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Der Preisträger und sein Laudator: Zum Tod Fritz J. Raddatz

05.03.2015 13:38

Ich weiß, daß der erste Träger des Karl-Kraus-Preises die in mich gesetzte Erwartung nicht erfüllt. Getreu der Auffassung des Namensgebers, daß Preise, die der Aufmunterung dienen, »auf sämtlichen Gebieten der Kunst schon so viel Unheil angerichtet haben, während Abschreckungspreise, geknüpft an die Bedingung, nichts dergleichen mehr zu tun, sondern einen nützlichen Beruf zu ergreifen, ein wahrer Segen wären«, sollte der Preisträger bei der öffentlichen Verleihung verpflichtet werden, künftig von der Veröffentlichung eigener Schriften Abstand zu nehmen und die mit der ausgelobten Summe von 30.000 Mark eröffnete Chance zu nutzen, den vom Namensgeber gewiesenen Weg einzuschlagen. Der Preis wäre also einem der vielen hoffnungsvollen Talente zuzusprechen gewesen, denen der mit vielerlei Recht so genannte Durchbruch noch nicht gelungen ist und die darum der Hoffnung Raum lassen, daß sie auch anders könnten - wenn nicht für gute Worte, so doch für Geld.  
So schwierig es sich anließ, unter hundert der Aufmunterung Harrenden den einen zu bestimmen, den abzuschrecken am dringlichsten geboten schien - schwieriger als die Suche nach dem rettenden Strohhalm in einem Haufen von Stecknadeln -: keiner der ins Auge gefaßten Kandidaten hätte dazu getaugt, den Preis in jene Perspektive zu rücken, die ihm bei seiner ersten Verleihung gegeben werden mußte. Besser als am zarten Sproß, dessen künftiger Mißwuchs erst zu ahnen ist, läßt sich an der ausgewachsenen, blühenden Taubnessel zeigen, was - und hier greife ich zu einer Lieblingswendung des Preisträgers - in nuce zu verhindern wäre. Um der Abschreckung jüngerer das Maß zu schaffen, war der Preis einem Kandidaten zu verleihen, der nicht mehr abzuschrecken ist: einem jener bösen Enden, zu denen die erfolgversprechendsten Anfänge zu führen pflegen. ( ... )  
Polemik - und nichts anderes kann die Verleihung eines nach Karl Kraus benannten Preises sein - »setzt das Format des schlechten 04ekts voraus, sie enthüllt das Mißverhältnis zwischen Geltung und Unbedeutung«. Was schon vor der Polemik so nichtswürdig erscheint, wie es nach ihr dazustehen hätte, gehört dem Satiriker. Meiner Polemik fällt zu Zehm nichts ein. Und so mußte meine Wahl, die längst keine freie mehr war, auf einen Kandidaten fallen, den nicht zu wählen ich allen Grund gehabt hätte, wollte ich nur »das Odium gewisser Bundesgenossenschaft fliehen und die Zustimmung von Leuten meiden, mit denen man nur dann ein Urteil gemeinsam haben möchte, wenn sie es einem ohne Angabe der Quelle abdrucken. Also das bekannte Dilemma, über das Lichtenberg hinweghilft mit der Erkenntnis, daß auch der Philister manchmal recht haben könne, aber nie in den Gründen.  
