkten, Drogenbarone gemacht hatte. Es war jetzt eben diese Luxusfassade, die störte. Die FSK: »Unter demoralisierend werden diejenigen Sätze verstanden, in denen das verbrecherische Milieu und die aus ihm resultierenden Anschauungen als mehr oder weniger selbstverständlich unterstellt und gezeigt werden, so daß bei dem Luxus, in dem diese Kreise sich bewegen, und der Tatsache, daß ihr Untergang am Schluß vom Bild her nur angedeutet wird, eine negative Wirkung zu erwarten ist. Sie wollen deshalb bitte die endgültige Dialogliste vor Inangriffnahme noch einmal zur Einsichtnahme herreichen«.
Herr Noack vom Verleih bat Herrn Podehl von der FSK umgehend, »anhand eines Beispiels von ein bis zwei Sätzen aus der Rohübersetzung des Films noch etwas präziser anzugeben, worauf es Ihnen dabei ankommt. Im übrigen freue ich mich, daß wir wenigstens auf diese Weise nach Jahrzehnten wieder einmal zusammenkommen.« Zwei Herren kommen zusammen, und wir können nicht sagen, wo die Verstümmelung herkommt: Verleihstrategie? Zensurpolitik? Ehemaligenkonspiration? Konsens?
Der Fall »Casablanca« (Curtiz)
Gedreht 1942. Ein Gegenwartsfilm. Flüchtlinge, Abenteurer, Agenten und Vichy-Polizisten treffen in Ricks Bar im französischen Casablanca aufeinander. In der Welt von Intrigen und politischen Repressionen spielt ein Melodram: zwischen Ingrid Bergman und Humphrey Bogart, dem zynischen Barbesitzer. Doch Bogart folgt nicht seiner Neigung, sondern der Pflicht und rettet den Ehemann der Ex, den ungarischen Widerstandskämpfer, vor den Nazischergen.
Als der 102-Minuten-Film 1952 in die BRD-Kinos kam, war er um zwanzig Minuten gekürzt und im übrigen umsynchronisiert. Alle Hinweise auf Nationalsozialismus und Vichy-Regime waren getilgt, die politischen Konflikte zu einer Agentengeschichte vereinfacht und der Widerstandskämpfer in einen norwegischen Atomphysiker verwandelt. Der nazideutsche Major Strasser, gespielt von Conrad Veidt, mußte draußenbleiben. Er kam im Film nicht mehr vor.
Wer genau war für die Verstümmelung verantwortlich? Der Verleih. Das geht aus einem Schreiben der United Artists von 1980 hervor: »Hiermit stellen wir den Antrag, dem Film ›Casablanca‹ in seiner Originallänge und in einer vom Fernsehen neu hergestellten Synchronfassung die Freigabe zu erteilen. Die ursprüngliche Länge des Films wurde vor Jahren aus damals gegebenen verleihtechnischen Gründen um 20 Minuten gekürzt. Da es sich nach heutiger Sicht um einen ›Klassiker‹ in der Filmgeschichte handelt, ist es dem an dieser Produktion interessierten Publikum nicht mehr zuzumuten, eine – nach derzeitiger Beurteilung des Films – verstümmelte Fassung anzubieten.«
Das war eine Generation nach der Verstümmelung. Und wie war die Lage 1952 nach damaliger Beurteilung? Hierfür haben wir das Protokoll der Prüfungssitzung der FSK vom 24. Juni 1952. Wieder setzte sie eins drauf. Ihr gefiel, wohlgemerkt: in der verstümmelten Fassung, das »Barmilieu« nicht und »die geringe Qualität des Filmes« überhaupt. Gez. Dr. Krüger (sieben Jahre zuvor noch Korvettenkapitän der Kriegsmarine).
