05.08.2013 11:50
Jetzt ist es raus: Auch in Westdeutschland wurde systematisch gedopt. Wen es wundert, daß Anabolika, Epo und Testosteron des Leistungssportlers täglich Brot sind, der sollte vielleicht öfter mal ein die Hirntätigkeit stimulierendes Präparat einwerfen; oder aber konkret lesen. In der Sportausgabe der konkret von 1982 erzählt Manfred Blödorn eine kleine Geschichte des Dopings. Weder heute noch gestern haben sich Spitzensportler nur auf ihre Muskeln verlassen. Sie helfen vor jedem Wettkampf kräftig nach mit allem, was die Pharmaindustrie und die Phantasie ihrer Trainer und Ärzte hergibt.
»Doping ist der Versuch einer unphysiologischen Steigerung der Leistungsfähigkeit des Sportlers durch Anwendung einer Doping-Substanz durch den Sportler oder eine Hilfsperson vor einem Wettkampf oder während eines Wettkampfes und für die anabolen Hormone auch im Training.«
(Der Deutsche Sportbund)
Schon die griechischen Athleten der Antike manipulierten ihre Kraft durch Drogen, Kräuterextrakte und den Genuß von Stierhoden. Besonders beliebt war das berauschende Gift des Fliegenpilzes, dem später auch die Wikinger bei ihren Beutezügen durch Europa vertrauten. Zu allen Zeiten griffen die Menschen in Extremsituationen zu Rauschmitteln und Psychopharmaka - nicht nur im Sport.
Künstler, Schriftsteller, Politiker und Militärs hatten und haben immer eine Wunderdroge zur Hand, wenn ihre eigenen Kräfte nicht auszureichen scheinen. Die Regale der Apotheken stehen voll davon. Jeder kann sich heute bedienen. Die öffentliche Legalisierung der künstlichen Leistungssteigerung durch die hochwirksamen Präparate der Pharma-Industrie hat bereits stattgefunden. Nur im Sport ist Doping verboten.
Der Kampf gegen das Doping im Sport begann in den 50er Jahren. Als die sowjetischen Staatsamateure 1952 in Helsinki zum ersten Mal olympisches Terrain betraten, erfaßte der Kalte Krieg zwischen den Supermächten auch die Sportler. Rekorde und Medaillen galten und gelten als Überlegenheitsbeweis des jeweiligen Gesellschaftssystems. Naiv muten heute die Versuche der Athleten und ihrer Funktionäre an, sich für den Sieg zu dopen: Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft versuchte es 1954 beim Weltturnier in der Schweiz mit Traubenzucker-Injektionen. Sie wurden überraschend Weltmeister, ließen sich in der Heimat als Helden einer wiedererstarkten Nation feiern und erkrankten bald darauf an Gelbsucht. Wie sich herausstellte, war die Injektionsnadel während der Halbzeitpause des Endspiels gegen Ungarn unsauber gewesen. Unvorstellbar, wenn dem Arzt dieses Mißgeschick gleich während der ersten Weltmeisterschaftsbegegnung passiert wäre.
1960 brach der dänische Straßenradfahrer Knut Enemark Jensen bei den Olympischen Spielen in Rom nach Dopingmißbrauch tot zusammen. Sieben Jahre später erlebten Millionen von Fernsehzuschauern, wie der Brite Tom Simpson bei der Tour de France aus dem Sattel kippte und auf dem Transport ins Krankenhaus starb. Er hatte sich ebenso aufgeputscht wie 1968 der deutsche Berufsboxer Jupp Elze in Köln. Elze sackte zu Beginn der 15. und letzten Runde des Europameisterschaftskampfes gegen den Italiener Carlos Duran zusammen, verlor das Bewußtsein und wachte nie wieder auf.
Erst seit 1966 wurden für einige Sportarten bei internationalen Veranstaltungen Dopingkontrollen durchgeführt, seit 1968 auch bei Olympischen Spielen. Die den Körper aufputschenden oder Schmerzen unterdrückenden Präparate verschwanden aus Angst, erwischt und bestraft zu werden, langsam von den Geheimlisten der Spitzensportler. Nur im Radsport, bei den sogenannten Rittern der Landstraße, werden sie weiter gehandelt. Im Begleitfahrzeug von Tom Simpson fand man seinerzeit genug Dopingmittel, um alle an der Tour de France beteiligten Fahrer zu vergiften.