Es muß nun heraus: Erster Träger des Karl Kraus-Preises ist ein Literaturredakteur und Feuilletonschreiber, in dessen Wirken der Betrieb so recht zu sich gekommen ist; unter dessen Redaktion und Herausgeberschaft sich die glänzendsten Namen zusammengefunden haben; auf dessen Anruf jeder geantwortet hat, der heute etwas gilt; an dem gemessen werden wird, wer sich von ihm messen ließ, vor seinem Verdikt gekuscht hat oder gar vor seinem Lob. Dieser Papst, der Jüngst und nur vorübergehend nach Avignon oder Paris ausweichen mußte, konnte mit Recht sagen, er sei »wie kaum ein anderer ... zugleich Kritiker der deutschen Gegenwartsliteratur und ihr Bestandteil«, weshalb seine Gläubigen, »jene immer an der Ecke der Freibeitsgasse stehenden Dienstmänner, die bereit sind für die Nennung ihres Namens Großes zu wollen und bei der Kultur etwas auszurichten, was ihr der Buchhändler... sagen läßt«, auf den Bannfluch des am Römer residierenden Gegenpapstes mit einem Wehgeschrei antworteten, als würde Goethe im Güterzug ins Lager geschafft und nicht ein Feuilletonist mit dem Porsche nach Paris. Gaus war »erschrocken über den Totalitarismus der Verdammung«, Hochhuth erlebte »einen Haß-Krieg«, »eine Hetze«, »einen großen Fleischtag« - »Da muß einer geschlachtet werden!« -, Rühmkorf rief »Denunziantentum und Menschenjagd« und der Abgeordnete Duve entdeckte einen »beispiellosen Kollegenhaß«, »ein unerhörtes Novum«. Etwas gedämpft durch die Enttäuschung, daß der so Verfolgte »mein neues Buch anscheinend nicht besprechen läßt«, mahnte Habermas bloß, »daß es in der heutigen Situation auf jede verbliebene Gegenstimme ankommt« und erst recht auf eine solche, die sein Buch nun vielleicht doch noch besprechen läßt. Auch Enzensberger und Schneider (Peter) sprangen mutig in die Bresche, »aber ein boshaftes Luder, wie ich bin, habe ich natürlich keine Anerkennung dafür, daß sich in dieser Wüste allgemeiner Kulturlosigkeit... ein paar opfermutige Männer zusammengefunden haben, um die Kultur für eröffnet zu erklären«, beziehungsweise für geschlossen, wenn ihr Lieblingsredakteur in sämtliche Kanäle des Fernsehens hinabgestoßen werden soll, wovon doch schlimmstenfalls der Untergang des Abendprogramms zu befürchten war.  
Ich jedenfalls bin weder in der heutigen Situation noch überhaupt der Ansicht, daß es auf eine und gar auf jede dieser verbliebenen Gegenstimmen ankommt, sondern empfehle allen, die von dort Rettung erhoffen, lieber zur nächstbesten Kolumnenschnur zu greifen. Wogegen erheben sie sich denn, diese Stimmen, die zur Verteidigung ihrer Positionen in den Universitäten und Redaktionen den Verbliebenenausweis vorzeigen und die Versetzung eines Feuilletonredakteurs mit Worten malen, die einen Neruda verlegen gemacht hätten? Ohne die Grausamkeit zu unterschätzen, die es bedeutet, ihnen die Gewißheit der Besprechung zu rauben und den begründeten Optimismus zu enteignen, daß jene günstig ausfällt, solange sie sich nicht über den Redakteur ungünstig äußern, darf doch gefragt werden, ob die Herren noch alle Tassen im Schrank haben. Oder war ihr Chor nur ein Prävenire für den damals noch nicht auszuschließenden Fall, daß jene Gegenstimme im Amt verbleiben und sich an jedem, der nicht eingestimmt hatte, rächen könnte?  
»Wir Linken müssen doch zusammenhalten«, hat ihr Märtyrer, der heute seine Krone bekommt, mir einst bestellen lassen. Doch nemo ultra posse obligatur, wenn Sie wissen, was ich meine. Ich kann das nicht: ihn zusammenhalten. Den Ästheten, der, wenn's mißglückt, für die Unleserlichkeit seiner Sätze das rote Herzblut verantwortlich macht, mit dem sie geschrieben sind; und den Revolutionär, der beim Bau der Barrikaden alle Kunst darauf verwendet, daß sie hübsch gleichmäßig geraten und auf beiden Seiten zur Besteigung einladen. Wir stehen hier vor dem alten Problem von Form und Inhalt, das unser Preisträger dadurch kompliziert hat, daß die Form sein Inhalt ist und der Inhalt seine Form, was aber verwirrender klingt, als es ist. Denn im ersten Fall heißt seine Muse Gabriele von Luxemburg, im zweiten Rosa Henkel.  
