03.04.2014 13:35
"Unser Lieblingschinese" ("Zeit") steht mal wieder im Rampenlicht der Öffentlichkeit: Die weltweit größte Ausstellung des Konzeptkünstlers Ai Weiwei eröffnet in Berlin, der Dokumentarfilm "Ai Weiwei – The Fake Case" zeigt ihn "als Mann, der sich nicht unterkriegen läßt und trotz allem den Glauben an ein besseres China nicht verliert", und der "Taz" malte er eine ganze Titelseite voll. Berthold Seliger schrieb bereits in KONKRET 6/2011 über den von westlichen Medien inthronisierten Ersatz-Dalai-Lama
Was Journalisten anrichten«, titelte am 14. April die »Zeit«. »Falsche Prognosen, Meinungsmache, Hysterie: Im Kritisieren sind Medien gut – Selbstkritik fällt dagegen schwer. Zeit für die Frage: Was machen wir da eigentlich?« Ja, was macht die »Zeit« da eigentlich? In der gleichen Ausgabe hätte ein Gespräch mit dem chinesischen Intellektuellen Wang Hui erscheinen sollen. Es lohnt sich zu erzählen, wie es dazu kam, daß die »Zeit« auf den Abdruck verzichten mußte.
Wang Hui nahm 1989 an den Protesten auf dem Tiananmen-Platz teil und mußte zur »Umerziehung« nach Shangluo. Später verteidigte er in seiner Heimatstadt Yangzhou streikende Arbeiter in einem aufsehenerregenden Prozeß um deren Miteigentümerschaft an ihrer Fabrik. Heute ist Wang Professor für Literaturwissenschaft an der Tsinghua-Universität in Peking; seine Bücher – wie das herausragende The End of Revolution: China and the Limits of Modernity (2010) oder das vierbändige The Rise of Modern Chinese Thought (2004–2009) – erscheinen auf englisch in renommierten Verlagen (und wurden bezeichnenderweise nicht ins Deutsche übersetzt). Kein wichtiger westlicher Denker kam in den vergangenen zehn Jahren nach Peking, ohne »dem einflußreichsten Soziologen Chinas« (»Wirtschaftswoche«) einen Besuch abzustatten. »Von wenigen Menschen kann man so viel über den Geisteszustand Chinas erfahren wie von dem Mann, dessen Denken die chinesische Politik seit der Jahrtausendwende massiv geprägt hat«, schrieb die »Zeit« 2009. »Chinas Verzicht auf neoliberale Finanzreformen, die Wiederentdeckung der Sozialpolitik für die Massen und seine heutige relative Stärke in der weltweiten Wirtschaftskrise resultieren nicht zuletzt aus Wangs vehementem Widerspruch gegen die Marktreformer in der KP.«
Wang Hui war nun anläßlich der Produktion »Global Design« von Christian von Borries, die das Kulturzentrum Kampnagel vom 8. bis 10. April aufgeführt hat, in Hamburg zu Gast. Im Bauch eines Containerschiffs am Hafen ging es um den Zusammenbruch des kapitalistischen Marktes und die daraus resultierende Veränderung musikalischer Inhalte. Von Borries komponierte ein faszinierendes Stück aus Vorträgen der drei herausragenden Ökonomen Joseph Vogl, Gian Trepp und Wang Hui sowie aus musikalischen Vorlagen aus den Wirtschaftszentren der Zukunft.
Im Vorfeld der Veranstaltung zeigte die »Zeit« starkes Interesse an einem Interview mit Wang Hui. Einige Tage zuvor war die deutsche Aufklärungsausstellung in Peking eröffnet worden, und am 3. April verschwand der chinesische Künstler Ai Weiwei. Nichts war in den deutschen Medien mehr wie zuvor. Auch für einen Redakteur der »Zeit« gibt es jetzt kein Halten mehr. Er nimmt Wang Hui unter Feuer: »Bricht morgen in Peking die Revolution aus? Warum kann man Unrecht nicht einfach Unrecht nennen?« Die Fragen drehen sich einzig um das Thema, über das Wang Hui, wie er vorab ausdrücklich betont hat, nicht sprechen möchte, denn ihm ist klar, er kann es nur falsch machen, wenn er in einer westlichen Zeitung zu Ai Weiwei Stellung nimmt: Verurteilt er die Verhaftung, scheint er sich automatisch gegen die Kommunistische Partei zu wenden; verurteilt er die Verhaftung nicht, gilt er als Hardliner – eine differenzierte Position sieht der kampfbereite Westen nicht vor.
