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Die Abstiegsgesellschaft

22.06.2017 16:08

Am 10. April 2017 stellte Oliver Nachtwey im Hamburger Polittbüro sein viel gelobtes Buch Die Abstiegsgesellschaft vor. Thomas Ebermann fragte an diesem Abend nach, bezweifelte, kritisierte. konkret dokumentiert im folgenden eine redaktionell bearbeitete Passage aus Thomas Ebermanns Kritik.   

Oliver Nachtwey hat ein Buch geschrieben (Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Suhrkamp), mit dessen verallgemeinerten Schlussfolgerungen und politischen Positionierungen ich nicht einverstanden bin – denen ich widerspreche. Zugleich ermöglicht das Buch Einblicke und Erkenntnisse, die wertvoll und belehrend sind und als empirisches Material mein Wissen über die Gesellschaft erweitern.

Die Nebeneinanderexistenz von Kernbelegschaft, Leiharbeitern und Zulieferern zum Beispiel finde ich nirgends besser beschrieben. Da er ein recht ehrlicher Wissenschaftler ist, liefert Oliver Nachtwey zugleich Material, das gegen seine Verallgemeinerung in Stellung gebracht werden kann, also immanente Kritik ermöglicht. Diese will ich heute an ausgesuchten Beispielen pflegen. Dennoch bitte ich das Fundament unserer Differenz immer mitzudenken. Es geht um Folgendes: Oliver Nachtwey schreibt (verständnisvoll, zustimmend, affirmativ), die „frühere Arbeiterbewegung“ focht verallgemeinerte Kämpfe um rechtliche, politische und soziale Anerkennung aus – und ihre „klassische Parole“ lautete: „Ein gerechter Lohn für ein gerechtes Tagewerk“.

Für mich steckt in beidem, ganz speziell in der „klassischen Parole“, der Weg der Erniedrigung des Proletariats zum „kleinen Mann“, zum fleißigen, um Anerkennung bettelnden Staatsbürger. Es ist die Preisgabe des Traums, den Zustand des Privateigentums an Produktionsmitteln abzuschaffen und also auch die Lohnarbeit, die große menschheitsgeschichtliche Erpressung. Es ist aber noch mehr, es ist auch so etwas wie der endgültige Sieg über die Sehnsucht, die Arbeit zu minimieren, sie ganz anders zu gestalten, sie der Tendenz nach abzuschaffen. Beides war einmal in der Welt. Das zweite in viel geringerem Ausmaß als das erste.

Wenn man das in ein Bild, eine historische Analogie packen will, steht Oliver Nachtwey in den Fußstapfen von Ferdinand Lasalle, er ist in der Tradition des Gothaer Programms, und ich bemühe mich, jedenfalls intellektuell, die Kritik an ihm zu pflegen und die fast gänzlich verschüttete Tradition der „anderen Arbeiterbewegung“ also der Leistungsfeindlichkeit - gegen Arbeit und Arbeitsethos gerichtet - für die vielleicht Paul Lafargue und sein Plädoyer für das Recht auf Faulheit steht, aufrechtzuerhalten.

So viel zum Prinzipiellen.

Meines Erachtens ist Oliver Nachtweys Behauptung, die „soziale Frage käme in der Politik fast nicht mehr vor“ – viele ihn lobende Rezensenten haben geschrieben, er durchbreche das Beschweigen sozialer Ungerechtigkeiten – ganz falsch. Sie kommt vor, ist allgegenwärtig, zahllose Talkshows widmen sich der Frage, ob und wie ungerecht unsere Gesellschaft ist, ob es verdammungswürdige Auswüchse gäbe etc. Wenn man sagt – das ist mein Standpunkt - gesellschaftliche Stabilität wird (auch) hergestellt über die Definition legitimer Diskussionen, dann ist die Gerechtigkeitsfrage (so wie sie thematisiert wird) akzeptierter Bestandteil davon.
Wer da nicht mitmachen kann oder will, ist entweder (sollte er gesellschaftliche Kampfkraft repräsentieren) gefährlich oder eben abgehoben, weltfremd, nicht bei den Menschen, Verächter des Graduellen, der kleinen Verbesserung.  

