15.08.2017 14:36
Am 14. August 1947 entließen die britischen Kolonialherren Indien und Pakistan in die Unabhängigkeit und einen Konflikt, der bis heute anhält. In konkret 05/02 schrieb Brigitte Voykowitsch über die Situation in Indien.
Narendra Modi zitiert Newton: Jede Aktion ruft eine entsprechende Reaktion hervor, sagt der Chefminister des indischen Bundesstaates Gujarat, wenn er gefragt wird, warum hunderte Inder bei Unruhen im Februar sterben mußten. Der Mann der hinduchauvinistischen Indischen Volkspartei (Bharatiya Janata Party, BJP) ist »vollauf zufrieden« mit dem Vorgehen seiner Sicherheitskräfte. Binnen 72 Stunden hätten sie Ruhe und Ordnung wiederhergestellt.
Es hätte schlimmer kommen können, nachdem extremistische Muslime am 27. Februar bei der Stadt Godhra in Gujarat einen Zug angegriffen und Waggons in Brand gesteckt hatten. 58 Passagiere waren in den Flammen ums Leben gekommen. Es waren Hindus, die im nordindischen Ort Ayodhya einen Tempel an jener Stelle hatten bauen wollen, wo fanatische Hindus im Dezember 1992 eine Moschee zerstört hatten. Damals waren diesem Gewaltakt wochenlange landesweite Unruhen gefolgt, bei denen mehr als 2.000 Menschen starben. Diesmal wurden mehr als 600 Inder Opfer der Gewalt, die meisten von ihnen Muslime.
Wie schon 1992/93 berichteten Augenzeugen, daß die Sicherheitskräfte viel zu spät eingegriffen und zeitweise den Ausschreitungen tatenlos zugesehen hätten. Wieder stellte sich vor allem auch die Frage nach der Verantwortung. Nach den 1992er Unruhen hatte der Oberste Gerichtshof für das Land, auf dem die Moschee stand und das der Welthindurat (Vishwa Hindu Parishad, VHP) als Geburtsort des Gottes Ram für die Hindus reklamiert, ein absolutes Bauverbot verfügt. Doch Premierminister Atal Bihari Vajpyäe, dessen BJP die größte Fraktion in der in Neu Delhi regierenden Vielparteienkoalition stellt, hatte den Bauvorbereitungen des VHP und der Kar Sevaks (Freiwilligen) für den Tempel in Ayodhya tatenlos zugesehen.
Wollte oder konnte der Premier nicht handeln? Fürchtete er, daß sich die Spannungen innerhalb der Sangh Parivar oder Hindufamilie, einer Reihe hindunationalistischer Gruppierungen, der neben seiner BJP und der VHP auch die RSS (Rashtriya Sevak Sangh, Nationale Freiwilligenorganisation) angehören, noch verschärfen würden? Konflikte hatte es immer wieder gegeben, seit die BJP, die noch 1984 nur zwei Mandate im 545 Sitze umfassenden Bundesparlament hatte, 1998 in Delhi an die Macht kam. Eine Alleinregierung zu bilden war ihr unmöglich, sie mußte Koalitionspartner finden und im Rahmen dieses Bündnisses auf wesentliche Punkte ihrer Hinduagenda verzichten. Vajpayee bezeichnete das Tempelprojekt im Jahr 2000 zwar erneut als ein vorrangiges Anliegen, im Koalitionspapier aber hatte und hat es keinen Platz – ein Verzicht, der innerhalb der Sangh Parivar mehrfach zu Debatten über den Sinn einer BJP-Regierung führte.
Indiens Muslimen lag und liegt dabei weniger an der Moschee an sich – der Bau war schon Jahrzehnte vor seiner Zerstörung kein Ort des Gebets mehr gewesen. Ihnen geht es um die Symbolik eines Angriffs, der das Grundverständnis des indischen Staates in Frage stellt. Die Tageszeitung »Times of India« sprach nach Godhra und den darauf folgenden Massakern an den Muslimen erneut von dem »nicht in den Griff zu bekommenden Konflikt zwischen zwei Visionen von Indien«. Die eine dieser Visionen will ein der Verfassung von 1950 gemäßes, säkulares und demokratisches Indien, die andere stellt den Hinduglauben über die Verfassung, das Parlament und die Gerichte.
