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Unreine Musik

29.10.2012 14:19

Am 27. 10. 2012 ist der Komponist Hans Werner Henze gestorben.  Die Redaktion weist aus diesem traurigen Anlaß auf eine Würdigung seines Werkes hin, die in KONKRET 6/1996 anläßlich des 70. Geburtstags von Hans Werner Henze erschien.

Die Aufgabe des Komponisten, schrieb Hans Werner Henze 1973, nachdem er ein Jahr zuvor schon mit einem Wahlaufruf für die DKP das deutsche Feuilleton beunruhigt hatte, bestehe darin, »engen Kontakt mit der Arbeiterklasse zu suchen, demütig, aufmerksam, lernend«. Was seine eigene Musik anbelangt, verzichtete Henze stets darauf, von der Arbeiterklasse zu lernen, im Gegensatz etwa zu Eissler, dessen Kompositionen oft den Nachteil haben, daß sie das Proletariat politisch aufklären wollen, indem sie ihm musikalisch entgegenkommen. Henze machte es genau umgekehrt: 1968 schrieb er das hochkomplexe Oratorium »Das Floß der Medusa« und erklärte, daß es als »Requiem für den Comandante Ernesto Guevara zu betrachten« sei. Da mußten sich die Freunde der Revolution, die bislang nur Pink Floyd und die Rolling Stones gehört hatten, nun plötzlich mit Musik beschäftigen, die im Haschischrausch nicht zu konsumieren war.  
Henzes sechste Sinfonie für zwei Kammerorchester sollte sogar eine »Musik gegen die Bourgeoisie« darstellen, und sie war es nicht nur, weil der Komponist sie mit dem kubanischen Nationalorchester 1969 in Havanna uraufführte. Man hört in diesem 40minütigen Stück neben den traditionellen Orchesterinstrumenten auch ein Banjo, eine E-Gitarre, eine elektrisch verstärkte Violine sowie ein Schlagzeugarsenal, das unter anderem auch aus Stahlplatten, Ketten und hängenden Bambusrohren besteht. Henze setzt diese Geräte nicht ein, um die traditionellen Instrumente »plattzumachen«, im Gegenteil: Die Stahlplatten »harmonieren« mit den Streichern. Henze wußte schon damals, daß antibürgerlich gemeinte Effektkomposition konservativ ist, weil sie vom Bürgertum als Exotenmusik akzeptiert wird. Wie revolutionär seine sechste Sinfonie tatsächlich ist, zeigt die Bearbeitung von Liedmaterial, wie zum Beispiel die Improvisation im dritten Satz über den »Son«, ein folkloristisches Motiv aus Kuba. Henze läßt den »Traditional« in die zerbrochene Welt seiner Neuen Musik einmünden; nahezu dialektisch geht er vor, denn der kubanische »Son« geht nicht unter, sondern wird auf einem musikalisch höheren Niveau präsentiert. Im ersten Satz jener Revolutionssinfonie integriert Henze das Lied der vietnamesischen Befreiungsfront »Sterne der Nacht«, im zweiten die Freiheitshymne von Mikis Theodorakis, die dieser, nachdem er 1967 von der faschistischen Militärjunta in Griechenland verhaftet worden war, im Gefängnis komponiert hatte. Henze nimmt der Freiheitshymne das klebrige Pathos und bestärkt damit das originäre Anliegen des Stücks.  