Wenn der berühmte Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband gegen Professor Clemens Fuest vom Ifo-Institut aufläuft („Unter den Linden“) und das Thema lautet: „Was ist soziale Ungerechtigkeit? Wird Deutschland immer ungerechter?“, dann artikuliert Herr Schneider vielleicht in vielen Punkten keine Mehrheitsmeinung der Deutschen, aber er ist keineswegs isoliert, wenn er so etwas sagt, wie, er habe nichts gegen Ungleichheit, aber die müsse nachvollziehbar sein, sonst werde sie ungerecht. Es gehe ihm um das Lohngefälle zwischen Krankenschwester und Chefetage. Konfrontiert mit der berühmten Moderatoren-Gretchenfrage, wie viel denn ein Erfolgsmensch seiner Ansicht nach verdienen dürfe, antwortet er, jeder könne so viel verdienen wie ihm möglich ist, aber eben nicht netto, sondern gerecht besteuert.

Die größte Zustimmung, vermute ich, genießt Schneider, wenn er fordert, wir müssten wieder mehr die anerkennen, die nicht nur wegen des Geldes arbeiten. Überhaupt ginge es um Anerkennung, Respekt, Würde.

Herr Schneider sagt viel Richtiges, Zutreffendes bezüglich Mini-Jobs, Leiharbeit, befristeter Arbeitsverhältnisse, Hartz IV, des Armutsbegriffs, der Working-Poor, Aufstocker, und so weiter. Um sich nicht aus dem als legitim geltenden Diskurs herauszubegeben, kann - oder will - Herr Schneider Bestimmbares nicht sagen. Er kann zum Beispiel nicht Partei ergreifen für Florida-Ralle und alle Sozialbetrüger. Er muss den hart arbeitenden Menschen, bzw. den zur harten Arbeit bereiten Menschen zum Ideal stilisieren. Er setzt in gewisser Weise das, was ich für widerlich halte: den tränenreichen bürgerlichen Applaus am Ende jeder Aufführung des Hauptmann von Köpenick, der jede Arbeit annehmen wollte, auch sonst ein vorbildlicher Armer ohne Anspruchsdenken war und dem keine Chance gegeben wurde.


Und er muss die Vokabeln Respekt, Anerkennung und Würde bemühen, die zynisch sind in einer Gesellschaft, in der alles Ware, also in Geldform ausgedrückt ist. Es kostet seinen Antipoden, Herrn Fuest, nichts, zum Ausdruck zu bringen, dass er immer alle Putzkräfte und Pflegekräfte dieser Welt respektiert, anerkannt und gewürdigt habe.
Es ist das Hohnlachen, das in der schmalzigen Rede des Chefs steckt, der einen langjährigen Mitarbeiter in den Ruhestand verabschiedet und auch noch dankt für 30 Jahre aufopferungsvolle Tätigkeit. Alle wissen, dass hier ein Nichts, ein durch einen Nachfolger ersetzbares Nichts verabschiedet wird. Jedes Wort des Chefs ist Verachtung und erscheint als Wohlwollen.

Ich glaube, ich habe soeben den Kern des Martin-Schulz-Booms skizziert:
In der Substanz alles so lassen, wie es ist, Marginalien an der Agenda 2010 ändern und oft von Würde und Gerechtigkeit reden, die dem hart arbeitenden und auch noch ehrlichen Menschen gebührt.

Ich will mich gleich der Frage zuwenden, ob Oliver Nachtweys Befund, wir lebten in einer Abstiegsgesellschaft und – allgemeiner - man müsse die soziale Moderne (eine Epoche vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 70er Jahre) von der regressiven Moderne (die wir heute vorfinden) qualitativ unterscheiden.

Dem Kapitalismus wohnen meines Erachtens zwei Charakteristika inne: Er ist einerseits dynamisch, wälzt die Produktivkräfte und Lebensweisen (wie wir sinnlich und analytisch wahrnehmen können) in gigantischem Ausmaß um. Und er ist Formation des Immergleichen, wenn es um seine Grundstruktur, oder seine „Gesetzmäßigkeiten“ geht; also etwa der Zweck des Produzierens die Profiterwartung – aus Geld mehr Geld zu machen – ist.

