25.11.2014 16:14
Ein deutsches Opferfest
Die Geschichte des Nationalsozialismus, des Weltkriegs und des Holocaust kann nur von Deutschen erzählt werden, von empfindsamen wohlgemerkt, ohne die »Selbstgefälligkeit, mit der unsere Generation da so rangeht« (Fernsehansager Markus Lanz): Das war schon vor fast 20 Jahren der Refrain in der Goldhagen-Debatte. Im März nun wurde er wieder bestätigt. Zuerst meldete sich Wolfgang Benz, der frühere Leiter einer Einrichtung an der TU Berlin, die den irreführenden Namen »Zentrum für Antisemitismusforschung« trägt. Er war verärgert, weil der amerikanische Historiker Geoffrey Megargee und das US Holocaust Memorial Museum sich erdreistet hatten, ein Werk über die Lagerwelt des Nationalsozialismus, eine Encyclopedia of Camps and Ghettos 1933–1945, herauszugeben (siehe Interview mit Megargee in KONKRET 4/13). Megargee habe bei ihm »abgekupfert«, schimpfte Benz in einem Interview mit »Zeit online«. Und was hieße da überhaupt Enzyklopädie: »Diesen amerikanischen Sammelfleiß als ›Enzyklopädie‹ zu bezeichnen, halte ich für frech, überheblich und größenwahnsinnig. Eine Enzyklopädie erhebt den Anspruch, ihrem Leser gebündelt alle wichtigen Informationen zu einem Thema zu vermitteln. Doch das Werk der Amerikaner … ist voller Lücken.«
Dem ließe sich entgegnen, daß auch Dinge wie die Sintflut oder die Dummheit wenig erforscht sind, und doch kommen sie im Lexikon vor. Soll im »Brockhaus« statt eines Eintrags über den Holocaust der editorische Hinweis stehen: »Professor Benz hatte zum Zeitpunkt der Drucklegung die Forschung zum Thema noch nicht abgeschlossen«? Benz fuhr fort: »In wissenschaftlichen Arbeiten stecken bahnbrechende neue Erkenntnisse. Auch diesem Anspruch wird die Veröffentlichung der Amerikaner nicht gerecht. Schließlich haben sie nur gesammelt, was bereits in anderen Werken zu finden war.« Ein Stereotyp, das man kennen sollte – es folgt dem, was Richard Wagner über die Juden sagte: daß sie zu eigenem Schaffen unfähig seien, alles, was sie könnten, sei »nachzuplappern«. Forschung à la Benz hingegen sei entschieden deutsch, so Benz, »keine andere Nation « investiere »so viel in die Erforschung des Holocausts, Antisemitismus und Nationalsozialismus wie Deutschland«. Dem könnte man hinzufügen, daß es ohne Deutschland nicht einmal einen Holocaust zu erforschen gäbe. »Wir sind überhaupt das einzige Land, in dem es ein Zentrum für Antisemitismusforschung gibt, also eine Einrichtung, die sich so intensiv mit einem kleinen Teilbereich des Nationalsozialismus auseinandersetzt«, lügt Benz: Tatsächlich gibt es weltweit sieben (von denen Benz selbstverständlich weiß). Das einzige, was Benz »den Amerikanern« zugesteht, ist »Fleiß« – und »Anerkennung für seine (des Holocaust Memorial Museum, S. F.) gute PR-Arbeit. Es ist zu bewundern, daß es die Geschichte nicht nur in die ›New York Times‹, sondern auch in sämtliche deutsche Medien geschafft hat … Unser deutsches Werk wurde damals von den Medien kaum zur Kenntnis genommen.«
Wie kommt solch Geschimpfe im Ausland an? Johannes Houwink ten Cate, Holocaust- Forscher an der Universität Amsterdam, schreibt in einer E-Mail: Kollege Benz, mit dem ich immer gerne zusammengearbeitet habe, wenn ihm dies wünschenswert erschien, hat mit der Reihe Der Ort des Terrors eine unglaublich gute Studie vorgelegt. Als Überblick über den heutigen Forschungsstand ist diese Reihe beispielhaft. Aber auch das neue amerikanische Projekt ist sehr vielversprechend, zum Teil, weil die amerikanischen Kollegen den Begriff ›Lager‹ offenbar breiter definieren. Deswegen halte ich die negativen Qualifikationen von Kollege Benz für drastisch und somit unangebracht; sie sind übrigens auch nicht im Einklang mit der Bescheidenheit und der Besonnenheit, die Herr Benz immer – zu Recht – für seine wissenschaftlichen Arbeiten beansprucht hat.
