13.06.2012 15:05
Am 12. Juni starb Margarete Mitscherlich im Alter von 94 Jahren. Mit ihren psychoanalytisch fundierten Arbeiten zur Erinnerungskultur in der Nachkriegszeit war Mitscherlich eine scharfe Kritikerin des Verhältnisses der Deutschen zur eigenen Geschichte. In KONKRET 9/87 schrieb Detlef zum Winkel über Margarete Mitscherlichs Aufsätze zur »Erinnerungsarbeit«.
Die Frankfurter Psychoanalytikerin ist beim Thema geblieben oder dahin zurückgekehrt. Sie befaßt sich mit Geburtsdaten, die als »Gnade« gepriesen werden, mit Ideologien, die staatstragend schweigen wollen, mit Rechenkünsten von Geschichtsschreibern, mit nachfolgenden Generationen, die auf ihre Unschuld pochen, mit dem Wiederholungszwang als Folge unterlassener Trauerarbeit.
Gehen wir gleich in medias res: Wir müßten heute erkennen, konstatiert sie, »daß die junge Generation, die sich unschuldig fühlt, nicht die Bearbeitung unserer Vergangenheit angetreten, sondern deren Verleugnung und Verdrängung übernommen hat.« Margarete Mitscherlich ist sich der Niederlage oder doch des Rückschritts bewußt, der darin zum Ausdruck kommt. Vor zwanzig Jahren erschien »Die Unfähigkeit zu trauern«, ihr gemeinsam mit Alexander Mitscherlich verfaßtes Standardwerk, mit einer solchen öffentlichen Wirkung, daß man auf ein Ende des manischen Vergessens und Ungeschehen-Machens hoffen konnte. Es spricht für sich, wenn sie jetzt einen Aufsatz über Resignation in eben diesem Zusammenhang publiziert.
Immer wieder taucht diese Diagnose in den verschiedenen Kapiteln des Buches auf. »Wenn ich an meine Erfahrungen mit Zeitgenossen und Patienten denke, kann ich jedoch nicht umhin festzustellen, daß das Interesse an der Vergangenheit und deren Durcharbeitung seit der 68er-Generation wieder zurückgegangen ist.« Schuldig fühlt sich niemand, betroffen nur wenige. Nur die Kinder der Opfer kümmerten sich noch intensiv um die Vergangenheit und »die Vergangenheit in der Gegenwart«, nicht die der Täter. Die Jugend habe die Verdrängung weitgehend von ihren Eltern übernommen, Abwehrhaltung und Lernunfähigkeit würden von einer Generation an die nächste weitergegeben. Zwar gebe es eine eher wachsende Entfremdung zwischen den Generationen. Das schließe aber keineswegs aus, »daß gleichzeitig eine tiefe unbewußte Identifikation mit der Elterngeneration besteht.«
Die Nachkommen der Nazis sind nicht »weiß«, sie beginnen ihr Leben nicht an einem existentiellen Nullpunkt, sondern sind auf vielfache Weise – individuell wie kollektiv – von der Vergangenheit geprägt. Je weniger man sich das eingestehe, desto stärker sei man diesen Kräften ausgeliefert.
Als Ärztin predigt sie nicht, sie analysiert. Moralisches gibt da keinen Anlaß zur Pose, die Auseinandersetzung damit gehört zum Job, beispielsweise wenn Ordnung und Sauberkeit und Gehorsam zu moralischen Werten stilisiert werden. Leserinnen und Leser brauchen also keine Angst vor einem erhobenen Zeigefinger zu haben. In einem Stil, der sich bemüht, schwer Verdauliches leicht verständlich zu verabreichen, wird uns stattdessen vorgehalten, was als Folge von Trauerverweigerung und Verdrängung unvermeidlich sei: Untergründige Depressionen, Gefühlskälte, Beziehungsunfähigkeit, schnelle neue Identifikationen, die nur verstecken, daß die alten Strukturen erhalten bleiben, ein labiles Selbstwertgefühl, das keine Kritik und schon gar keine Selbstkritik aushalten kann, Schuldverschiebungen, Aggressionen, die nach außen gewendet werden und sich wieder Sündenböcke suchen.
All das wäre von den Grundmustern her nicht neu und nicht (mehr) besonders brisant, wenn es nicht auch und gerade um jüngere Patienten ginge, von denen Margarete Mitscherlich zu berichten weiß. Davon nimmt sie die APO-Generation nicht aus. Die Position der Anklage habe es ihr leicht gemacht, sich von den Vätern loszusagen, ohne intensiv zu reflektieren, daß man die Hypothek der eigenen Sozialisation nicht durch einen einfachen Willensakt oder eine Selbstdefinition beiseite schiebt, sondern nur durch mühevolle Arbeit überwinden kann. In diesem Sinne grenzt sie das von ihr befürwortete Außenseitertum gegen die Mentalität des Aussteigens ab.