Der dogmatische oder kanonisierte Marxismus, der heute kein großer Faktor mehr ist, ist mit diesen beiden Charakteristika so umgegangen, dass die wirklich fundamentalen Veränderungen geleugnet wurden oder gewaltsam in die bestehende, sozusagen eherne, Doktrin hineingepresst wurden. Wenn die Verelendung nicht stattfand, erfand man die kleine Verelendung.

Etwa wenn Marx – nach großer intellektueller Anstrengung bei der Analyse des Kapitalismus seiner Zeit, der einer ohne Monopol war, zu der Auffassung gekommen war, die Verelendung sei eine unausweichliche Tatsache und dann aber die konsumtiven Möglichkeiten auch des Proletariats wuchsen, erfand man den Begriff der relativen Verelendung. Der Begriff ist eine Absurdität, denn eine Verelendung ist eine Verelendung, ist eine Verelendung und keine Relation zum Reichtum anderer.

Die Soziologie hingegen, wo sie positivistisch ist und Lebenslagen, Gewohnheiten, Schichten und Status erforscht, neigt bei Vernachlässigung der die Gesellschaft strukturierenden Elemente zur Ausrufung immer neuer Epochen.
 Adorno, der die beiden Schulen kritisierte, forderte:
„Das Neue erkennen bedeutet nicht ihm und der Bewegtheit sich einzuschmiegen, sondern ihrer Starrheit widerstehen“, den Marsch der welthistorischen Bataillone als Treten auf der Stelle zu erraten. Denn: “Nur wer das Neueste als Gleiches erkennt, dient dem, was verschieden wäre.“(„Reflexionen zur Klassentheorie“)

Daraus ziehe ich eine gewisse Ablehnung (modischer) soziologischer Befunde, die manchmal einfach Quatsch sind, manchmal nicht irrelevante Phänomene zur Erklärung des Ganzen hochjazzen. Also: Industriegesellschaft (statt Spätkapitalismus) Mittelschichtsgesellschaft (Verschwinden der Klassen), Dienstleistungsgesellschaft, Freizeitgesellschaft, Spaßgesellschaft, postmaterialistische Gesellschaft, digitale Gesellschaft, Risikogesellschaft, Postfordismus, Externalisierungsgesellschaft. Nun also die Abstiegsgesellschaft. Ich glaube, immanent gesprochen, der Begriff Abstiegsgesellschaft steht dem präsentierten empirischen Material in gewisser Weise im Wege.

Nicht dass ich an dieser Gesellschaft irgend etwas besser fände, erträglicher als Oliver Nachtwey. Eher im Gegenteil. Ich möchte verstehen, warum 80 Prozent der Befragten zu Protokoll geben, es gehe ihnen wirtschaftlich gut. Das steht in Kontrast zum Begriff Abstiegsgesellschaft. Nun kann man sagen: Thomas! Bitte! Du glaubst doch sonst auch der Meinungsforschung nicht. Das stimmt. 80 Prozent der Verheirateten behaupten, ihre Ehe sei glücklich. Ich muss das nicht glauben, und wenn ich zur Feierabendzeit U-Bahn fahre und die erschöpften, harten Gesichter betrachte, können die Menschen mich so viel sie wollen mit Sequenzen des glücklichen Bewusstseins volllabern - ich glaube das nicht.
Aber, der Widerspruch bleibt.


Diesbezüglich lese ich bei Oliver Nachtwey unter anderem: Grob gesagt verdienen alle Lohnabhängigen so viel wie 1991, das bedeutet auch, alle Lohnabhängigen verdienen im Durchschnitt 25 Prozent mehr als 1971. Die Ungleichheit (Lohnquote) hat sich seit 2005 nicht vergrößert, seit dem Jahr 2000 hat sich die Armut nicht vergrößert (wohl aber verfestigt), seit 2007 wächst der Anteil der Prekären nicht, Kernbelegschaften sind in den letzten zehn Jahren nicht abgeschmolzen. Das obere Segment der Mittelschicht erlebt praktisch keine Abstürze usw.
Und das kombiniere ich mit zwei Schlüsselzitaten:

a) „Insgesamt liegt die Anzahl der Aufstiege nach wie vor um ein Mehrfaches über den Abstiegen.“

b)  „Für breite Teile der Mittelschicht hat (...) nicht die reale Bedrohung, sondern maßgeblich die Sorge vor dem Absturz zugenommen.“

Wo keine reale Bedrohung vorliegt, ist die Angst ein Berufungstitel oder eine Ausrede, um die Solidarität mit den Schwachen (die es womöglich niemals gab) demonstrativ aufzukündigen; selbst zu verrohen und nach unten zu treten und von der Politik zu fordern, sie möge die Aussortierten, Chancenlosen noch mehr als ohnehin drangsalieren.