Im ersten sind die Ornamente der Lebenszweck. »Plötzlich steht ein Kerl neben dir, dem Krawatte und Barttracht zu einem seltsamen Ornament verwoben sind, das Motive aus Altwien und Ninive vereinigt, eine Kreuzung aus Biedermeier und dem echten Kambyses. Er sieht Klänge, weil er sie nicht hören kann, er hört Farben, weil er sie nicht sehen kann, er spricht durch die Nase und riecht aus dem Mund und man hat nur den Wunsch, da]? ihn so bald als möglich ein Bierbrauer totschlage. Denn vor diesem kann sich die Kunst retten, vor jenem nicht.« Ohne Fernsehen reichte der Weitblick des Karl Kraus bis zu »Panorama« und »Autor-Scooter«. Daß sich solche Kerle aber auch auf die Politik werfen würden, ahnte er nicht. Er wußte es bloß: »Das bedingt einen geistigen Habitus, der auch den leiblichen geflissentlich dazu anhält, sich noch immer als Jourbesucber der Rahel Varnhagen zu fühlen, und dem das politische Interesse bloß eine Ableitung dessen ist, was man leider stets im Überfluß hat: der Sentimentalität. Sie allein macht es verständlich, daß Ästheten, die aus Lebensüberdruß Gift nehmen könnten, weil es grün ist, und die einen Pavian um den roten Hintern beneiden, manchmal drauf und dran sind, die Farbe, die bisher nur ihr Auge befriedigt hat, auch zu bekennen. « Weiß der Himmel, wie Kraus auf grün gekommen ist! Daß die Lieblinge des Publikums beim Abgreifen und Einstreichen eine Miene aufsetzen können, die sie als engste Hinterbliebene einer ermordeten Revolutionärin ausweist; daß ihr Tod es jedem Filou, der ihr siegreiches Leben nicht überlebt hätte, erlaubte, für sie zu schwärmen, hatte er erlebt. Und sich die Freiheit des Andersdenkenden sowenig wie sie als die Prolongierung eines Zustandes gedacht, in welchem Lohnschreiber eine Meinung, die die Inserenten dem Verleger ausgerichtet haben, mit Stil und einer Prise Opposition gewürzt als eigene servieren, sondern »das Ende aller Kunst und ein Verbot aller Freiheit ersehnt, um nur reines Terrain zu haben. Lieber allgemeine Blindheit als die Herrschaft eines Gesindels, das mit den Ohren blinzeln kann«. Und Ehre wem Ehre gebührt: Nichts kann unser Kandidat besser, der dem Bürgertum mit satirischen Betrachtungen des Allzumenschlichen um den Bart geht, um es zu gegebenem Anlaß mit »J'accuse«-Rufen zu necken; der die Gäste des Chemiekonzerns fragt: »Warum sind Menschen bloß nackt, wenn sie in der Sauna sitzen?« - »Warum vertarnen Menschen ihre Sprache?« - »Ist Urlaub Flucht?« - »Lebt in jedem von uns tief unten ein Brutus?« - »Warum haben Menschen so oft Angst, etwas zu versäumen?« - »Warum haben Menschen so weitgehend die Fähigkeit zur Anteilnahme verloren?« (Ich muß unterbrechen, weil es mir nicht gefingt, die Antwort, die er da gibt, zu unterdrücken. Einer, dessen Frau verunglückt ist, ruft Trost suchend bei Freunden, natürlich in Paris, an und bekommt zu hören: »Verzeih, eben kommt Henriette vom Markt, sie hat Nierchen gekauft, du weiß ja, in Frankreich ißt man Nierchen halb roh; sie tut sie gerade in den Tiegel, und wenn sie zu lange schmoren, werden sie hart.« Der Autor aber fragt: »Nur die Nierchen?« - »Eine der amüsantesten Rubriken in der 'Zeit'«, schrieb Enzensberger, der doch leichter zu unterhalten ist, als man dachte.) Und zwischen die harten Nierchen und Herzen wirft der Preisträger die Frage: »Wenn nämlich Johannes Bobrowski im 'Inneren Reich' publizieren konnte, dann muß das auch mit seiner Literatur zu tun haben; wenn Günter Eich ein vielgesendeter Funkautor und gerne gedruckter Lyriker war, dann muß irgendwo eine innere Übereinstimmung vorhanden gewesen sein; man bezahlt nicht, was man haßt.« Es fehlt ihm nicht an Mut, es denen zu sagen, mit denen Übereinstimmung war, und nur vor der Tollkühnheit, den Satz zu Ende zu denken und sich zu fragen, was an ihm sein muß, das ihn zu einem vielgesendeten Funkautor macht, schreckt er zurück. Denn er wird noch an anderer Stelle gebraucht, wo er dem Kollegen Sieburg vorwerfen muß: »Den erbitterten Kampf etwa um Huchels Zeitschrift 'Sinn und Form' gänzlich zu ignorieren - und zur selben Zeit Mörike zu rezensieren -, muß schon sonderbar genannt werden.