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Blinde Flecken

31.08.2012 14:14

Judith Butler hat sich in der aktuellen Ausgabe der »Zeit« »tief verletzt« über den gegen sie gerichteten Vorwurf des Antisemitismus gezeigt. »Im Angesicht von Ungerechtigkeiten«, die der Staat Israel begehe, könne sie nicht mehr schweigen. Warum Butler gerne mal ein Auge zudrückt, wenn nicht-westliche Staaten Leid anrichten, erläuterte Jan Süselbeck in konkret 08/2009.
 
Ihre grundlegende These klingt banal: »Krieg läßt sich als ein Geschehen verstehen, das Bevölkerungen aufteilt in einerseits diejenigen, um die getrauert werden kann, und andererseits diejenigen, um die nicht getrauert werden kann. ›Unbetrauerbar‹ in diesem, von der Logik des Kriegs etablierten Sinn sind Leben, die nicht betrauert werden, weil ihnen zuvor ihre Existenz abgesprochen worden ist, weil sie nie als Leben zählten.«  
 
Diejenigen deutschen Leser, die bei dieser Feststellung sofort mit dem Kopf nicken, weil sie dabei an ihre »berechtigte Israelkritik« denken, dürften sich außerdem erfreut auf eine Bemerkung beziehen, die sich am Ende des Bandes in dem Gespräch der Rhetorikprofessorin Butler mit der New Yorker Philosophieprofessorin Jill Stauffer findet. Dort betont Butler als unermüdliche Kritikerin der US – Irakkriegspolitik und des Folterlagers von Guantánamo, die Weigerung des »San Francisco Chronicle«, eine von Palästinensern eingesandte Todesanzeige abzudrucken, die an einige von israelischen Soldaten erschossene beziehungsweise bei israelischen Luftangriffen umgekommene Frauen und Kinder erinnern sollte, bedeute gerade für sie »als progressive Jüdin« nichts weniger als den »Tod des Judentums«. Handle es sich doch bei dieser redaktionellen Entscheidung um eine typisch westliche Manifestierung eines expliziten öffentlichen Trauerverbots, das zutiefst »unjüdisch« sei: »Denn in meinen Augen bestand immer einer der wertvollsten Aspekte des Judentums in seinem Nachdruck auf öffentlicher Trauer sowie in der damit verbundenen Forderung, daß sich eine ganze Gemeinschaft zur Trauer versammeln muß. Es reicht aber nicht, nur die eigenen Toten zu beklagen. Wir müssen unsere Vorstellung davon erweitern, wer der Trauer würdig ist, so daß wir nicht nur auf der Grundlage bereits etablierter Identifikationen trauern.«  
 
Ob eine US-Zeitung, die die Publikation einer Anzeige ablehnte, gleich für den »Tod des Judentums« mitverantwortlich gemacht werden muß? Den planen, und zwar ganz konkret, wohl doch eher andere Mächte auf dieser Welt. Daß Butler ihre Argumentation explizit »als Jüdin« vorträgt, macht ihre Ausführungen besonders für die neue deutsche Ideologie anschlußfähig. Derzufolge ist Deutschland zu einer geläuterten Friedensmacht avanciert, die aufgrund ihrer angeblich vorbildlichen »Vergangenheitsbewältigung« gerade auch ihren ehemaligen Opfern diktieren darf, wie diese mit den neuerlichen Vernichtungsdrohungen anderer umgehen sollen. Was bei Butler in den USA zu Zeiten der Bush-Administration noch als progressiv verstanden werden konnte, bekommt so in Deutschland eine ganz neue Bedeutung.  
 
Butler kritisiert in ihren Texten die einseitige Perspektive einer Weltmacht, deren Medien auf den Anschlag vom 11. September 2001 mit bewegenden Porträts in den Türmen des World Trade Centers umgekommener US – Amerikaner reagierten, während sie über die Iraker, die im bald darauf folgenden US-Angriffskrieg von 2003 umkamen, nichts (oder kaum etwas) berichteten. Nicht einmal ihre Leichen bekam man zu sehen, da dem »embedded journalism« die Veröffentlichung solcher Bilder aus Gründen der Propaganda nicht gestattet wurde.  
 