Der Befund, daß Verhaltensmuster, die man eigentlich für zeitlich begrenzt hielt, keineswegs nur bei Ewiggestrigen auftauchen, daß die Unfähigkeit zu trauern von einigen nicht unmaßgeblichen Kräften geradezu positiv propagiert werde, um unter der Parole »Wir wollen endlich vergessen« sogleich antisemitisch gewendet zu werden, führt auch zu kritischen Anmerkungen an einigen psychoanalytischen Theorien, die über Schlagwörter in die öffentliche Diskussion eingegangen sind. Freud habe den psychischen Apparat des Menschen ziemlich ahistorisch gesehen. Alexander Mitscherlich habe demgegenüber auf die abnehmende Rolle des Vaters, bedingt durch die Entwicklung der »spurlosen« Arbeit in der Industrieproduktion, hingewiesen. In den siebziger Jahren sei dann »der Narziß als neuer Sozialisationstyp« diskutiert worden – Folge des Verlustes des vater-geprägten Überichs als moralischer Instanz.
Margarete Mitscherlich zweifelt an diesem neuen Typus, jedenfalls an seiner behaupteten Dominanz. Das Überich als Träger bestehender Werturteile sei in einen individuellen und einen sozialen Anteil gespalten, die durchaus nicht miteinander harmonieren müßten. So können Normen, deren Vermittlung zu Freuds Zeiten überwiegend das klassische, patriarchalische Familienoberhaupt vornahm, beispielsweise die männlichen »Werte« des Durchhaltens und Durchsetzens, der Härte, Fahnentreue etc. auf anderem Wege weitergegeben werden, über Schule, Massenkultur, Politik, Kriegsdienst. Das »Untier« im Menschen sucht und findet die Autoritäten, die es (zu ganz bestimmten Zwecken) gewähren lassen oder gar, wie die Nazis, »in den Rang eines höheren Wesens hinaufpathetisieren«. Daß die EMMA-Autorin in diesem Kontext dem Männlichkeitswahn – autoritäre Herrschaft, Paranoia, Gewalt – besondere Aufmerksamkeit widmet, versteht sich.
Eher unaufdringlich sind politische Stellungnahmen (im engeren Sinn) über den Text verstreut, mit denen sie innerhalb der psychoanalytischen Zunft heute ziemlich isoliert sein dürfte. Der bundesrepublikanischen Gesellschaft bescheinigt sie Fremdenfeindlichkeit, Polizeistaatshysterie, Antikommunismus, ein Rechtswesen als »trauriges Beispiel für den bruch- und nahtlosen Übergang von einer rassistischen Herrenmenschen-Diktatur zu einer scheinbaren parlamentarischen Demokratie«, antisowjetische Verfolgungsphantasien, in denen sich eigene Aggressionsbereitschaft ausdrückt und einen latenten Antisemitismus, der zunehmend weniger Anlaß habe, sich nur vorsichtig zu äußern. So unterstreicht sie Augsteins auf neokonservative Historiker gemünztes Stichwort von der »neuen Auschwitzlüge«, nennt die Fernsehserie »Flucht und Vertreibung der Deutschen« als Versuch einer Aufrechnung von Schuld, hält die in Interviews von Deutschen regelmäßig zu hörenden Peinlichkeiten über Auschwitz, die sich häufig auf schiere Grobheit reduzieren, für erschütternd.
Kritisiert werden aber auch manche Linke, die es als verlockend empfinden, immer wieder unzutreffende Parallelen zwischen der Politik Israels und dem Nationalsozialismus zu ziehen, um auf diese Weise Entlastung von eigenen Schuldgefühlen zu suchen. »Wenn Israel im Kampf um seine Existenz, in seinen kriegerischen Auseinandersetzungen Schuld auf sich lädt, werden junge Deutsche dadurch unschuldiger? Eine merkwürdige unlogische und geschichtslose Art des Denkens, aber sie existiert.«
In der ihr eigenen Weise, vermutlich mit freundlich-amüsiertem Lächeln, äußerte Margarete Mitscherlich vor einem halben Jahr in einer Fernsehdiskussion zum Thema »Keine Lust auf Kinder?«, sie könne ein Aussterben der Deutschen »eigentlich nicht bedauern«. Schließlich hätten sie mit ihrem spezifischen Nationalgefühl zwei Weltkriege vom Zaun gebrochen und millionenfachen Völkermord hinter sich gebracht. Nachdem »Bild« (»Deutsche können ruhig aussterben«), »Welt« (»Die Endlösung und eine Rassentheorie im ZDF«) und »Deutsche National Zeitung« (»Deutsches Volk, stirb«!) ihre Leser in gebührender Weise unterrichtet hatten, wurde die »Hetzerin«, »Kreatur«, »Judensau« monatelang mit Drohanrufen und -briefen eingedeckt, beispielsweise daß man ihr auf offener Straße Salzsäure ins Gesicht schütten wolle (was übrigens einem Offenbacher Betriebsrat und Gewerkschaftslinken kürzlich genau so passiert ist). Die Angegriffene, für die das eine neue Erfahrung ist, bleibt trotzdem der Meinung, daß es sich bei den Deutschen um ein altes Kulturvolk handele.
MARGARETE MITSCHERLICH: Erinnerungsarbeit. Zur Psychoanalyse der Unfähigkeit zu trauern, S. Fischer Verlag, 175 Seiten.
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