29.04.2013 11:13
Noch bis zum 30. 6. gibt es in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme die Sonderausstellung "Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg" zu sehen (http://www.kz-gedenkstaette-neuengamme.de/index.php?id=3335). In KONKRET 11/2005 rezensierte Jörg Später das Buch »Unsere Opfer zählen nicht«. Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg, das sich mit dem Leiden und dem Widerstand der Kolonialisierten im Zweiten Weltkrieg auseinandersetzt.
Am 8. Mai 1945 – am Tag der Befreiung in Europa – gingen in den algerischen Städten Constantine, Guelma und Sétif die Menschen auf die Straße, um für die Unabhängigkeit zu demonstrieren, die Algerien von de Gaulle versprochen worden war. Nachdem es zu Auseinandersetzungen mit französischen Siedlern gekommen war, richtete die französische Armee ein Massaker an algerischen Zivilisten mit Zehntausenden von Toten an. Der 8. Mai, in Frankreich bis heute ein nationaler Feiertag, ist in Algerien ein Tag der nationalen Trauer. Die Kolonien Frankreichs und Großbritanniens gehörten zwar zu den alliierten Siegermächten, nicht aber zu den Gewinnern des Zweiten Weltkrieges. Dies verdeutlicht das Buch »Unsere Opfer zählen nicht«. Den kolonisierten Ländern wurde nicht nur die Freiheit nach dem Krieg zunächst vorenthalten, sie mußten während des Krieges kriegswichtige Rohstoffe abgeben und Millionen Soldaten und Zwangsarbeiter für die alliierten Streitkräfte stellen. Der Krieg forderte zudem in der Dritten Welt Millionen Opfer – in China starben mehr Menschen als in den Ländern der faschistischen Achsenmächte zusammen.
Diesen humanen und wirtschaftlichen Kosten stellt das Buch ein Verdienst gegenüber: Ohne den Beitrag der Kolonialisierten hätte der Zweite Weltkrieg einen anderen Verlauf genommen und die Befreiung der Welt von Nationalsozialismus, Faschismus und japanischem Großmachtwahn wäre schwieriger geworden. Dieses Verdienst wiederum hat bis heute keine gebührende Anerkennung gefunden – von Entschädigungen und Reparationen, vor allem von Seiten Deutschlands, Japans und Italiens, ganz zu schweigen.
Dem Versäumnis der Geschichtsschreibung verschafft diese Darstellung der Dritten Welt im Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive der Kolonialisierten Abhilfe: Erstens wagt sich das Autorenkollektiv trotz mangelnder wissenschaftlicher Forschung an ein Überblickswerk, das sowohl die großen politischen Themen wie die Zwangsprostitution für Japan als auch die Geschichte »von unten« einfängt. Zweitens widersteht das Buch der Schwarzweißmalerei, das in den »Opfern« nur diskriminierte und ausgebeutete, somit zu bedauernde Objekte erblickt. Trotz der »Opferperspektive« wird schnell klar, daß »Opfersein« Unterschiedliches bedeutete und daß es unter den Opfern viele Handelnde und auch »Täter« gab – sogar Kriegsverbrecher wie den Großmufti von Jerusalem. Die Autoren zeigen darüber hinaus Zusammenhänge zwischen Kollaboration und autoritären Nachkriegsregimen in der Dritten Welt auf – und lassen keinen Zweifel daran, daß die Unrechtmäßigkeiten der Alliierten innerhalb eines rechtmäßigen Krieges geschaften. Drittens schließlich besticht die ansprechende Mischung aus Ereignisgeschichte, Alltagsgeschichte, Illustrationen und Dokumenten.
Rheinisches JournalistInnenbüro: »Unsere Opfer zählen nicht«. Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg. Assoziation A, Berlin/Hamburg 2005, 444 Seiten, 29,50 Euro
- Jörg Später -
Ins Archiv der konkret-News geht es hier entlang.