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24.03.2015 16:13

Politik aus dem Bauch: Der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz will als demokratischer Reformer gelten und macht sich dabei zum nützlichen Idioten der deutschen Dominanz in der EU. Von Eric Rotziegler

 

Videospot zur Europa-Wahl, ein halbwegs bekannter Schauspieler empfiehlt: »Ihr schimpft immer über die, die da in Brüssel sitzen – so weit ab. Dann wählt doch einfach Martin Schulz. Der ist zum Anfassen.« Der Entwurf für dieses Statement könnte vom Besungenen selbst stammen. Schulz legt Wert darauf, als jemand zu gelten, der nah an den Bürgerinnen und Bürgern ist. Über seine Arbeit als sozialdemokratischer Wahlkämpfer sagt er deshalb: »Wenn Politik auf den Bauch von Menschen zielt, ist das in Ordnung« Wer in der Politik nicht in der Lage sei, Emotionen zu wecken, »der ist am falschen Platz. In meinem ganzen Leben werde ich aber nicht akzeptieren, wenn Politik systematisch auf die Mobilisierung niederer Instinkte zielt.« Mit dieser Sortierung meint er: Sich für die Parole eines gemeinsamen Europa zu begeistern, ist edel, hilfreich und gut. Übel hingegen ist es, den Parolen von Nationalisten und anderen Europa-Feinden zu folgen. Daß die Mobilisierung gehobener und niedriger Instinkte gleichermaßen auf die Suspendierung der Vernunft setzt, spielt im Wahlkampf – selbstredend – keine Rolle.

Wenn kein Wahlkampf ist, kann Schulz ein durchaus sympathischer Mann sein. Bei einem Besuch in Auschwitz, berichtet der »Spiegel«, sitzt er mit ein paar Jugendlichen in der Begegnungsstätte und ißt Wurstbrote. Sein Vater, sagt Schulz, sei als strenger Katholik stolz darauf gewesen, niemals »Heil Hitler« gesagt zu haben. Er selbst würde in vergleichbarer Situation zur Waffe greifen. Große Augen hätten die »pazifistischen Jugendlichen« gemacht bei diesem Bekenntnis.

Als Anfang 2007 die Nazis und  Rechtspopulisten im Europäischen Parlament eine Fraktion bildeten und daraufhin in zwei Ausschüssen den Vizevorsitzenden stellen sollten, empfahl Chef Schulz den Mitgliedern seiner sozialdemokratischen Fraktion, sich über die Tradition des Hauses hinwegzusetzen und die Vergabe dieser Posten abzulehnen. Und als im September 2010 die französische Regierung eine Massenausweisung von Roma organisierte, zählte Schulz zu den schärfsten Kritikern: »Roma sind EU-Bürger und verfügen über alle Rechte europäischer Bürger.« Angesichts seiner demonstrativen Abneigung gegen nationalistische und völkische Affekte war es von einiger Ironie, daß Schulz einem breiten Publikum bekannt wurde, als Silvio Berlusconi ihm 2003 anläßlich einer Kontroverse im EU-Parlament vorschlug, eine Rolle als Kapo in einem Film über Konzentrationslager zu übernehmen, der gerade in Italien gedreht werde. Schulz sagte, der Respekt vor den Nazi-Opfern verbiete ihm eine Erwiderung.

Seine europäische Karriere hat Schulz allerdings auf einem anderen Ticket gemacht. Bis 1994 war der gelernte Buchhändler Bürgermeister der rheinischen Kleinstadt Würselen. Dann ging er, zunächst nebenbei und später hauptberuflich, ins EU-Parlament, wurde dort 2004 Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion und 2012 Präsident des Hauses. Auch in der SPD stieg er auf, aktuell gehört er dem Präsidium an und ist der »Europa-Beauftragte« der Partei.

Wenn Schulz über Europa spricht, und das tut er täglich, fehlt nie eine Variation dieses pathetischen Gedankens: »Europa ist die Antwort auf den Irrsinn der Kriege unter Nachbarn.« Das ist, besonders hierzulande, eine beliebte und auch in Schulbüchern gern präsentierte These, die die historische Wahrheit so stark verschleiert, daß das Gegenteil herauskommt: Die »europäische Einigung« war, nachdem Deutschland 1945 ff. der endgültigen Zerschlagung entkommen war, in erster Linie das politische Gefäß und leider auch ein Angebot für die nichtmilitärische Betätigung jener germanischen Triebe und Ansprüche, die 1914 und 1939 den Kontinent und die Welt in Brand gesetzt hatten. Über die von Schulz gemeinten »Kriege unter Nachbarn « wurde im 20. Jahrhundert samt und sonders maßgeblich in Berlin entschieden – Portugiesen und Belgier bedürfen keineswegs der EU, um nicht übereinanderherzufallen. Der Krieg zur Zerstörung Jugoslawiens und der aktuelle Krieg in der Ukraine waren beziehungsweise sind Auseinandersetzungen, die unmittelbar der deutschen Expansion dienen soll(t)en und die von Berlin entscheidend und systematisch geschürt wurden – teils unter dem Label der blauen Sternenflagge.