»Hum sa ek hai« (Wir sind alle eins), erklärten Hindus und Muslime nach Godhra in einer gemeinsamen Kundgebung gegen den Kommunalismus, wie der religiöse Chauvinismus in Indien genannt wird. Nicht wenige besorgte Muslime aber fragten sich, ob Indien nicht doch auf dem Weg dazu sei, »Hindustan« (das Land der Hindus) zu werden, in dem die konfessionellen Minderheiten nur mehr zu den von der Mehrheit festgelegten Konditionen würden leben dürfen. Der Angriff auf die Moschee und die Kampagne für den Tempel sind Teil dieser Hindutva-Ideologie, die auf der mythischen Vision von einem goldenen Hinduzeitalter vor der Ankunft der Muslime und der Briten auf dem Subkontinent basiert. Mit der Unabhängigkeit 1947 wollten die Hindutav-Anhänger nicht bloß die Briten vertreiben, sondern zugleich ihre Vorherrschaft über die Muslime festschreiben. Daß der Subkontinent 1947 geteilt wurde und die Muslime ihren eigenen Staat – Pakistan – bekamen, haben Organisation wie die RSS nie akzeptiert. Ein RSS-Mitglied war es auch, das 1948 den Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi ermordete, weil er die Teilung von Indien und Pakistan nicht verhindert hatte.
Wie immer, wenn es in Indien zu Übergriffen gegen die muslimische Minderheit kommt, verfolgte die pakistanische Öffentlichkeit die Vorgänge im Nachbarland aufmerksam. Diesmal kam es hier allerdings nicht, wie 1992, zu Ausschreitungen gegen die Minderheit der Hindus. Nach dem 11. September hatten beide Staaten sich der internationalen Koalition gegen den Terrorismus angeschlossen. Islamabad mußte auf Druck der USA gegen die Taliban vorgehen, die es – gemeinsam mit Washington – aufgebaut und jahrelang gestützt hatte. Auch nachdem von Pakistan aus operierende Terroristen einen Anschlag auf das Bundesparlament von Neu Delhi verübt hatten, sorgten die USA für eine Beruhigung der Lage. Die Regierung Pakistans wurde angehalten, gegen islamistische Gruppen im eigenen Land durchzugreifen.
Warum immer nur wir? fragten pakistanische Kommentatoren. Immer werde nur Pakistan wegen seines religiösen Extremismus heftig kritisiert und zeitweise sogar von der internationalen Gemeinschaft geächtet, Indien aber bleibe ungestraft. Auch einige indische Kommentatoren wiesen darauf hin, daß Delhi von Islamabad verlange, die rabiaten Djihadis zu bändigen, zugleich aber selbst nicht willens oder in der Lage sei, die extremistischen Hindus in den Griff zu bekommen. Dies- und jenseits der Grenze mahnten zugleich gemäßigte Stimmen zur Besinnung auf die ursprüngliche Vision der beiden Staaten, die, wie es Najam Sethi, der Chefredakteur der pakistanischen Wochenzeitung »The Friday Times« ausdrückte, einander im negativen Sinn leider viel zu ähnlich geworden seien. Viel zu lange hätten bewaffnete Fundamentalisten, die Pakistan in einen islamistischen Staat verwandeln wollten, die Unterstützung des politischen wie militärischen Establishments genossen. Und in Neu Delhi sei mit der BJP sogar ein Mitglied der hinduchauvinistischen Sangh Parivar an die Macht gekommen.
»Wenn Indien und Pakistan stabil sein und gemeinsam gedeihen wollen, müssen sie einander in ihrer säkularen Ausrichtung ähnlicher werden«, forderte Sethi. Pakistans Staatsgründer Muhammad Ali Jinnah habe einen modernen, progressiven muslimischen Staat angestrebt und keinen islamistischen, erinnern andere Analytiker. Zwar sind die Extremisten in beiden Staaten in der Minderheit, doch sind sie so hervorragend organisiert, daß sie eine Gefahr für das jeweilige Staatsgefüge darstellen. Und der Streit um den Bau des Tempels in Ayodhya ist noch längst nicht zu Ende.
Brigitte Voykowitsch schrieb in konkret 2/02 über die Destabilisierung Indiens durch pakistanische Islamisten
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