« Hier der brotlose Lyriker und sein Rezensent, dort der erbitterte Kämpfer - wie sind sie vorgeahnt: »Der Rebell wird vermutlich ein Feuilletonredakteur sein. Er wird den Autoritäten mit allen Phrasen, die sie überliefert haben, zu Leibe rücken. Er wird wie Heine sein müssen, der nach Herrn Busse (ein Vorgänger unseres Preisträgers) sehr viel auf einmal geleistet hat, zum Beispiel: er hat nicht scheu aus dem Winkel zugesehen, sondern sein Herz, sein rotes Dichterherz ins Getümmel geworfen, er hat in der Zeit gekämpft u nd geirrt; andere haben nur schöne Gedichte gemacht, aber er war ein Kerl, denn es gibt Epochen, in denen, und es gibt Stunden, wo (der Dichter an die Spitze seines Volkes gehört oder dergleichen)... Kurzum, Heine ist doch ein anderer Kerl als Mörike.. Nur irrt Herr Busse, wenn er glaubt, es gebe um die Entscheidung zwischen Heine und Mörike. Es geht um die Entscheidung zwischen Heine und der Kunst. Freilich wenn man nicht wüßte, daß Mörike bessere Verse als Heine gedichtet bat, man erführe es aus der Anklage des Herrn Busse.- 'Er, der lebensschwacbe Träumer, der nicht umsonst in Cleversulzbacb und Mergentheim versteckt blieb, um den sich in seiner Zeit kaum eine Katze kümmerte und der Kinkerlitzchen ins Ausgabenbuch zeichnete, während draußen um die Freiheit gekämpft ward .. ! Soll man gegen den Herrn Busse wirklich ausführlich werden? Mörike gehörte nicht der Welt, weil er in seiner Fliederlaube saß und 'die Kreuzer für Milch und Wecken in sein Haushaltungsbuch eintrug'! 'Nicht umsonst' blieb er in Cleversulzbach, während draußen us.w. und während Heine 'nicht umsonst nach Paris strebte, in dem das Herz der Weit damals wirklich schlug' « Effektiv schlug. Was Herr Busse alles nicht umsonst tut, das kommt nicht in die Literaturgeschicbte. Mörike zeichnete Kinkerlitzchen ins Ausgabenbuch: Heine korrespondierte inzwischen mit seinem Bruder darüber, wie man am wirksamsten einen widerspenstigen Geldmann bedrohen könnte. Um Mörike braucht sich keine Katze zu kümmern, weil dies schon zu einen Lebzeiten keine getan hat. 'Man möchte hohnlachen, wenn man nicht vor Zorn weinen möchte!, ruft Herr Busse und spricht also eines jener erlösenden Worte, die in einem Durchfallsstück das geduldige Auditorium endlich losbrechen lassen. ~ Unser Herr Busse, der Preisträger, aber fährt fort, wo der Vorfahr so schmerzhaft unterbrochen wurde, und obwohl er - manus manum Manuskript - nur den Enzensberger heraushauen will, dem man auf die Moden gekommen war, landet er vor seinem Scharfrichter: »Da (aus Enzensberger) spricht der Heine der Salons und Rothschild-Diners, der Connaisseur von Pariser Passagen und Damen, der vor Revolutionskomitees zu Soireen im Faubourg Saint-Honoré flüchtete und vor Töpfen mit Hammelkeule zu den Schampanir-Déjeuners ins Grand Vefour. Nun liegt auf der hand und vielen dünnlippigen Rezensenten im Mund das eilfertige Urteil der Charakterlosigkeit, auch das schon im Karl-Kraus-Notat 'Ein Talent doch kein Charakter' vorfixiert. Man könnte dem bereits begegnen mit der Brecht zugeschriebenen Anekdote, derzufolge er zwar Oscar Wilde« u.s.w.. Man könnte, aber man will nicht mehr, nachdem das einzige Wort von Karl Kraus, das auf fünfhundert Seiten Platz gefunden hat, so falsch zitiert ist. Kraus hatte nicht gesagt: »Ein Talent doch kein Charakter«, sondern im Gegenteil: »Ein Talent, weil kein Charakter«. Dieses ist das Urteil über einen Strolch, während jenes einen Freispruch wegen Schuldunfähigkeit bedeutet. Aber man rechte nicht über Gegensätze mit einem, der von Nuancen lebt, oder gar über Worte mit einem, der nur Professor für deutsche Literatur ist. ( ... )  
