Aktuelles

tl_files/hefte/2019/abo919start.jpg

To watch this video, you need the latest Flash-Player and active javascript in your browser.

Tomayers Video-Tagebuch

No-Go-Area Deutschland

Filmkritiken

Termine

Aus aktuellem Anlass

»Die EU und insbesondere Deutschland profitieren von Ungarns hartem Kurs«

25.04.2017 15:49

Demo in Budapest / Foto: FreeRöszke11

 

Wegen Rangeleien zwischen der Polizei und Geflüchteten in Röszke an der ungarisch-serbischen Grenze im September 2015, am Höhepunkt des „Sommers der Migration“, sind elf Personen festgenommen und nach langer Untersuchungshaft im Juli und November 2016 vor dem Bezirksgericht im ungarischen Szeged zu unverhältnismäßig hohen Haft- und Bewährungsstrafen verurteilt worden. Besonders hart traf es dabei Ahmed H., Vater zweier kleiner Kinder, der aufgrund eines an den Haaren herbeigezogenen „Terrorismus“-Vorwurfs und wegen „Rädelsführerschaft“ zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde. An Händen und Füßen gefesselt und an einen maskierten Anti-Terror-Polizisten gekettet, wurde er in den Gerichtssaal geführt.

Das geschieht mitten in der Europäischen Union unter einem völkisch-nationalistischen Regime, in dem Menschen- und Freiheitsrechte massiv eingeschränkt werden. konkret unterhielt sich mit Vertretern und Vertreterinnen einer internationalen Solidaritätsgruppe, die den Fall der „Röszke 11“ skandalisiert, die Betroffenen betreut und für die Aufhebung des drakonischen Urteils gegen Ahmed kämpft.  

 

konkret: Im November vergangenen Jahres rieb man sich ungläubig die Augen: Geflüchtete, die Mitte September 2015 bei Protesten an der serbisch-ungarischen Grenze in Polizeigewahrsam genommen worden waren, wurden zu drakonischen Strafen verurteilt, einer von ihnen, Ahmed H., gar zu zehn Jahren Haft. Wie konnte es zu diesem Urteil kommen?

FreetheRöszke11: Ungarn hatte zum 16. September 2015 eine Gesetzesverschärfung beschlossen, die seitdem das "illegale" Überschreiten der Grenze nach Ungarn unter hohe Strafe stellt. Am selben Tag wurde der erste Grenzzaun fertiggestellt und der Grenzübergang Röszke (Serbien/Ungarn) geschlossen. Bis dahin hatten täglich Tausende Menschen das Land auf ihrem Weg über die Balkanroute durchquert. Die an dem Tag ankommenden Menschen steckten nun an der Grenze fest, warteten zunächst vergeblich auf eine Öffnung des Tores und nahmen das nach langem Warten selbst in die Hand. Die ungarische Bereitschaftspolizei beantwortete das Vorgehen der Flüchtlinge mit dem Einsatz von Tränengas, Wasserwerfern und Knüppeln. Elf Personen wurden willkürlich festgenommen; an ihnen wurde ein Exempel statuiert, sie wurden unter dem Namen "Röszke 11" bekannt. Alle elf wurden monatelang in U-Haft gesteckt. Zehn von ihnen erhielten im Juli 2016 Haftstrafen von bis zu drei Jahren sowie Einreiseverbote für Ungarn. Sie mussten zudem ihre Fingerabdrücke abgeben und absurderweise Asyl in Ungarn beantragen.