Efraim Zuroff, Direktor des Simon Wiesenthal Center in Jerusalem, berichtigt einige der falschen Benzschen Angaben: Benz hat nicht erwähnt, daß Yad Vashem schon eine Enzyklopädie der Ghettos veröffentlicht hat. Auch ist es nicht wahr, daß nur Deutschland ein spezielles Institut für das Studium des Antisemitismus habe, in Israel gibt es zwei. Zuroff teilt indessen die Kritik an der Art und Weise, wie das US Holocaust Memorial Museum für Megargees Werk werbe. Die Wahrheit ist, daß dies auf eine unehrliche Weise gemacht wurde, so als hätten sie plötzlich entdeckt, daß der Holocaust viel schlimmer gewesen ist, als die Öffentlichkeit bis dahin geahnt hat. Zum Benz-Interview selbst wollte sich Zuroff nicht äußern. Charles A. Small, Gründer und Vorsitzender des Institute for the Study of Global Antisemitism and Policy (ISGAP), der unter anderem in Harvard und Stanford unterrichtet, sagte im Telefoninterview: Benz scheint sich mehr darum zu sorgen, den Anschein seiner Autorität und seines Verständnisses der Geschichte zu erhalten. Er erwähnt nicht die Verdienste der Forscher, die er kritisiert, sondern konzentriert sich auf deren nationale Herkunft und zieht den Schluß einer Verschwörung per Kontrolle der Medien. Benz behauptet, daß seine Arbeit authentisch deutsch sei, wobeiseine Argumentation unklar oder vielleicht absichtlich indirekt bleibt, damit die Leser zwischen den Zeilen lesen. Es ist zu vermuten, daß es in diesem extrem unglücklichen Interview eine Menge gibt, was Antiamerikaner und Antisemiten erfreuen könnte. Solche Bemerkungen überschatteten Benz’ gute akademische Forschung; es sei sehr enttäuschend, daß jemand auf dem Gebiet der Antisemitismusforschung – vor allem in dem berüchtigten deutschen Zusammenhang – solch unreflektierte Äußerungen macht. Schon früher sei das Zentrum für Antisemitismusforschung unter Benz’ Leitung, was die Analyse und Forschung im Hinblick auf die Herausforderungen unserer Zeit betreffe, oft als schädlich (unhelpful) wahrgenommen worden. Small weist zudem auf einen metawissenschaftlichen Aspekt hin: Es gibt die Auffassung, daß, wenn Liberale oder liberale Gesellschaften der Greuel der Vergangenheit gedenken – ob extremer Formen des Rassismus, der Sklaverei oder sogar des Holocaust –, das Denkmal der Fokus oder das eigentliche Thema selbst wird. Das läuft darauf hinaus, daß das Denkmal – in einem politischen Sinn – ihre ›moralische Größe‹ repräsentiert statt die tatsächliche Geschichte der Opfer der Greuel.