Mit der bereits 1935 aufgestellten These der Psychoanalytikerin Melanie Klein, moralische Reaktionen seien im Grunde nichts anderes als Antworten auf Fragen der Selbsterhaltung, wirbt nun Butler für eine Kultur, die diese »Anderen« als zum eigenen Überleben notwendigen Teil des »Eigenen« zu schützen begreifen lernen soll: »Wenn ich mich bemühe, dein Leben zu erhalten, dann nicht nur, um mein eigenes zu erhalten, sondern weil, wer ›Ich‹ bin, nichts ist ohne dein Leben.«  
 
Das mag Kirchentagsbesuchern einleuchten. Doch hätten etwa die Soldaten der Roten Armee, die SS-Männer erschossen, um das Konzentrationslager Auschwitz zu befreien, um ihre Gegner wirklich »trauern« sollen? Hätten sie ihre Waffen wegwerfen, auf die Knie fallen und ausrufen müssen: »Ich bin nichts ohne dein Leben«?  
 
Aus dieser Perspektive wirken Butlers Ausführungen nachgerade grotesk. Ihre Nächstenliebe geht so weit, daß sie sogar kulturelle Formen geschlechtlicher Unterdrückung zu relativieren beginnt, die über das, was sie selbst einmal als »Zwangsheterosexualität« kritisiert hat, weit hinausgehen: »Der Verlust der Burka kann eine Erfahrung von Entfremdung und Zwangsverwestlichung mit sich bringen, die Spuren hinterlassen wird. Wir sollten keinesfalls davon ausgehen, daß Verwestlichung immer eine gute Sache ist. Sehr oft setzt sie wichtige kulturelle Praktiken außer Kraft, die kennenzulernen es uns an Geduld fehlt.«  
 
An anderer Stelle zitiert die Philosophin den Anthropologen Talal Asad, um dessen Frage aufzugreifen, warum Selbstmordattentate so viel Entsetzen auslösten, während man »angesichts von staatlich sanktionierter Gewalt nicht immer ein solches Entsetzen und eine solche moralische Abscheu« verspüre. Daß es sehr wohl rationale Gründe für eine solche Unterscheidung geben könnte, fällt bei Butler unter den Tisch. Genauso, wie sie einmal einräumt, sie sei »sicher«, daß es Fälle gebe, »in denen Interventionen wichtig sind – etwa um einen Genozid abzuwenden« (ohne diesen wichtigen Punkt dann weiter zu diskutieren), schreibt die Autorin auch im Fall ihrer konkreten Bezugnahme auf Asads Frage: »Obwohl Asad vor allem dazu anregen möchte, über Selbstmordattentate nachzudenken – was ich jetzt nicht tun werde – , ist doch deutlich, daß er etwas Wichtiges über die Politik moralischer Ansprechbarkeit mitzuteilen hat.«  
 
Es geht Butler also abermals allein darum, die »blinden Flecken« in der Kriegsperspektive des Westens sichtbar zu machen, der moralische Empörung nur über die Taten »der Anderen« zulasse. Gleichzeitig aber klammert sie die mörderische Ideologie jener Terroristen beiläufig aus ihrer Erörterung aus, die die Opferung des eigenen Lebens und selbstverständlich auch eigener Frauen und Kinder – zum Beispiel als »menschliche Schutzschilder« in Gaza und anderswo – explizit in Kauf nehmen, um die moralischen Skrupel der westlichen Gegner auszunutzen und zu verhöhnen. Butler übersieht offenbar, daß ihr Plädoyer für die aus Melanie Kleins zitiertem Diktum entwickelte Erkenntnis, die Schonung des Gegners sei vor allem auch ein Akt der Selbsterhaltung, für einen Selbstmordattentäter keinerlei Bedeutung hat. Leuchtet sie doch nur demjenigen unmittelbar ein, der sich auch wirklich »selbst erhalten« will.  
 
Das aber fehlt in Butlers Buch: die Diskussion seines Themas auch mit Blick auf das Beispiel eines Staates, der entstanden ist, um den letzten Überlebenden der Shoah eine sichere Heimstatt zu bieten – und den seine Nachbarn nach wie vor auslöschen wollen, ohne über diesen Vorsatz auch nur im Mindesten mit sich reden zu lassen. Es gibt eben Ideologien, deren Anhänger niemanden betrauern möchten – und zwar nicht einmal sich selbst. Wie, fragt man sich nach der Lektüre dieses Buchs dann doch etwas ratlos, geht man damit um? Judith Butler jedenfalls geht dieser Frage leichtfertig aus dem Weg.
 
Judith Butler: Krieg und Affekt. Herausgegeben von Judith Mohrmann, Juliane Rebentisch und Eva von Redecker. Diaphanes Verlag, Zürich 2009, 112 Seiten, 8 Euro 

 

 

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