Es ist zutreffend, dass dieses niederträchtige Segment der Mittelschicht sich durch Selbstoptimierung, Arbeit am Alleinstellungsmerkmal, Self-Empowerment, lebenslanges Lernen – natürlich auch durch dem Durchhalten dienende Drogen im Kampf gegen Depression und Burnout - sich selbst Unsägliches antut.
Man möge sie „leidende Täter“ nennen, aber das Wort Täter kommt in diesem Begriff vor. Es ist die Unfähigkeit zur Empathie, die sich übrigens auch darin ausdrückte, dass Schäubles Beliebtheitswerte so rasant anstiegen, als er zur Personifizierung des Guten gegen die Griechen wurde.

Natürlich habe ich soeben nur eine fotografische Momentaufnahme gemacht. Fragte man mich prognostisch, müsste ich sagen, ich erwarte beziehungsweise halte es für unverhinderbar (also jenseits der Frage Keynes versus Neoliberale), dass ein größeres als das heutige Segment der Gesellschaft verarmen wird.

Dafür spricht einmal das empirische Material (das zum Beispiel das Ausmaß zukünftiger Altersarmut anzeigt), zweitens die begründete Erwartung neuer Krisenschübe durch weltpolitische Entwicklungen, die den deutschen Export schmälern dürften, und auch die sogenannte Euro-Krise ist alles andere als überwunden. Auch Oliver Nachtwey reflektiert ja den Zusammenhang von tendenziell fallender Profitrate und relativ langanhaltender Wachstumsschwäche in den ehemals uneingeschränkt führenden Industrienationen, die erstmals echte, aufstrebende Konkurrenz zum Beispiel durch China erfahren, was eine epochale Veränderung ist.

Oliver Nachtwey betont oft genug, dass früher nicht „alles besser war“ und dass er eine Rückkehr in die „soziale Moderne“ für nicht machbar und auch so pauschal nicht für wünschenswert hält. Er will selbstverständlich weder, dass aus Migranten wieder „Gastarbeiter“ werden oder die Frauen an den Herd zurückkehren oder alle Momente von Zivilisierung beziehungsweise Modernisierung, die der Zeit nach 1975 innewohnen, zur Disposition gestellt werden.

Dennoch beschreibt er die „soziale Moderne“ meines Erachtens falsch oder jedenfalls anders als ich, unterscheidet sie (trotz aller Einschränkungen) qualitativ von der regressiven Moderne und sieht nicht, dass die eine Etappe kapitalistischer Entwicklung auf der anderen aufsitzt - das Neue im Alten enthalten war. Er zitiert den so viel Erkenntnis enthaltenden Satz aus der Dialektik der Aufklärung: „Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression.“ Ohne dass dieser Satz für seine Sicht auf die „soziale Moderne“ konstitutiv werden würde. Ich will das gleich an einem längeren Zitat beweisen. Zunächst die (übereinstimmende) Feststellung: Wenn der Kapitalismus das Versprechen auf steigenden Konsum, Verkürzung der täglichen, wöchentlichen und Lebensarbeitszeit und Aufstiegschancen für die unteren Schichten ist bzw. war, dann fand dieses Versprechen für eine Periode Einlösung.

Was sich hinter der Steigerung der Reallöhne zwischen 1950 und 1960 um 69 Prozent und der zwischen 1960 und 1969 um 47 Prozent verborgen hat, habe ich als Kind und Heranwachsender in Form von Feierstunden aus Anlass der Anschaffung eines Konsumgegenstandes (Fernseher, Kühlschrank, der erste Pkw) sinnlich erlebt.
Meine Großeltern lebten bis zum Tod meines Großvaters (1968) ohne warmes Wasser aus der Leitung, der Besitz eines Pkw war ihnen unvorstellbar; Restaurantbesuche oder Urlaube waren nicht denkbar. Proletarische Bescheiden- und Genügsamkeit eben. Messe ich sie am Kontostand ihres Sparbuchs, dann waren sie Aufsteiger – was ein absurder Begriff ist.