Der Fall »Berlin Express« (Tourneur)
Produziert wurde der US-amerikanische Film 1947 wieder von RKO. Er spielt 1946 im Besatzungszug nach Berlin und in der amerikanischen Zone (Frankfurt am Main). Ein prominenter Deutscher, der deutlich Thomas Mann nachgestaltet ist, wird wegen seiner Zusammenarbeit mit den Alliierten von einer Nazibande entführt. Der Verleih machte aus der Thomas-Mann-Figur einen Kunsthändler und aus den Nazis eine internationale Kunstschieberbande, die sich vom Kunsthändler entdeckt fühlt.
Protokoll der Prüfungssitzung der FSK vom 19. März 1954. Spielfilm: »Berlin Express«. Spielleitung: Jacques Tourneur. »In der internen Beratung wurde über folgenden Dialog diskutiert: Als die Leiche des im Zug erschossenen ›Perrot-Holzmann‹ herausgetragen wird, fragt der Fahrer: ›Perrot? Ein Franzose?‹, worauf der Hauptmann (Engländer oder Amerikaner) antwortet: ›Nein, er heißt Holzmann! Original-Erzeugnis: Made in Germany!‹ ... Die Mehrheit des Ausschusses erblickte in den Worten ›Original-Erzeugnis: Made in Germany‹ eine Diffamierung der Deutschen, weil der Satz indirekt verallgemeinernd klinge, während einige Mitglieder ihn in dem Klima des Films für tragbar hielten. Der Ausschuß sprach sich mit 5:3 Stimmen für eine Schnittauflage aus.« Gez. Dr. Krüger.
In einem Zusatzprotokoll vom selben Tag vermerkt der Korvettenkapitän a. D.: »Ernste Bedenken wurden gegen die Szenen der Bekämpfung und Vernichtung der Verbrecherbande erhoben« (i. e. die Bekämpfung und Vernichtung der Nazis). »Wenn eine durchgreifende Änderung dieser Szenen möglich ist, bestehen gegen eine Freigabe als ›jugendgeeignet‹ keine Bedenken.«
Der Fall »African Queen« (Huston)
Der Film von 1951 ist inzwischen ein Klassiker. 1914, bei Kriegsausbruch, fliehen Katharine Hepburn und Humphrey Bogart auf einem schäbigen Flußdampfer, der »African Queen«, aus Deutsch-Ostafrika, verfolgt von deutschen Kanonenbooten. 1958 kam der Film in der BRD ins Kino. Der Verleih hatte ihn um – in der damaligen Diktion – »antideutsche« Einstellungen gekürzt (sie wurden 1967 von WDR 3 wieder eingefügt).
Warum war die originale »African Queen« antideutsch? Allensbach gibt die Antwort. Auf die Frage »Woran liegt es, daß die Deutschen in der Welt unbeliebt sind?« waren Mitte der fünfziger Jahre 20 Prozent der Deutschen der Meinung, das negative Image beruhe auf dem Neid der Ausländer. Auf die Frage, ob »wir tüchtiger und begabter sind als die anderen Völker«, antworteten im gleichen Zeitraum gar 58 Prozent der Deutschen mit Ja.
Die westdeutsche Filmkritik war gleicher Ansicht. 1952 schrieb die »FAZ« unter der Überschrift »Billige Effekte« über »African Queen«: »Deutsche Kolonialsoldaten und die Offiziere der Marine werden als Brandstifter und Henker dargestellt, und aus dem Munde der beiden großartig spielenden Helden fließen deutschfeindliche Reden ... Es dürfte wohl fehl am Platze sein, einen solchen Film, auch in geschnittener oder gewandelter Form, in Deutschland zu zeigen.«
Das »Heidelberger Tageblatt« monierte »einen vollkommen fehl am Platze eingesetzten Deutschenhaß, der den Wert dieses Films auf ein Minimum (mindert)«. Und die Arbeitsgemeinschaft deutscher Filmjournalisten protestierte bei der Festivalleitung in Locarno gegen die »Deutschfeindlichkeit« des Films.