Hatte sich der ältere Busse in seiner zweiten Jugend für den politischen Heine begeistert, um Arm in Arm mit ihm die Barrikaden des Feuilletons zu stürmen, reklamiert der jüngere den Feinschmecker Heine zur Verteidigung der eigenen Charaktervielfalt: »Wir sind wieder bei Heine. Wer in Deutschland eine eigene Ansicht bezweifelt, gar widerruft; wer in Deutschland einem eigenen Gefühl mißtraut, es gar belächelt; wer in Deutschland Vorstellungen und Wünsche an Erfahrungen überprüft, gar korrigiert: der ist untreu - wem oder was immer. Die deutsche Ehre heißt Treue.« Wer in Deutschland, in Deutschland, in Deutschland, dem zu recht dreigeteilten, erst feststellt, daß die Bourgeoisie, die es mit den Faschisten trieb, nach 45 lustig weitermachte, und dann findet, daß die Damen und Herren bei näherer Bekanntschaft doch gewinnen; wen das eigene Gefühl die Nazis verabscheuen läßt und wer ihm aus gegebenem Anlaß, weil nämlich die Konjunktur es will, so mißtraut, es gar belächelt: »Wie nobel dagegen der herrische Snobismus eines Gottfried Benn, der nie 'bereute'; die intellektuelle Arroganz eines Ernst jünger, der nichts zurücknahm« - ein so exemplarischer Kommis muß es tatsächlich über sich bringen, Leuten wie mir (denn der dünnlippige Rezensent, dessen Anrufung ein Kraus-Zitat folgt, bin unverkennbar ich) das Koppelschloß der SS »Meine Ehre heißt Treue« anzuheften.( ... )  
Man ist doch überrascht, wie verächtlich bei näherem Betrachten erscheint, was bei flüchtigem Überblättern im Wochenrhythmus nur verdächtig war - und lächerlich. Der Polyhistor, der jedes Datum verwechselt, der Polyglotte, der in allen Sprachen einen Sprachfehler hat, der Literaturkritiker, der kein geflügeltes Wort auf dem andern läßt - die Lust, sie hier vor Ihnen auszustellen, ist fast von der Wut erstickt, die sein unverhüllter Anblick geweckt hat. Aber ich will Sie nicht enttäuschen und Ihnen nach der Gabriele von Luxemburg, deren Gesinnung ein Ornament ist, die Rosa Henkel nicht vorenthalten, deren Ornament die Dummheit ist. Und die beginnt damit, daß einer alles weiß.  
Ich müßte mich erschlagen, hätte ich gewußt, was Pelote ist und wie man das macht. Er weiß es, als wäre er der einzige Baske, kennt die Spielplätze, die Regeln, die Namen aus dem Effeff. Natürlich stimmt nichts: Er sieht Spiele »im« Fronton Municipal, welches aber kein Stadion, sondern bloß eine Mauer ist; seine Regeln verlangen sechs Spieler, weshalb sich die Basken erheblich werden umstellen müssen; die farbigen Bänder, welche die Mannschaften unterscheidbar machen, hält er für Schmuck; Pelote heiße das Spiel nur, wenn es mit bloßen Händen gespielt werde, aber Pelote heißt der Ball und das Spiel mit bloßen Händen einfach main nue, das andere »heißt exakt Chistèra«, weiß er, obwohl das nur eins von zahllosen PeloteSpielen ist und auch der Akzent auf Chistèra exakt falsch. Um eine Anekdote aufzuputzen, läßt er sie vor dem »Supermarkt der Mainstreet von Idaho« spielen, welches keine Stadt ist sondern ein Staat, den keine Mainstreet durchquert. Er verwechselt Dialektik mit Didaktik, schreibt Adorno ein Zitat zu, das von Lukács stammt, besteigt mit Eckermann den Intercity, um Schreber im falschen Jahrhundert zu besuchen, schreibt von der »Suche nach einer temps perdu«, die aber auch bei Proust keine Röcke trägt, sagt »les jeux sont faites«, damit Sartre, der »faits« gesch ieben hatte, wenigstens nach seinem Tode noch französisch lernt, macht aus dem Genitiv von quartus ein »quartii«, weil es ja auch tertii heißt. ( ... )  