Die Musik Henzes laboriert an den Widersprüchen der Welt, in diesem Sinne ist sie – wie er selbst einmal formulierte – »musica impura«. Musikalisch drückt sich dieses »Unreine« beispielhaft aus, wenn in seinen Werken Harmonien von Zwölftonreihen oder anderen Intermezzi »gestört« werden. Daß Henze an diesem nahezu klassischen Konzept festhält, verwundert insofern, als er in seinen musiktheoretischen Schriften oft ein radikaleres Programm fordert: »In der Kunst gilt nur die Überwindung der Norm, also die Nicht-Norm, die Entartung: mit ihr fängt Kunst überhaupt erst an zu tönen, zu leuchten, zu sein.« Es scheint, daß der Autor Henze recht erfolglos anordnet, dem Komponisten Henze auf die Finger zu schauen. Denn wenn in der Kunst nur die Überwindung der Norm gelten und die Kunst erst mit der Nicht-Norm zu leuchten beginnen würde, dann wäre Henzes Musik dunkle Nicht-Kunst. Das ist sie aber nicht. Henze schöpft aus der musikalischen Vergangenheit; seine gelungenen Liedadaptionen erinnern an die sinfonische Dichtung Gustav Mahlers, der zum Beispiel im dritten Satz der Titan-Sinfonie den Kanon »Bruder Jakob« zum Trauermarsch verfremdete. Henze sprengt die klassischen Genres wie Ballett oder Oper nicht, er entwickelt sie weiter. In einem Band zum Ballett »Undine« beschreibt Henze den Auftrag von fortschrittlicher Kunst ex negativo, was seiner Musik viel näher kommt: »Die Kunst ist immer in Gefahr und muß dauernd neu erfunden werden, um das Eindringen des Mechanischen, den unablässigen Ansturm von Monotonie und Zement abzuwehren.«  
Die Rezeption der klassischen Literatur in Henzes Musiktheater ist besonders auffällig: Kafkas Landarzt und Dostojewskis Idiot hat Henze vertont, mit Edward Bond, Gaston Salvatore und vor allem mit Ingeborg Bachmann hat er zusammengearbeitet; sie schrieb für Henze unter anderem das Libretto zu »Der junge Lord«. Doch nicht nur über die Literatur arbeitete Henze, sein Arbeitstagebuch Die englische Katze ist ein wunderbares Stück Prosa. Eine Anekdote daraus sei hier zitiert: »Auf der Reise mit einem kleinen Pop-Sänger und Autor aus Viareggio ins Gespräch gekommen. Der hatte gerade in Rom eine erste Platte mit eigenen Werken produziert. Anthony war interessiert wegen seines eigenen Liedschaffens, also es scheint so vorzugehen: Einem Pop-Musiker kommt eine Eingebung, bei der Wörter und musikalische Gedanken zusammen entstehen. Meist handelt es sich um die Liebe, eine Episode oder kleine Szene entweder aus der aufsteigenden oder der abfallenden Phase. Das schreibt man auf, oder, wenn man Noten und auch Wörter nicht schreiben kann, diktiert man sie einem, der es kann. Dann besingt man ein Tonband mit dem Produkt und begleitet sich, oder wird begleitet auf Klavier, Hammondorgel oder Gitarre oder sonstwas. Dies macht man mehrfach, bis man eine angemessene Anzahl Werke auf Kassetten hat. Dann telefoniert man mit einem berühmten Popmusik-Impresario in Florenz und schickt ihm die Kassetten. Dem gefallen sowohl die Musik wie auch der Cantautore, und er macht einen Vertrag mit ihm, ein Aufnahmetermin wird verabredet.« So schön hat nicht einmal Adorno die Kulturindustrie beschrieben.  
Für die Berliner Festwochen 1997 ist die Uraufführung der neunten Sinfonie von Henze geplant. Es soll ein gewaltiges Opus für gemischten Chor und Orchester werden, und zwar über Anna Seghers’ Novelle Das siebte Kreuz. Daß Beethoven in seiner Neunten Schillers Ode »An die Freude« erklingen läßt, mag Zufall sein, vielleicht aber neigen Komponisten im Alter generell zu Monumentalwerken mit Gesangseinlagen. Am 1. Juli diesen Jahres feiert Hans Werner Henze seinen 70. Geburtstag; allein deshalb schon sei ihm der Spaß gegönnt.  
 
Von Carsten Otte

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