Ihnen wird neben dem Grenzübertritt die Teilnahme an Massenunruhen vorgeworfen. Unter den Festgenommenen waren auch ein junger Mann im Rollstuhl und ein altes, krankes Ehepaar – die Eltern von Ahmed H. Er ist die Nummer elf, und ihm wurde "Rädelsführerschaft" bei den Massenunruhen vorgeworfen, weil er im Rahmen der Aktion mit einem Megaphon mehrsprachige Durchsagen machte. Als "Terrorist" wurde er im November 2016 zu zehn Jahren Haft verurteilt, der Staatsanwalt hatte sogar 17,5 Jahre gefordert. Hintergrund der hohen Strafen für die Röszke 11 ist die Kriminalisierung von Geflüchteten als Teil eines Abschreckungspakets, das Ungarn seitdem durchsetzt. Die EU kritisiert die Praxis Ungarns zwar, doch profitiert sie von der Blockade der Balkanroute letztlich selbst massiv. Der Beitrag der EU sind Frontex-Beamte, die zum Grenzschutz in Ungarn angestellt sind.


Wie hat Ahmeds Verteidigung reagiert?

Ahmed hatte einen Pflichtverteidiger, der sich bemühte, Zeuginnen in den Prozess einzuführen, die gesehen haben, dass er mit dem Megafon nicht aufgewiegelt, sondern eher vermittelt hat. Das Gericht hatte jedoch nur diverse Polizisten als Zeugen zugelassen. Auch ein Polizeivideo, das Ahmed in der Situation zeigt, wurde nur ohne Ton abgespielt – so lässt sich natürlich eine Rädelsführerschaft konstruieren.  Wir haben nun einen neuen Anwalt besorgt, der hoffentlich im Revisionsverfahren erfolgreicher ist und die Strafe verringern, also den bizarren "Terrorismus"-Vorwurf entkräften kann.

 

Auf welcher rechtlichen Grundlage ist es denn überhaupt zu dem Terrorismusvorwurf gekommen?

Das Problem ist die Ausweitung des Terrorbegriffs in Ungarn. In den Prozessen gegen die Röszke 11 wurde von Richter und Staatsanwalt argumentiert, dass die Leute, als sie die Grenze überquerten, wissentlich eine Straftat begingen - eben den illegalen Grenzübertritt. Denn es habe schließlich Durchsagen gegeben, dass die Grenze nun geschlossen sei. Und während zehn der Röszke 11 an den Massenunruhen nur teilnahmen, wurde Ahmed als Wortführer für die Unruhen verantwortlich gemacht. Das Strafmaß ist zwar hoch, findet aber mit zehn Jahren seine Entsprechung etwa in den Fluchthelfer-Prozessen in Griechenland. Dort ist aktuell ein Syrer angeklagt, in Idomeni im letzen Jahr als Rädelsführer zu illegalem Grenzübertritt aufgerufen zu haben. Für die "Bedrohung der nationalen Sicherheit" werden dort bis zu 20 Jahren Haft veranschlagt.

Im Szegediner Urteil wenden sie den Terrorismusbegriff auf Leute an, die den Staat oder Beamte unter Druck setzen und/oder ihn angreifen (bis zu 20 Jahre Haft). Sie werfen Ahmed also vor, einerseits per Megaphon den Polizisten gesagt zu haben, sie sollen das Tor aufmachen, weil die Menschen weiter wollten, oder die Leute würden sonst selbst handeln – das ist die Drohung. Außerdem soll er Gegenstände in Richtung Polizei geworfen haben – das wäre eben der Angriff. Es sind an dem Tag tatsächlich Beamte verletzt worden – im Urteil heißt es aber explizit, es sei nicht klar, ob Ahmed dafür verantwortlich gewesen sei. Es reiche, so heißt es weiter, dass er es hätte sein können. Auf dieser Grundlage ist er verurteilt worden.

 

Wie hat die ungarische Öffentlichkeit auf dieses Urteil reagiert, gibt es Proteste und Solidarität mit den Röszke 11?

In den ungarischen Medien war die Resonanz auf das Urteil gering. Die internationale Presse berichtete aber ausführlich darüber. Kritische Berichterstattung in Ungarn gab es von einigen kleinen Alternativmedien, die auch die Proteste vor Ort erwähnten.