Nun erweist sich ein echter Kosmopolit aber nicht schon daran, daß er keinen amerikanischen Staat, kein französisches Geschlecht und keinen lateinischen Fall an ihrem Platz läßt, sondern er darf auch nicht deutsch können: »Ein Wort-Kordon, der das Reale fortschiebt, Unruhe aussiebt« hat's ja schon schwer, aber der »optimistische Ton-Zuckerguß«, der »Ängste wegbimmelt« ist auch nicht zu beneiden, und vor allem dann nicht, wenn er das »in einer Art ständig widerlaufendem Kontinuum« tun muß, bis zu einem »Datum«, das »ein geschichtliches Fixativ« ist (er meint natürlich einen Fixpunkt - aber klingt das, bimmelt es?). Auch wird »die Thomas Mannsche Ironiehaltung fortgeschraubt«, bis man offenen Mundes vor der Erkenntnis steht: »Der gesamte Bau des Buches führt diese Wucherung vor, ein sich immer stärker einwachsendes Nachdenken über moralische Hohlräume und historische Widerläufigkeiten.« Der zweite Teil des letzten Wortes hat's: Diese Sprache ist immer wieder von großer Läufigkeit. Seine Aufsatzsammlung preist unser Kandidat als »ein Eingestehen von Umgang.... vielfach gebrochen, gespiegelt, vom Echo verführt und vom Bild verleitet..., ein Teilchen der eigenen Phantasien, Wünsche, Hoffnungen, Ängste... ein zugleich leidenschaftliches wie behutsames, aggressives wie liebevolles Buch«, gleichermaßen hilfreich bei Senkfüßen wie Haarausfall. »Wer sich durch ein Bild tastet - ob die höhnische Zeremonie von Las Meninas, die Faunen-Lockung der Suite Vollard oder die Verfinsterung des Mark Rothko - sucht immer auch sich« - im Literaturlexikon. Einmal ist ein Werk »immer auch Verlangen, Tun, Denkbild, Stoff«, dann wieder ist es »Einfluß, Gegenpol oder Folie«. Immer kommt es zu etwas, was sich in einem Wort nicht sagen läßt, nämlich zu »Nähe, Berührungen, Polemik, Entfernung« oder zu »Verletzungen, Verkrochenheit, Verwerfungen« oder gar zu »Entfernung, Verwüstung, Eis, Angst«, denn wie der Kirmesgast vor den Blechbüchsen hat auch der dumme August vorm Rezensionsexemplar immer drei Würfe, um nicht zu treffen. Er schreibt: »Brechts Satz 'Es gibt Menschen, die haben kein Recht darauf, Recht zu haben' ist umkehrbar.« Er tut es auch, und man denkt, das müsse ganz leicht sein. Es gibt Menschen, die ein Recht darauf haben, nicht Recht (oder Unrecht) zu haben. Er nun aber: »Es muß Menschen geben dürfen, die ein Recht darauf haben, nicht Recht zu haben.« Bemerkt man den Schwindel? Die Einführung der sozialdemokratischen Weinerlichkeit in einen Brechtschen Gedanken? Das Randgruppen-Pathos eines verunsicherten Schmocks, der bei der Administration um Gnade bittet? ( ... )  
Vor Jahren hat der Kandidat geschrieben oder schreiben lassen, ich sei »der Erfinder der Möglichkeit, Artikel mit Tesafilm zu schreiben statt mit Tinte«. Der hohen Ehre, die solches Wort aus solchem Mund bedeutet, will ich mich zum Schluß noch einmal würdig erweisen, nicht ohne anzumerken, daß die Verwendung von Tesafilm statt Tinte vor dem Verhunzen von Zitaten schützt und auch weniger schmiert.  
»Nie war der Weg von der Kunst zum Publikum so weit; aber nie auch hat es ein so künstliches Mittelding gegeben, eins, das sich von selbst schreibt und von selbst liest, so zwar, dafl sie alle schreiben und alle verstehen können und bloß der soziale Zufall entscheidet, wer aus dieser gegen den Geist fortschreitenden Hunnenhorde der Bildung jeweils als Schreiber oder als Leser hervorgeht. Die einzige Fähigkeit, die sie als Erbteil der Natur in Ehren halten: von sich zu geben, was sie gegessen haben, scheint ihnen auf geistigem Gebiet als ein Trick willkommen, durch den es gelingen mag, zwei Verrichtungen in einer Person zu vereinigen, und nur weil es noch einträglichere Geschäfte gibt als das Schreiben, haben sich bisher so viele unter ihnen Zurückhaltung auferlegt und begnügen sich damit, zu essen, was die anderen von sich gegeben haben... Zwischen Autor und Leser (ist) kein Unterschied. Es gibt bloß noch Einen, und das ist der Feuilletonist. Die Kunst weicht vor ihm zurück wie der Gletscher vor dem Bewohner des Alpenhotels. «  
Den Karl Kraus-Preis 1986 erhält der Feuilletonist und Literaturprofessor Raddatz.

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