Der Fall »Die Eingeschlossenen« (de Sica)
Fünf Jahre später. 1963. Die FSK verfügt einen Schnitt. »Es ist nicht tragbar, Namen wie Krupp, Flick und Mercedes-Benz, die heute in der ganzen Welt durch eindrucksvolle Leistungen auch in den unterentwickelten Ländern hochangesehen sind und einen guten Klang haben, in die fatale Assoziation zu den unmenschlichen und verbrecherischen Geschehnissen der Nazizeit zu bringen.«
Der Fall »Alexander Newski« (Eisenstein)
1938 in der UdSSR gedreht von Sergej M. Eisenstein. – 13. Jahrhundert. Deutsche Ordensritter fallen in Rußland ein und wüten grausam. Alexander Newski wirft sich ihnen mit seinem Heer entgegen und verteidigt sein Land mit Erfolg. Er wird Nationalheld.
1963. Eine Kopie von Eisensteins Klassiker wird dem Interministeriellen Ausschuß zur Zensur vorgelegt (übrigens: »Eine Zensur findet nicht statt« steht bei den Grundrechten im Grundgesetz). Dieser Ausschuß war 1954 vom Bundesamt für Verfassungsschutz eingerichtet worden, um Filmimporte zu überwachen, und zwar ausschließlich von Kopien, die aus dem Osten kamen. Dem Ausschuß gehörten Vertreter der Bonner Ministerien an. Er firmierte seit 1961 unter der Tarnbezeichung Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft, Frankfurt am Main. Seine Zensurentscheidungen waren nicht öffentlich, sie wurden nicht begründet, sie wurden in den ersten Jahren seiner Tätigkeit nicht einmal bekannt.
1963 also verbot der Ausschuß die Vorführung von »Alexander Neswki« im normalen Kinoprogramm. Für geschlossene Veranstaltungen, etwa für Mitglieder eines Filmclubs, wurde eine Fassung freigegeben, die um ein Drittel, nämlich von 120 auf 80 Minuten gekürzt war. Wegzensiert war damit das erste, als »deutschfeindlich« interpretierte Kapitel, d. h. der brutale Überfall der Ordensritter auf Rußland. Nicht mehr zu sehen war, wie die deutschen Krieger Kinder ins Feuer werfen, allerdings nicht ohne sie vorher gesegnet zu haben.
Die vom Interministeriellen Ausschuß freigegebene deutsche Fassung verkehrte die Aussage des Films ins Gegenteil. Jetzt beginnt er mit dem Überfall von russischem Bauernpack auf nichtsahnende deutsche Ordensritter. Die Russen sind die Aggressoren, die grundlos gegen deutsche Ritter ins Feld ziehen.
Die Zeitschrift »Filmkritik« empörte sich schon 1963 über die »Zensur aus dem Hinterhalt«. Ich machte drei Jahre später beim SFB einen Mehrteiler über Filmzensur. Ein Ausschußmitglied, der das Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten vertrat, erklärte mir, er habe darauf zu achten, daß der Zustand von Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in Filmen aus der Sowjetunion nicht »idealisiert« werde. Leider fehlte das Interview dann in der gesendeten Fassung, nachdem zuvor der Staatssekretär des Bundesinnenministeriums eigens nach Berlin gefahren war, um die Sendung gerade noch rechtzeitig und ohne mein Wissen zu zensieren.