Vor diesem Hintergrund und nicht zuletzt auf Grundlage der gemeinsamen Währung hat sich die Europäische Union in ein durch und durch deutsch dominiertes Gebilde verwandelt – in allen Fragen von echtem wirtschaftlichen oder politischen Belang fungiert Brüssel als Vorort Berlins, der Rest darf im Straßburger Parlament verhackstückt werden. Wenn in Deutschland regelmäßig die Rede davon ist, die EU müsse außenpolitisch endlich mit einer Stimme sprechen, ist damit immer gemeint: auf der Frequenz von Berlin. Vollends seit der Euro-Krise bedarf es nur einer kleinen Überspitzung, um festzustellen, daß die hiesige Bourgeoisie den Kontinent mit Hilfe der korrumpierten (und oft schwachen) Eliten der Nachbarstaaten beherrscht – getragen, soweit es um Dominanz und Diktat geht, von einer Woge der Zustimmung aus den Reihen der eigenen Untertanen. Der gesellschaftliche Hauptwiderspruch, der Europa aktuell prägt, ist der zwischen der deutschen Hegemonie und den davon betroffenen Mittel- und Unterschichten der anderen Länder.

Der scharfsinnige Martin Schulz verhält sich zu dieser zentralen Dynamik seit jeher bewußt wie ein Trottel – eine Ignoranz, die Bedingung und Basis für seinen Aufstieg war. Zwar mischt er sich durchaus regelmäßig mit Statements in den Tagesbetrieb ein und attackierte bisweilen auch die Kanzlerin, doch immer nur, um neues Material für sein sorgfältig konstruiertes Mantra zu sammeln – und das heißt: Volksnähe. Seit er in den Betrieb der EU eintauchte, hat sich Schulz vor allem daran abgearbeitet, den Status des Europäischen Parlaments zu veredeln: Sobald die europäischen Wählerinnen und Wähler erkennen, daß die von ihnen gewählten Repräsentanten etwas zu entscheiden haben, würde die Skepsis gegenüber der EU deutlich abnehmen und die Glaubwürdigkeit des Verbundes stark erhöht, lautet das Dauerargument, das man aus der Debatte um »Politikverdrossenheit« kennt.

Entsprechend lesen sich die Tiraden, die Schulz gegen die Marginalisierung der Volksvertreter absonderte, auch als populäre Anklage gegen die Anonymität politischer Entscheidungsstrukturen. »In Europa geschieht alles hinter verschlossenen Türen. Der Rat tagt da hinter verschlossenen Türen. Ich bezeichne ihn immer gerne als einen permanenten Wiener Kongreß, wo die Mächtigen Europas zusammenkommen, hinter verschlossenen Türen beraten und ihren erstaunten Untertanen anschließend mitteilen, worüber sie sich mal wieder nicht geeinigt haben« (2013). Das Gegenmittel: »Es geht um die Frage: Wo schafft man Sichtbarkeit und Hörbarkeit politischer Vorgänge für die Bürgerinnen und Bürger in Europa? Und der Ort ist das Europäische Parlament« (2014). Der »Spiegel« beschrieb Schulzens Mission im vergangenen Jahr so: »Das EU-Parlament wirkt neben den anderen farblosen Institutionen, dem Rat der Staats- und Regierungschefs und der Kommission, wie die graue Maus Europas. Schulz will ihm endlich Würde verleihen, es geht um Selbstbewußtsein und um Macht.« Besonders prägnant zeigt sich die Remythologisierung des Repräsentationswesens in einer Formel, die Schulz bereits seit 2003 vor sich herträgt: »Uns fehlt hier in Brüssel die Personalisierung von Politik.« Kein Wunder, daß der überaus gewiefte Netzwerker mit seinen Lobliedern auf eine wahre und mit echten Befugnissen ausgestattete Volksvertretung auch jenseits der sozialdemokratischen Fraktion unter den Abgeordneten des Europäischen Parlaments viele Freunde fand.

