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Der kleine Unterschied

30.09.2014 15:06

Im Bild, das sich die Deutschen von den vermeintlichen »Armutszuwanderern« vom Balkan machen, drückt sich die Angst vor der eigenen Überflüssigkeit aus.
 
Während die Opfer, die die Gewalt der ersten Natur fordert, noch betrauert werden, achtet man streng darauf, dass die Lebenden nicht begünstigt werden und wenigstens leiden müssen. Die Antwort auf das Sterben vor Lampedusa fiel dementsprechend aus: mehr Frontex und, um die gröbste Gewalt nicht allein ausüben zu müssen und das Gesicht der Zivilisation zu wahren, die forcierte Übertragung der europäischen Grenzsicherung an die marokkanischen, tunesischen, algerischen, libyschen und türkischen Repressionsapparate. Mit dem Kalkül, dass der drohende Tod sie zu Ausweichmanövern zwingt, drängen die Kerneuropäer die Geflüchteten auf die riskantesten Routen. Jüngst hat »Pro Asyl« systematische »Push Backs« an der griechisch-türkischen Front des europäischen Migrationsregimes dokumentiert: Maskierte Spezialkommandos inhaftieren Geflüchtete ohne jede Registrierung auf griechischem Territorium, um sie anschließend in die Türkei abzuschieben. Geflüchtete, die sich zur riskanten Überquerung des Meeres entschlossen haben, werden, sobald sie aufgegriffen worden sind, in türkische Territorialgewässer bugsiert, die Bootsmotoren unbrauchbar gemacht. Als wäre das europäische Migrationsregime
der verlängerte Arm der syrischen Killerbrigaden, erfahren vor allem Geflüchtete aus den dortigen Kriegen folterähnliche Gewalt. Nahezu alle von »Pro Asyl« verzeichneten »Push Backs« geschehen im Operationsgebiet der europäischen Frontex-Mission »Poseidon Land and Sea«.
 
An jenen, die durchkommen, die das gröbste Opfer vermeiden konnten, rächen sich die europäischen Souveräne auf ihre Art. In der Schweiz etwa, diesem Idyll wider die Krise, werden Geflüchtete zunehmend in unterirdischen Militäranlagen kaserniert. Es ist, als würde mit dem Entzug von Tageslicht das Entkommen aus der afghanischen, syrischen oder somalischen Hölle sanktioniert werden. In der oberirdischen Anlage Bremgarten haben die Asylsuchenden nur zwischen neun und 17 Uhr Ausgang. Wie anderswo die tugendterroristischen Agenturen
aus Familie und Racket hat der Souverän jede Regung im Blick, und ein eigener Sicherheitsdienst kontrolliert das Stadtgebiet im Kanton Aargau, durchstreift es nach Abtrünnigen und behorcht über eine Hotline jede rassistische Denunziation auf Seiten der Autochthonen. Den Geflüchteten sei keine Minute der Besinnung gegönnt, den Moralterror der Taliban, al Schabbat und anderer aus den Gedanken zu verdrängen, und so ist ihnen noch der Besuch des städtischen Schwimmbads untersagt.
 
Dass die Gewalt der ersten Natur, die in der Geographie lauernden Unwägbarkeiten, bei der innereuropäischen »Elendseinwanderung« nicht zuschlagen kann, provoziert den Hass auf die vor systematischer Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt und andauernden Pogromdrohungen flüchtigen Roma etwa aus Serbien oder Mazedonien nur noch mehr. Kein reißender Grenzfluss, kein unruhiges Meer ist gegen sie zu instrumentalisieren, und so werden die Balkanstaaten zur Repression erzogen, indem man etwa, so wie Hans-Peter Friedrich in den vergangenen
Jahren, mit der Stundung der Visa-Liberalisierung droht. In Reaktion darauf hat Serbien die Ausweitung der Strafgesetze auf sogenannte »unbegründete Asylsuche« erwogen.
 
Nicht, dass der Staat der Deutschen auch nur die körperliche Integrität der Geflüchteten
garantieren würde. Die folgenschwerste Serie antiziganistischer Morde und Pogrome nach 1945 geschah, man erinnere sich, unter den Augen des deutschen Souveräns und nicht etwa im »zivilisatorischen Hinterland«, im Osten Europas. Auf Mord und Pogrom folgte Ende 1992 der »Asylkompromiss«, das heißt die Installierung des Prinzips des »sicheren Drittstaats«. Dass die Große Koalition nun beabsichtigt, Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina als »sicher« einzustufen, ist dagegen eine direkte Aggression gegen die Roma. Liegen die Erfolgsquoten für Asylsuchende aus diesen Staaten seit längerem bei nahezu null, scheint man mit diesem juristischen Detail die Roma als jene zu brandmarken, die allein dem ökonomischen Instinkt folgen würden. Seit Herbst letzten Jahres werden Asylsuchende aus den Balkan-Staaten »mit Vorrang bearbeitet«, eine glaubwürdige Prüfung ihrer Fluchtgründe entfällt, Priorität hat die Beschleunigung der Abschiebung. Einerseits ist das Gros der Menschen dem
Zwang unterworfen, als variables Kapital eine Funktion zu erfüllen und also eine Existenz als Vehikel der Ware Arbeitskraft zu führen. Andererseits wird jede Perfidie genutzt, jene, die einer kapitalproduktiven Funktionalisierung entgegenzufliehen gezwungen sind, von der Konkurrenz auszuschließen. An den Geflüchteten lässt sich erkennen, dass der Unterschied zwischen dem vielbeschworenen »Humankapital« und der Müllwerdung des Menschen darin
liegt, mit einem politischen Souverän, der Gewalt eines Staates, identifiziert zu sein, der für die Menschen noch andere Funktionen bereithält als nur das Racket und die Kaserne. Eine der gröbsten Denunziationen trägt folglich seit den neunziger Jahren den Namen »Wirtschaftsflüchtling« oder, nun modifiziert: »Armutseinwanderer «, die Kennzeichnung jener menschenähnlichen Kreatur, die sich an den Geldzweck klammert, ohne ihre Produktivität völkisch authentifizieren und ihre Staatsloyalität rassisch verbriefen zu können.
 