Man hatte mit der »Zeit« vereinbart, daß Wang Hui, sollte man ihn wörtlich zitieren wollen, die Zitate vorher autorisiert – eigentlich eine Selbstverständlichkeit, nicht zuletzt angesichts der delikaten Rolle, die ein Intellektueller wie Wang Hui in China spielt. Der »Zeit«-Redakteur jedoch läßt zwei Tage nichts mehr von sich hören und muß von Kampnagel an die Autorisierung etwaiger Zitate erinnert werden. Als Antwort auf diese Mahnung sendet der Journalist den deutschen (!) »Interviewtext, wie er auf der Seite steht«: Aus einem Hintergrundgespräch ist plötzlich ein bereits in Druck gegebenes Interview geworden, das sich genau um das Thema dreht, das von Wang Hui ausgeschlossen wurde; kein Zitat ist autorisiert worden. Dahinter steckt natürlich System: Der »Zeit«-Redakteur wußte genau, daß er die Zitate so nicht autorisiert bekommen würde, weil sie so zum Teil nicht gefallen waren – schließlich waren an dem Projekt Beteiligte Zeugen des unangenehmen Gesprächs. Die »Zeit« spielte auf dieselbe: Sorry sorry, wir hätten ja gerne Ihre Wünsche erfüllt, aber nun ist’s leider zu spät, die Zeitung ist bereits in Druck. Eine weitere Lüge, denn wenig später – ein renommierter Medienanwalt wurde mittlerweile hinzugezogen, eine Unterlassungsklage vorbereitet – ist es dann plötzlich doch noch möglich, die »Druckmaschinen anzuhalten « (der Schriftwechsel liegt mir vor; B. S.). Das Interview erscheint nicht. Dafür ist in einer Anzeige mit dem Foto des »Zeit«-Herausgebers Helmut Schmidt groß zu lesen: »Für einen Journalismus, wie er sein soll«.
Wenn hier kritisch vermerkt wird, wie westliche Medien Ai Weiwei zu einem Ersatz- Dalai-Lama aufbauen, dann besteht natürlich kein Zweifel daran, daß ein Land einen kritischen Künstler nicht ins Gefängnis sperren sollte, solange es ihm keine konkrete Straftat nachweisen kann. Wo aber sind die Kritiker Chinas, wenn es um die demonstrierenden Bauern geht, oder um Arbeiter, die gegen die Privatisierung ihrer Unternehmen protestieren? Wo sind die, die so entrüstet Menschenrechte einfordern, wenn einige der mehr als 200 Millionen Arbeitsmigranten in China für bessere Löhne streiken, was die dort hergestellten Produkte von Apple, Puma, Nike verteuern würde?
Anscheinend braucht es nur wenige gut vernetzte Protagonisten, um einen Künstler zu einem westlichen Erfolgsmodell zu machen. Im Falle des »Heiligen Ais« (»Frankfurter Rundschau«) ist der Einfluß Uli Siggs signifikant: Der Anhänger des Rechtspopulisten Christoph Blocher und ehemalige Schweizer Botschafter in Peking ist heute im großen Stil wirtschaftlich in China engagiert; ihm gehört die größte Sammlung zeitgenössischer chinesischer Kunst.
Seit Oktober 2010 zeigt die Londoner Tate Modern 100 Millionen Sonnenblumenkerne, die Ai Weiwei in China aus Porzellan hat herstellen lassen. Finanziert hat die Kerne der Unilever- Konzern – 100 Kilo davon wurden bei Sotheby’s für 560.000 US-Dollar versteigert. Am 29. März ist in der »Berliner Zeitung« zu lesen, Ai Weiwei werde für mehrere Millionen Euro ein 4.800 Quadratmeter großes Studio und Atelier in Berlin kaufen. Fünf Tage später wird er wegen Wirtschaftsvergehen am Pekinger Flughafen festgenommen. Der Künstler plante laut Medienberichten, sich am selben Tag mit Uli Sigg in Hongkong zu treffen, um mit ihm eine Ausstellung in Luzern vorzubereiten.
Für den »Berliner Aufruf« zur Freilassung Ai Weiweis zeichnet ausgerechnet der ehemalige Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Hans-Olaf Henkel, verantwortlich – während der Soliveranstaltung in der Akademie der Künste verteilte der Sarrazin-Fan gar Flugblätter von Amnesty International. Henkel ist übrigens Aufsichtsrat des Schweizer Medienkonzerns Ringier, für den wiederum Uli Sigg in China tätig ist ...
Wang Hui schreibt in Die Entstehung des modernen chinesischen Denkens von Systemkritikern und frühen Demokraten. Es geht ihm um die Kontinuität des öffentlichen politischen Diskurses in China. Den kann man in China, anders als im angeblich überlegenen System hierzulande, in Jahrhunderten bemessen. »Ich versuche, den Begriff China von dem europäischen Modell nationaler Identifizierung zu befreien. China ist viel reichhaltiger, flexibler und multikulturell verträglicher, als bisher aufgezeigt wurde«, stellt Wang Hui fest. Hier will das kaum jemand hören, man bevorzugt die Propaganda des einfachen Weltbildes. Und so werden wir im »Land der Dichter und Denker« die Analysen eines der klügsten Männer unserer Tage wohl weiterhin auf englisch lesen müssen.
- Berthold Seliger -
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