Meine Eltern (Mutter Schneiderin an der Staatsoper; Stiefvater erst Maurer, dann Meisterprüfung, Scheitern als Kleinunternehmer und schließlich Angestellter der Baubehörde) haben durch eine unfassbare Anhäufung von Entsagungen und unüberschaubare Überstunden ihren Traum, ein Einfamilienhaus zu besitzen, schließlich erfüllt. Sie hatten auch Telefon, einen Pkw und machten zwei Wochen im Jahr Urlaub an der Ostsee.

Mein erster, ursprünglicher Impuls der Rebellion gegen das Bestehende war die abgrundtiefe Angst bei dem Gedanken daran, mein Leben könne ähnlich verlaufen. Man würde dann alles, wirklich alles verpassen. Ich bestreite also nicht, dass meine Eltern in diesem sogenannten Fahrstuhl waren (aufstiegen), aber sie wurden beziehungsweise haben sich ums ganze Leben betrogen.

Eine entscheidende Frage, wenn es um die Charakterisierung der deutschen Gesellschaft der „sozialen Moderne“ oder der sogenannten Wirtschaftswunderzeit geht, lautet für mich: Wer konnte den (unbestreitbaren) subjektiven Optimismus der Massen - das von Herbert Marcuse sogenannte „glückliche Bewusstsein“ - nicht teilen? Wer war in der Hölle der Gesellschaft im Überfluss? Da waren alle, die das ihnen oder ihren Angehörigen vom Nationalsozialismus Angetane nicht vergessen konnten. Jean Améry hat auch in Romanform thematisiert, was es heißt, in einer Gesellschaft, die einen sozialen Aufstieg erlebt und unfähig ist zu trauern, die Freude am Wirtschaftswunder nicht teilen zu können. Eine Gesellschaft, die nur unter einer Bedingung ihre Treue zum Führer, die sie sich im Mai ´45 vorgenommen hatte, relativierte: dass die Demokratie die Aufgabe hat, wachsenden Konsum zu organisieren.

Ebenfalls befanden sich in dieser Hölle die Insassen der Einrichtungen für schwererziehbare Jugendliche, die psychisch Kranken mit ihrer Unfähigkeit ihren Protest zu artikulieren, die verurteilten Schwulen, die vollkommen rechtlosen Prostituierten, die legal vergewaltigten Gattinnen. Und da waren auch die Gastarbeiter, denen Diskriminierung und ein allgegenwärtiger proletarischer Rassismus begegnet ist. Yüksel Yavuz hat diese Generation mit seinem großartigen Film „Mein Vater, der Gastarbeiter“ ein Denkmal gesetzt. Meine Liste ist unvollständig, das weiß ich.

Ich komme zurück zur Mehrheit. Das Zitat aus dem Buch Abstiegsgesellschaft, das ich kritisch besprechen will, lautet so: “In der sozialen Moderne wurde die Lohnarbeit dem Druck der Märkte teilweise entzogen und humanisiert. Die Etablierung des Normalarbeitsverhältnisses war ein bedeutender Schritt für die Arbeitnehmer, denen es nun in viel größerem Maße möglich wurde, ihr Leben selbst zu gestalten.“

Erstens: Die hier aufgestellte Behauptung einer Tendenz der Humanisierung der Lohnarbeit ist unzutreffend. Sie wurde verdichtet, durch immer neue Akkordvorgaben und sogenannte wissenschaftliche Methoden zergliedert, effektiver gemacht – und der arbeitende Mensch diesen Vorgängen gewaltsam angepasst. Alle sozialkritische Publizistik und Forschung der 70er Jahre ist Zeuge meiner These.

Ich war sechs Jahre meines Lebens ungelernter Industriearbeiter und zwei Jahre davon stand ich – im Drei-Schichten-Rhythmus - an einem Rondell, mit dem alle 17 Sekunden ein Turnschuh produziert wurde. Wir arbeiteten daran zu zweit. Einer musste das Leinen auf eine stählerne Prothese binden, diese tauchte dann in eine Form ein, in der die Plastikmasse, die die Sohle und die Schuhkappe bildete, hineingespritzt wurde. Der andere nahm den fertigen und sehr heißen Schuh ab.