Um die Kontrolleure zu täuschen, greifen die Athleten zu Tricks und betätigen sich als Erfinder. Da wird fremder Urin zur Probe abgegeben, oft gar in Plastikschläuchen mitgeführt und über einen Schlauch - als wäre es das eigene Glied - in Reagenzgläser abgelassen. Und, wo auch dies nicht hilft, erfolgt das Füllen der vorher geleerten und gespülten Blase mit fremdem Urin. Dietrich Thurau aus Frankfurt widerfuhr solches im Sommer 1980. Als die erste Dopingprobe nach den deutschen Weltmeisterschaften positiv ausfiel, wurde ein Gegentest anberaumt. Diesmal konnten die Dopinganalytiker keine verbotenen Substanzen feststellen, dafür aber starke Nikotinreste. Thurau ist Nichtraucher.
»Nach meinen Erfahrungen ist einem Sportler fast jedes Mittel recht, das seine Leistungen steigert und ihn nicht gerade umbringt«, sagte der Amerikaner Harold Conolly, der Olympiasieger im Hammerwerfen von 1956. Mit Conolly stieg die internationale Dopingszene in eine neue Runde des Manipulations-Karussells ein. Statt zu Weckaminen, Ephedrinen, Narkotika und Strychninderivaten griffen die Athleten nun zu anabolen Steroiden, künstlich hergestellten Abkömmlingen des männlichen Sexualhormons Testosteron. Sie fördern bei Männern - und mehr noch bei Frauen - das Muskelwachstum und damit Kraft und Leistung.
Die Anabolika fanden reißenden Absatz. In Umkleidekabinen und Stadiongängen blühte der Schwarzmarkt. Amerikaner und Skandinavier trieben ihren schwungvollen Handel vor allem mit Ostblockathleten, bis auch deren Chemiker hinter das Pharmageheimnis gekommen waren.
Die Heidelberger Diskuswerferin Brigitte Behrendonk schrieb 1970: »Nach meiner Meinung treffen sich bei großen Wettkämpfen bald mehr Pillenschlucker als Nichtschlucker.« »Zum Diskus- und Kugelfinale werden sie in die Arena stampfen wie Rückkreuzungen vorzeitlicher Fabelwesen: zwei Meter 30 hohe und über drei Zentner schwere Horrorkolosse aus dem Labor des Baron Frankenstein.«
Trotz großer gesundheitlicher Gefahren - Leberschäden, Rückgang der körpereigenen Hormonproduktion bis hin zur Impotenz sowie Veränderungen der sekundären Geschlechtsmerkmale einschließlich Bartwuchs und tiefer Stimme bei Frauen - wurde die Muskelpille bis 1976 nicht verboten. In den Labors der Doping-Analytiker gab es bis dahin keine Möglichkeit, die anabolen Substanzen einwandfrei nachzuweisen.
» Ich bekomme sie von einem befreundeten Apotheker, der gibt mir sogar Rabatt«, gestand der Berliner Kugelstoßer Ralph Reichenbach. Während der Olympischen Sommerspiele 1976 in Montreal antwortete ein Trainer der DDR-Frauenschwimm-Mannschaft auf die Frage, warum seine Schützlinge durchweg eine so unweiblich tiefe Stimme hätten: »Die sollen ja auch schwimmen und nicht singen.«
Zu den prominentesten Anabolika-Sünderinnen zählt die DDR-Kugelstoßerin Ilona Slupianek. Die Volkskammer-Abgeordnete wurde 1977 erwischt und für ein Jahr gesperrt. Danach gewann sie die Europameisterschaft, stieß Weltrekord und holte sich 1980 in Moskau die olympische Goldmedaille. Rund 80 Prozent aller Spitzensportler, die seit 1976 nach Einnahme von anabolen Steroiden ertappt wurden, stammen aus den sozialistischen Ländern. Vor den Moskauer Spielen begnadigte der Internationale Leichtathletik-Verband fünf von ihnen vorzeitig.
Hart griff der Deutsche Sportbund durch. 1977 verabschiedete er in Baden-Baden seine »Rahmenrichtlinien zur Bekämpfung des Dopings«. Diesem Beschluß vorangegangen war die bislang größte moralische Säuberungsaktion des deutschen Sports. Bis zu 90 Prozent aller Spitzenleichtathleten sollen Anabolika genommen haben, behauptete der Sprinter Manfred Ommer und beschuldigte sich selbst - obwohl der Verband die Pillen schon 1971 auf den Index gesetzt hatte. Auch der Hammerwerfer Uwe Beyer, der Europameister von 1974, und Ex-Weltrekordhalter Walter Schmidt klagten sich und die Funktionäre an. Im Herbst 1977 beschäftigte sich ein Ausschuß des Bundestages mit dem Doping-Sumpf des weitgehend mit Steuergeldern finanzierten Spitzensports. Dennoch wurden weitere Fälle bekannt. Zuletzt im Sommer 1980, als zwei junge Schwimmerinnen - 13 und 14 Jahre alt - in die Falle der Kontrolleure tappten.