Besonders unsere kleine internationale Soligruppe macht gute Arbeit: Am Tag der Urteilsverkündung gab es eine Kundgebung im Gericht, die allerdings prompt kriminalisiert wurde. Insgesamt ist der Protest aber gering, nur wenige Menschen trauen sich offenbar, Ungarns Politik zu kritisieren. Für NGOs ist es besonders schwer: So waren einige Organisationen, die zu Bürger- oder Geflüchtetenrechten arbeiten und die übrigen "Röszkes" unterstützen, nicht einmal bereit, sich solidarisch zu dem Terrorvorwurf gegen Ahmed zu äußern. Wir nehmen an, dass sie es sich in der derzeitigen politischen Lage nicht leisten können, sich zu positionieren, da sie bereits auf Orbáns Abschussliste stehen. Amnesty Ungarn hat aber den Prozess besucht und im Anschluss auch ein gutes Statement verfasst, worin die Verwendung des Terrorbegriffs verurteilt wird.


Hat es internationalen Druck aufgrund des Urteils gegeben?

Weitere internationale Beobachterinnen oder Beobachter waren nicht anwesend. Wir hatten im Vorfeld vergeblich versucht, wenigstens einige kritische internationale Journalisten und Journalistinnen zu einem Besuch zu bewegen. Dennoch war die Berichterstattung über das Urteil erstaunlich breit. Von wirklichem internationalem Druck kann dennoch leider nicht die Rede sein, auch wenn wir mit einzelnen Europaparlamentariern in Kontakt sind. Auf EU-Ebene ist nicht viel Druck zu erwarten, das ist ja auch an den anderen Alleingängen Ungarns zu sehen, die in Brüssel zwar auf Kritik stoßen, aber nicht wirklich geahndet werden.

 

Wie ordnet Ihr die ungarische Politik in die momentane internationale und europäische Migrationshysterie ein?

Ungarn steht mit seinen repressiven Entscheidungen natürlich zu Recht in der Kritik, wie zuletzt bei der Internierung aller Geflüchteten in geschlossenen Lagern, beim Versuch, überhaupt keine Geflüchteten mehr ins Land zu lassen, oder aktuell beim Ausbau des zweiten Grenzzauns. Ungarn, das gern als Schandfleck der EU bezeichnet wird, ist allerdings mit seinem repressiven Kurs kein Außenseiter. Die EU, die sich bemüht, die Festung Europa um jeden Preis auszubauen und abzudichten, aber insbesondere auch Deutschland profitieren von Ungarns hartem Kurs – im Falle eines Scheiterns des Türkei-Deals würde Ungarn sicherstellen, dass die Balkanroute geschlossen bleibt.

 

Wie können unsere Leserinnen und Leser Ahmed und die Soli-Arbeit für die kriminalisierten Geflüchteten unterstützen?

Zur Unterstützung gibt es viele Möglichkeiten: Zum einen kann die Petition von Amnesty unterzeichnet und weiterverbreitet werden: https://www.amnesty.org/en/get-involved/take-action/ahmed-H/. Zum anderen sind wir gerade jetzt im Vorfeld der Berufungsverhandlung, die für den 9. Juni angesetzt ist, auf Spenden angewiesen, um die Anwaltskosten von bislang 10.000 Euro stemmen zu können. Auch kämpfen die anderen Röszkes ja teilweise ebenfalls noch um einen gesicherten Aufenthalt etwa in Deutschland – ihnen droht beispielsweise die Abschiebung nach Ungarn nach den Dublin-II-Bestimmungen.

Wir haben ein Spendenkonto eingerichtet und freuen uns über Einladungen zu Info-Veranstaltungen. Alle Infomationen finden sich hier: www.freetheroszke11.weebly.com.

Interview: Friedrich C. Burschel

Zurück

Ins Archiv

Ins Archiv der konkret-News geht es hier entlang.