Drei Jahre später zeitigte die öffentliche Kampagne gegen den nichtöffentlichen Ausschuß einen ersten Erfolg. Der Interministerielle Ausschuß teilte der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft 1966 mit, daß gegen »Alexander Newski« keine Bedenken (mehr) bestünden. Da der Ausschuß öffentlich ja nicht in Erscheinung trat, firmierte er wieder als Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft. »Es ist festgestellt worden (von wem?; D. K.), daß gegen den Inhalt des sowjetischen Spielfilmes ›Alexander Newski‹ – Originalfassung – Bedenken nach § 5 Abs. 1 des Gesetzes über die Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote vom 24. Mai 1961 nicht bestehen.«
Jetzt hatte die FSK grünes Licht. In der Entscheidung vom 1. April 1966 heißt es: »Der Ausschuß hat zunächst über die Grundhaltung des Films diskutiert, die als nationalistisch und kriegsverherrlichend bezeichnet werden muß. Für den Erwachsenen und reiferen Jugendlichen können diese Tendenzen abgefangen werden, weil der Film sie wenig überzeugend und wenig ansprechend bietet. Für Kinder und Jugendliche stellen diese Gegebenheiten (jedoch) eine Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Tüchtigkeit dar. Sie verzeichnen die historischen Gegebenheiten. Zudem wirken die Nahkämpfe und die Verbrennungen von Menschen, vor allem der kleinen Kinder, übererregend.«
Die Heimlichtuerei des Interministeriellen Ausschusses hatte eine Blöße für Attacken geboten. Doch er hätte das Licht der Öffentlichkeit gar nicht zu scheuen brauchen. Es war ja allgemeiner Konsens, daß antideutsche Machenschaften – sie kamen ausschließlich aus dem Ausland – »bei uns« nicht zu suchen hätten.
Ja, waren wir jetzt auch Antideutsche – in der »Filmkritik«, bei »Panorama« oder als Staatsanwälte in der Zentralen Stelle Ludwigsburg zur Verfolgung von Naziverbrechen? Im selben April 1966, als die Entscheidung zu »Alexander Newski« erging, einen Tag nach Führers Geburtstag, wurde in Ludwigsburg der SS-General Sepp Dietrich zu Grabe getragen, der Mitbegründer der Schutzstaffel (SS) der NSDAP, Führer der Leibstandarte Adolf Hitler, zum Ende Führer der sechsten SS-Panzer-Armee. Wir Dezernenten der Zentralstelle, untergebracht im Frauengefängnis der Stadt, standen ebenerdig hinter Gittern. Vor uns auf der Schorndorfer Landstraße die Honoratioren der Stadt, die sich einer SPD-Mehrheit erfreute. Auf einem samtenen Kissen wurden des SS-Generals Orden und Ehrenzeichen vorangetragen. Ein sehr langer Zug folgte, und dann kamen Drohrufe aus der Menge. Sie galten uns, den falschen Deutschen, dem Schandfleck für die Stadt des blühenden Barock. Wir mußten uns bewaffnen, und der Oberbürgermeister sprach vom Schandfleck auch in der »Panorama«-Sendung, die uns immerhin erlaubte, unsere volksfeindliche Tätigkeit fernsehöffentlich zu verteidigen.
Sepp Dietrich war damals so alt wie ich heute, und ich nehme gern die Gelegenheit wahr, an die Zeit zu erinnern, wo wir törichterweise meinten, mit der Aufarbeitung der Naziverbrechen etwas verändern zu können. In Deutschland.
Ja, in der Tat, 2005, in der S-Bahn, war das nicht das Ergebnis grandioser Bemühungen einer ganzen Pädagogengeneration, erfolgreich beim kecken Kid? Wenn heute Nazilook out, aber Hitlerlook in ist (oder Napolajungmannenglamour oder was noch kommt), dann ist die Bewältigung im Design angekommen.
Währenddessen erscheint, von den Zeitläuften unbehelligt, die 2449. Ausgabe des »Landser«. Wir erfahren, daß ein Ritterkreuzträger von 1942 im Jahr 1998 starb und daß für das Himmelfahrtskommando im karelischen Urwald sich der Krieg nach eigenen Gesetzen vollzog.