Wenn sich die deutsche Nation auch jenen öffnet, die wegen mangelnder Autochthonität nicht als Gleiche gelten, dann nur selektiv: also für jene, denen es gelingt, eine produktive Funktion einzunehmen oder zumindest glaubhaft vorzutäuschen. Doch die Entscheidung des Staates über die Produktivität eines Menschen ist, sobald ein kollektives Ressentiment darin vorherrscht, keine allein mit dem Individuum befasste, lediglich nach dem Kalkül der Verwertbarkeit des lebendigen Dings getroffene. So ist die Debatte um die Elendseinwanderer vom Balkan eine fundamental rassistische über die Wertigkeit des Menschen für den Staat des Kapitals.
 
Dass sie im Amtsdeutsch eigentlich nicht vorkommen, wie die »FAZ« anmerkt, sorgt nur für jedes weitere Gerücht darüber, wer sich hinter den »Bulgaren und Rumänen« eigentlich verbirgt: »Es sind Roma« (»FAZ«, Oktober 2013). In den Stadtvierteln, die sie aufsuchen, wird gehaust, nicht mehr gelebt, und in den umliegenden Grünflächen werden »menschliche Exkremente« von den tierischen geschieden. Im Bild, welches die Deutschen sich von den Roma machen – »Bettel-Rumänen« und »Rotationseuropäer« –, verrät sich eine unbändige Angst vor der drohenden Verwilderung des Arbeitskraftbehälters, vor der eigenen Entkapitalisierung wie der Entstaatlichung. Bis ins letzte
Jahr hinein fungierten noch die »Elendsbettler « als das vorgezogene antiziganistische Stereotyp. Die Ahnung, dass nichts als bloße Natur, nichts als kränkelnde Leiblichkeit, die ohne »aufdringliches Geschnorre« verendet, übrigbleibt, sobald die Krise sich totalisiert, lässt den Deutschen vor der eigenen Asozialität und dem sich noch hinauszögernden Tod der eigenen Subjektivität erschrecken. In dieses antiziganistische Ressentiment kleidet sich die Ahnung von der eigenen drohenden Überschüssigkeit, die Degeneration des Arbeitskraftbehälters in
nur dürftig in Lumpen gehüllte Natur.
 
Der »Elendsbettler« aber hat inzwischen an Bedrohlichkeit verloren. Zum Objekt der Furcht
wurde die Ware Arbeitskraft, die sich nicht verkauft, sondern die gezwungen ist, sich zu prostituieren. Der »Arbeiterstrich«, auf dem Bulgaren und Rumänen sich heute diesen und morgen jenen Herren anbieten, konterkariert das deutsche Ethos von der Arbeit als Berufung, als Ehre aufs gröbste. Er irritiert mit dem Ausblick darauf, was auch den nationalisierten Arbeitskraftbehältern droht und für viele längst Realität ist: die Menschenschlacht um die noch letzten Funktionsstellen. Es ist eben nicht das Andersartige, das den Hass der deutschen Arbeitskraftvehikel provoziert, es ist vielmehr die ihnen von den ökonomischen Gesetzen eingebrannte Ähnlichkeit mit dem als unwert denunzierten Leben: die böse Prophezeiung der eigenen Austauschbarkeit vor dem Kapital. Was die Politik gegenwärtig ausreizt, ist das stille Wissen über den Unterschied. Das »Recht auf Freizügigkeit« sei »kein Recht auf Einwanderung in die nationalen Sozialsysteme«, so etwa der christsoziale Funktionär Hans-Peter Uhl. Auch er wird wissen, dass der Anteil der in Deutschland lebenden Bulgaren und Rumänen unter den Arbeitslosen geringer ist als der der Deutschen. Zweck eines solchen Geredes scheint es zu sein, die Angst der nationalen Arbeitskraft zu beleben, um schlussendlich den Staat wieder als Referenzquelle des Leistungswillens, als naturhaften Garanten ihres Privilegs zur kapitalproduktiven Funktionalisierung anzupreisen.
 
Daniel Ahrendt ist Autor und Betreiber des Blogs »Cosmoproletarian«

Der Artikel ist in konkret 02/2014 erschienen.

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