Alle 17 Sekunden die gleichen Handgriffe, die man in der ersten Zeit nach der Einstellung für nicht zu schaffen hielt, die einem dann aber doch so in Fleisch und Blut übergingen, dass vom Refa-Mann (so hießen damals die Fachkräfte für das Aufspüren von Leistungssteigerung) ermittelt wurde, dass wir für den Arbeitsvorgang nur noch 14 Sekunden benötigten. Diese drei Sekunden „Nichtstun“ auszulöschen, war die Ambition – also die Intensivierung der Ausbeutung. Das war allgegenwärtig.

Ich nehme jetzt mal alle Verdichtungen der Arbeit aus meiner Argumentation heraus, um die Frage aufzuwerfen, ob bei einer solchen (oder ähnlichen) Tätigkeit von einem „Sein-Leben- selbst-Gestalten“ gesprochen werden kann. Natürlich nicht. Ganz undenkbar ist, dass ich bei Fortsetzung dieser Plackerei auch nur entfernt der Mensch, der ich geworden bin (mit theoretischen und literarischen Interessen, sinnlichen Fähigkeiten/Verstümmelungen, Bedürfnissystem), hätte werden können. Die Übermacht der materiellen Verhältnisse hätte mich niedergedrückt und geformt. Nicht alle Lohnarbeit war so, wie die von mir geschilderte – ich weiß. Gemessen an heute wiesen mehr Arbeitsplätze eine geringere Verdichtung der Arbeit auf – auch das weiß ich. Man kann es zum Beispiel in dem Buch Ein halbes Leben. Biografische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch und aus der erinnernden Beobachtung schöpfen; schon wenn man den damaligen Briefträger und sein Arbeitsquantum mit dem heutigen oder die damalige Verkäuferin mit der heutigen Frau an der Supermarktkasse vergleicht; ganz zu schweigen von einer Besichtigung des Norddeutschen Rundfunks im Jahre 1975 und heute. Man sah damals noch selbstbewusste, um ihre Rechte wissende Tontechniker und Kameraleute, heute ein Gewusel der Freien, das einen wuschig macht.

Die Differenz in der Lebenserwartung der Männer der unteren Schichten der heutigen Gesellschaft im Vergleich mit den Bessergestellten liegt bei rund zehn Jahren – das drückt aus, was Klassengesellschaft ist. Die Differenz in der Lebenserwartung der Kumpels unter Tage - sagen wir um 1917 - zur durchschnittlichen war noch größer. Und das verbietet alle Romantisierung der keynesianischen Epoche.

Die kritische Theorie jener Zeit konstatiert, dass die Massen kein bisschen „ihr gesellschaftliches Schicksal mehr in der Hand hätten als vor 120 Jahren“. Sie seien, sagt Adorno weiter in seinem Einleitungsvortrag zum Soziologentag von 1968, „Objekte, nicht Subjekte des gesellschaftlichen Prozesses, den sie doch als Subjekte im Gang halten“.
Oder Herbert Marcuse, von dem Oliver Nachtwey schreibt, sein „Eindimensionaler Mensch“ sei eine „paradigmatische Form der Künstlerkritik“ (S. 83) stellt fest: „Mit dem technischen Fortschritt als ihrem Instrument wird Unfreiheit – im Sinne der Unterwerfung des Menschen unter seinen Produktionsapparat – in Gestalt vieler Freiheiten und Bequemlichkeiten verewigt.“

Es geht um eine wachsende, nicht einmal nur konstante Unfreiheit.
Worüber ich mich empöre, ist, dass eine Schrift, die mit jeder Zeile gegen das Funktionieren in der Marktwirtschaft rebelliert (und nach Spuren des Widerständigen sucht) unter dem Label der Künstlerkritik in die Nähe gerückt wird zu Positionen, die das bessere Funktionieren unter den Bedingungen der „flachen Hierarchie“ oder kommunikativer Chefs, die man zur Strafe auch noch duzen muss, apologisieren.