Die angedrohten Strafen sind hart, vor allem für die ebenfalls vom Staat bezahlten Bundestrainer. Sie würden ihren Job verlieren. Aber kontrolliert wird nur mangelhaft und nicht einmal in allen Verbänden. Daß aus Saulus noch kein Paulus geworden ist, belegen zwei Tatsachen. Zum einen erklärte sich der Deutsche Sportbund erst auf massive Pressekritik bereit, die Anabolika-Tests auch in der Trainingsperiode der Athleten durchzuführen, also dann, wenn diese Mittel genommen werden. Zum anderen wurde eine solche Kontrolle bislang noch nicht vorgenommen.
Der größte, mächtigste und populärste aller Fachverbände - der Deutsche Fußballbund - führt lieber überhaupt keine Kontrollen durch. Die Bestimmungen lägen zwar schon in der Schublade, versichert DFB-Präsident Hermann Neuberger, aber sie seien noch nicht verabschiedet. Vorgelegt worden sind sie auch noch nicht. Dabei pfeifen es die Spatzen von den Dächern, daß gerade in der Fußballbundesliga eifrig gedopt wird. »Ich weiß gar nicht, was die uns alles gespritzt und gegeben haben«, sinniert ein Nationalspieler nach der Europameisterschaft 1980 in Italien. »Jetzt muß ich erst einmal Urlaub machen, um den ganzen Kram wieder auszuschwitzen.«
Frohlocken kam auch bei den olympischen Saubermännern nicht auf, als zunächst alle Doping-Proben von den Olympischen Winter- und Sommerspielen 1980 negativ ausfielen. Dabei hatten die Doping-Fachleute in Moskau alle Hände voll zu tun. 2.468 Proben galt es auf unerlaubte medizinisch-pharmakologische Hilfsmittel hin zu untersuchen. Fast jeder zweite Sportler mußte sein Wasser lassen. Es waren die Spiele der weißen Kittel.
Im Frühjahr 1981 kam die Wahrheit ans Tageslicht. Dem Kölner Biochemiker und Dopingexperten Prof. Dr. Manfred Donike war es gelungen, ein Verfahren zu entwickeln, mit dem auch bisher nicht nachzuweisende Substanzen aufgespürt werden konnten. Die Athleten waren nämlich in der Zwischenzeit schon wieder einen Schritt weiter als ihre Aufpasser. Da anabole Steroide ja auf der Verbotsliste standen, spritzten sie sich nun reine Sexualhormone in den Blutkreislauf. Deren schädliche Nebenwirkungen wurden zwar von Medizinern als noch größer bezeichnet, aber dafür waren sie kaum nachzuweisen.
Donike und seine Mitarbeiter analysierten 440 Dopingkontrollen von Lake Placid und 564 Proben aus Moskau. Unter Berücksichtigung von Toleranzwerten kamen sie zu folgendem Ergebnis: In Lake Placid waren zwischen 34 und 104 Athleten mit reinen Sexualhormonen gedopt, in Moskau zwischen 40 und 89. Der Kampf gegen den Doping-Mißbrauch im Spitzensport ist noch längst nicht gewonnen. Er hat gerade erst angefangen.
Dem Erfindungsreichtum der Sportler, ihrer Trainer und Ärzte scheinen keine Grenzen gesetzt. »Die Grenzen menschlicher Kraft«, sagt der sowjetische Gewichtheber Jurij Wlassow, »sind genau so unbekannt wie die Grenzen des menschlichen Geistes.« Und der Spitzensport hat sich seine eigene Moral gezimmert. Bei der Jagd nach Rekorden und Medaillen darf es kein Pardon geben. Was da an die Oberfläche kommt, ist nur die Spitze des Eisberges. Wie häufig und intensiv auf der unteren Ebene, bis hinunter zu den Vereinsmeisterschaften, gedopt wird, kann nur vermutet werden. Hier gibt es keine Kontrollen.
Pfiffige Tüftler bieten jährlich neue Methoden an. Sie reichen von Anti-Baby-Pillen, die in größerer Dosierung genommen die gleiche Wirkung haben wie Anabolika, über das Nebennierenhormon Cortison bis hin zu kunstvoll mit Spurenelementen angereicherten Vitaminspritzen - wie 1976 beim Hamburger Ruderer Peter-Michael Kolbe. Eigenblutrücktransfusionen - das sogenannte Blutdoping - ist der letzte Schrei.
Vorbei dürfte es allerdings mit der »Aktion Luftdusche« des Deutschen Schwimm-Verbandes sein. 1976 in Montreal ließen sich fast alle Schwimmer bis zu zwei Liter Luft rektal in den Dickdarm blasen. Sie wollten damit ein geringeres spezifisches Gewicht und eine bessere Wasserlage erreichen. Spätere Unternehmen scheiterten, weil es in der Halle keine geeigneten Räume zum unbeobachteten Aufpumpen gab.
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