Unser Ritterkreuz-Landser war noch nicht gen Himmel gefahren, da produzierte die Rockband Landser den von ihr so genannten »Soundtrack zur arischen Revolution«. Die selbsternannten »Terroristen mit E-Gitarre« werden Kult der rechtsextremen Szene, gerade weil der Kult sich nach eigenen Gesetzen vollzieht. Im Untergrund. Seit 1992, 50 Jahre nach dem Ritterkreuzschlag. »Kanaken, Zecken, all der Dreck, der kommt schon bald für immer weg.« – »Das Recht zu wählen haben Nigger auch, Strick um den Hals oder Kugel im Bauch.« Die Neolandser sind eine kriminelle Vereinigung, befand der Bundesgerichtshof Mitte März dieses Jahres. Die »Taz« evaluiert: »Das BGH-Label ›kriminell‹ dürfte den Marktwert der Songs in der Szene nur steigern: je verbotener, desto härter, desto geiler. Landser hat jetzt quasi das höchstrichterliche Qualitätssiegel.«
Die Kontinuität der altneuen Landser ist die Realität, kein Hitler ist irgendwo untergegangen, und das Markenzeichen »Hitler« steht unangefochten, ja neu erstarkt und gekräftigt für das Originalerzeugnis: Made in Germany – endlich positiv besetzt, und im April ist es nun soweit. In unsere Kinos kommt eine Kompilation aus dem Jahr 2003: »Ewige Schönheit. Film und Todessehnsucht im Dritten Reich« (Rezension, siehe FilmTheater). Regisseur Marcel Schwierin fragt nach der positiven Motivation Hitlers. »Wo wollte dieser Mann eigentlich hin, wovon träumte er? Ich wollte wissen, wenn ich den Holocaust ausblende, wenn ich die Verbrechen ausblende, wieweit könnte ich dieser Faszination erliegen?«
Schwierin jr. erlag. Sein Film kommt rechtzeitig als Geburtstagsgeschenk zum 20. April 2005, vorgestellt im Flyer des Hamburger Metropolis-Kinos mit dem Satz: »Arische Helden waren tote Helden, ihre Größe lag nicht in ihrem Sieg, sondern in ihrem Opfer.« Trauern wir also um die Nazis, die Opfer.
An Führers Geburtstag können wir uns auch die Delikatesse »Das Goebbels-Experiment« ansehen, gleichfalls eine Bilderkompilation, besorgt 2005 von »Spiegel-TV« für das ZDF, begleitet von Exzerpten aus den Tagebüchern. Der Verleih vertreibt ihn unter dem Label »Delicatessen: Kino Kultur digital«. Vorgestellt wird der Film mit einem Satz, den man so oder ähnlich bereits oft las: Goebbels, »der Täter, war sein eigenes und erstes Opfer«. Wir haben es mit jemandem zu tun, der manisch-depressiv erkrankte. Zum Trauern haben wir reichlich Gelegenheit, wenn zum Schluß die Kamera exzessiv den den Flammen geopferten Goebbels samt kinderreicher Familie umkreist. Wir haben es gelernt: Die Größe der Nazihelden liegt in ihrem Opfer. Andere Opfer sieht man nicht, abgesehen von deutschen Bombenopfern. Die Regisseure Lutz Hachmeister und Michael Kloft zielen auf ein »aufgeklärtes Publikum, das mehr versteht, als es die meisten professionellen Kommunikatoren wahrhaben wollen«. Okay, das. Genug der Betütelung. Genug des ostentativ Didaktischen. Aber dann bitte so konsequent wie Kamakars »Himmler-Projekt«. »Das Goebbels-Experiment« geht jedoch einen Kompromiß mit der Knopp-Ästhetik ein. Die untermalende Easy-Listening-Musik, die die illustrierende Bilderfolge begleitet, ist dafür ein trauriges Beispiel. »1936: Max Schmeling schlägt den Neger k. o.!« Yeah, sorry. Heil! Heil! Heil!
Dietrich Kuhlbrodt arbeitete in Hamburg als Oberstaatsanwalt mit dem Spezialgebiet der Verfolgung von Naziverbrechen. Seine Erinnerungen sind nachzulesen im »Kuhlbrodtbuch« (Verbrecher Verlag)
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