In so einem Buch wie Wir nennen es Arbeit ist das totale marktwirtschaftliche Subjekt, das keine Festanstellung und keinen Tarifvertrag zu haben mit Freiheit und Selbstverwirklichung verwechselt, idealisiert. Wenn Oliver Nachtwey schreibt, die Künstlerkritik (also auch Marcuse) hätte die „auf vertikale Ungleichheit zielende Sozialkritik der Gewerkschaften“ neutralisiert, beziehungsweise zu neutralisieren geholfen, dann liegt darin – gelinde gesagt -die Gefahr eines doppelten Verschweigens.

Erstens gab es tatsächlich einmal proletarische Minoritäten, die von der Kritik der kapitalistischen Produktionsweise erreichbar waren, die es etwa bei Fiat in Turin ganz gut fanden, durch Sabotage die Fließbänder zum Stehen zu bringen und auch sonst für manchen Schlendrian zu haben waren; ja, die vielleicht sogar den Prozentsatz der Lohnerhöhung im Verhältnis zur Tortur am Fließband zweitrangig fanden. Im Frankreich der früheren 70er Jahre ist Arbeitsunlust, Gleichgültigkeit gegenüber Qualität und Ausschussware, Unpünktlichkeit, Disziplinlosigkeit unter jungen Arbeitern jedenfalls so weit verbreitet, dass Politik und Unternehmerverbände das als relevantes, auf Produktivität und Profit drückendes Phänomen zu behandeln gezwungen sind. 1968 wirkte – ohne dass ich das übertreiben will - eine Zeitlang nach.

Das zweite Beschweigen impliziert eine Art Freispruch der (deutschen) Gewerkschaften. Meine Gegenthese lautet: DGB- Gewerkschaften (und Betriebsräte) haben aus eigenem Antrieb, als Träger und Gefangene sozialpartnerschaftlichen Denkens, als stolze Verkörperung des Ideals des sozialen Friedens, als sozialdemokratische Befürworter deutscher Siege in der Weltmarktkonkurrenz, als um den Profit des Betriebs besorgte Kräfte selbst sehr viel zur Rationalisierung und Verbilligung der Ware Arbeitskraft beigetragen; etwa durch ihre Zustimmung zur Verwandlung ehemals festangestellten Kantinenpersonals, des Werkschutzes, der Fuhrpark- und Reinigungskräfte in schlechter bezahlte Dienstleister. Oder wie man heute sagt: in Prekäre. Mit dieser Feststellung bin ich kein verträumter Künstler.

Winziger Nachtrag:

Vielleicht der wichtigste, jedenfalls ein sehr wichtiger Antipode von Oliver Nachtwey in der Zunft der Soziologen ist der Vorsitzende ihrer Gesellschaft, Stephan Lessenich mit seinem Buch Neben uns die Sintflut. Er wirft der ganzen Richtung, der Oliver Nachtwey angehört, „methodologischen Nationalismus“ vor: eine unangebrachte Konzentration auf die soziale Fragmentierung innerhalb der reichen Industrienationen des Nordens. Gemessen an den Ungleichheiten und Lebensweisen zwischen globalem „Norden“ und „Süden“, seien die Ungleichheiten innerhalb der reichen Gesellschaften gering, unbeachtlich, Bagatellen. Es sei deshalb gerechtfertigt, alle Teile der westlichen Gesellschaft unter den Begriff „Wir“ zu fassen – also Bourgeoisie und Proletariat, Putzfrau und Hotelbesitzer, Hartz-IV-Empfänger und Wohlstandsbürger. Das teile ich nicht.

Zugleich ist das empirische Material von Lessenich, das seine Feststellung, dass die Probleme der reichen Gesellschaften in das Inferno der armen Regionen ausgelagert werden – daher ja sein Schlüsselbegriff Externalisierungsgesellschaft – beeindruckend. Ich bin nicht (uneingeschränkt) auf Lessenichs Seite, empfinde es aber gleichwohl als Mangel von Olivers Abstiegsgesellschaft, diesen Zusammenhang fast gänzlich auszublenden.

So etwas, was früher einmal Engels und Lenin „Arbeiteraristokratie“ genannt haben, also dass es Profiteure der Ausbeutungsverhältnisse zwischen Zentrum und Peripherie gibt. Diese Ausbeutungsverhältnisse und der Wunsch, sie zu konservieren, prägt das Bewusstsein von Millionen; anders ist die Gelassenheit, mit der das Ertrinken im Mittelmeer akzeptiert wird, nicht zu erklären.

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