Da Schulz von einem enormen Geltungswillen angetrieben wird, gab er im Vorfeld der Europa-Wahl bekannt, die Position des Präsidenten der Europäischen Kommission anzustreben – das wichtigste Amt, das in der EU zu vergeben ist. Daß sich dieser Plan realisieren läßt, ist, nicht zuletzt aufgrund ungeklärter Verfahrensfragen, recht zweifelhaft – aber gerade deshalb zeigte die Kampagne, die Schulz als Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten führte, was das Imperium als Mindestqualifikation erwartet und was die Sozialdemokratie in dieser Hinsicht zu bieten hat. So schrieb Schulz im vergangenen Jahr in sein Buch Der gefesselte Riese brav jene in Deutschland erfundenen Sätze hinein, die jeder Politikstudent aufsagen kann und die zur Erzwingung von Disziplin und Gehorsam allzeit gute Dienste leisten: Wenn die EU »auseinanderbricht, dann wären wir irrelevant. Wir werden zum Spielball der ökonomischen und politischen Interessen von anderen Weltregionen, von China, von Indien, von Lateinamerika, der USA.« Und wer würde nicht lieber von einem Präsidenten Martin Schulz regiert als von einem, der in Bogotá residiert?

Im Februar zu Besuch in Israel, konfrontierte er das dortige Parlament mit der Frage, wie die Unterschiede zwischen Israelis und Palästinensern beim Wasserverbrauch zu erklären seien. Schulz berichtete von einer Begegnung mit einem Palästinenser. Dieser habe ihm erklärt, ein Israeli habe 70 Liter Wasser am Tag zur Verfügung, ein Palästinenser nur 17. Ob das stimme, fragte Schulz, räumte aber gleichzeitig ein, die nachweislich falschen) Zahlen nicht überprüft zu haben. Einige Abgeordnete verließen daraufhin protestierend den Saal, Schulz verweigerte in der Folge eine Entschuldigung. So wird er künftig als jemand gelten, der sich Kritik an Israel nicht verbieten läßt – auch das zählt zum Qualitätstest für Kandidaten, die auf linke Wähler hoffen.

In seinem Verhalten gegenüber der deutschen Kanzlerin demonstrierte der Wahlkämpfer ebenfalls, daß Prinzipientreue ein Prinzip mit Grenzen ist – schließlich wird Angela Merkel bei der Ernennung des Kommissionspräsidenten eine entscheidende Rolle spielen. Als Chefunterhändler der SPD sorgte Schulz dafür, daß die europäische Programmatik der großen Koalition weitgehend auf CDU-Linie blieb; die Etablierung der von ihm bis dahin immer wieder geforderten Staatsanleihen mit kollektiver Haftung (Eurobonds) werden im Koalitionsvertrag explizit ausgeschlossen.

Im Interview mit der  Süddeutschen Zeitung« hat Schulz im Januar endgültig deutlich gemacht, daß er die Würdigung seiner Verdienste keineswegs geschmälert sähe, würde er ein Kommissionspräsident von Merkels Gnaden. So machte er seiner künftigen Vielleicht-Chefin präventiv eine Reihe von Komplimenten, die ihre Peinlichkeit nicht zuletzt daraus bezogen, daß der Kandidat zuvor und häufig gegenteilig geredet hatte. »Frau Merkel« habe in der Finanzkrise »zu einem Instrument gegriffen, das ich akzeptiert habe: Sie hat beherzt kurzfristig gehandelt.« Wie man höre, sagte der Interviewer, sei er häufiger mal Gast im Kanzleramt? Er zähle, antwortete Schulz, »nicht zu denen, die Frau Merkel nach dem Mund reden. Eines aber akzeptiere ich nicht: Da sitzen 28 Regierungschefs in Brüssel, und am Ende ist immer Frau Merkel schuld. Dabei wird einstimmig entschieden. Ich bin nicht bereit, dieses Merkel- Bashing hinzunehmen. In Wahrheit ist das ein Deutschen-Bashing.«

Abgerundet wurde diese primitive Anbiederung an Volk und Obrigkeit durch eine überaus passende Headline: »Sollte er Kommissionspräsident werden, will er den Europäern als erstes die Angst nehmen, daß sie ihre nationale Identität verlieren könnten.« Von irgendwas muß man schließlich leben.

Eric Rotziegler lebt und arbeitet als Geodät in Luxemburg

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