Heldengedenken im ZDF
In Deutschland ist es ein TV-Spektakel. Wenn Nazis ins Fernsehen kommen, kann der Heldengedenktag, der zwischen 1939 und 1945 am 16. März oder dem jeweils vorhergehenden Sonntag begangen wurde, auch noch am 17., 18. und 20. März gefeiert werden. An diesen Tagen strahlte das ZDF in diesem Jahr die Nazi-Soap »Unsere Mütter, unsere Väter« aus (s. Rezension in KONKRET 4/13). Man solle »nicht auf einen hohen Feiertag« warten, sondern die Familie »zusammentrommeln«, befahl Frank Schirrmacher in der »FAZ«. »Spiegel online« schwärmte, daß »man im deutschen Film noch nie so unmittelbar in den Nationalsozialismus eingestiegen ist«. Will man eigentlich je wieder aussteigen? 270 Minuten Nazi-Zeit! »Also den Sessel zurechtgerückt, Bier kaltgestellt und drei Abende lang Nazis geguckt! So macht Geschichtsaufarbeitung Spaß«, schreibt Eckehard Fuhr in der »Welt«. Der Spaßmacher ist Produzent Nico Hofmann (»Dresden«, »Die Flucht«); sein Film verleugnet nicht, daß Hofmann aus der Werbebranche kommt. Wenn die »fünf Freunde« im Film Bier und Sekt trinken (das tun sie immer,wenn sie sich begegnen) und man dazu aus dem Off eine Männerstimme sagen hört: »Wir waren fünf. Fünf Freunde …«, dann ist das beinahe ein Plagiat der allgegenwärtigen Gemeinschaftsmomentewerbung einer deutschen Brauerei. »Wenn aus Herrn Hitler der Führer wird …« könnte es heißen.
Anders als etwa »Schindlers Liste«, der in den islamischen Staaten nicht gezeigt werden durfte, ist »Unsere Mütter, unsere Väter« holocaustleugnerkompatibel. Zwar soll der Jude Viktor nach Auschwitz deportiert werden, aber was das bedeutet, bleibt unklar, da Viktor mit Hilfe der von ihm mitgebrachten Werkzeuge aus dem Zug aussteigt. Vermutlich hätte er wohl ins Exil gehen sollen, aber das wollte das ZDF nicht bezahlen: »›Das Budget mußte runter auf 15 Millionen Euro. Eine Amerika-Episode fiel heraus, man verlegte sie nach Polen, das war billiger und paßt viel besser‹, beteuert Hofmann «, so die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung « (FAS). Aus Kostengründen wird Viktor also in den Zug nach Auschwitz gesetzt, aus dem er sich auf wunderbare Weise befreit, damit der Holocaust im Film nicht stattfinden muß. Die jüdische Krankenschwester wird zwar erschossen; aber das wird Holocaustleugner nicht stören, denn daß während des Krieges Juden getötet wurden, streiten sie ja nicht ab. Vom organisierten Morden, von der minutiös geplanten und mit größtem Eifer betriebenen Vernichtung der europäischen Juden sieht man in dem Film nichts.
Es gibt individuelle Verbrechen von einigen Sadisten; Einsätze gegen »Partisanen«, die aus dem Ruder laufen (»Waren das wirklich alles Partisanen, die wir erschossen haben?« fragt einer der Helden an einer Stelle); und Kriegsverbrechen, die aus der Situation heraus zu verstehen – und zu vergeben – sind. Schließlich haben die Sowjets »die Genfer Konvention nicht unterschrieben«, wie ein Wehrmachtsoffizier an einer Stelle sagt – womit der Film suggeriert, daß die Deutschen sich wohl an sie gehalten hätten, wenn auch der Gegner nach den Regeln gespielt hätte. Morde an Millionen russischen Kriegsgefangenen gibt es im Film – anders als in der Wirklichkeit – auch nicht; statt dessen will er glauben machen, daß sie an einer kriegsbedingten Unterversorgung gestorben seien: »Wir haben schon für unsere Soldaten nicht genug«, sagt der Feldarzt, als die Krankenschwester fragt: »Was ist mit dem Russen?« und auf einen Verwundeten zeigt. Schon der Einfall, verwundete russische Soldaten ins Lazarett der Wehrmacht zu bringen, ist Geschichtsklitterung. Sie folgt einer Absicht, die sich durch den Film zieht: Abgesehen von den Taten, die von Psychopathen begangen werden, gibt es keine Verbrechen, die unverständlich wären; alles soll plausibel werden, der Zuschauer soll denken: »So hätte ich wohl auch gehandelt.«
Zum Beispiel angesichts des Minenfelds, das einen deutschen Soldaten das Leben kostet, der sich tapfer für seine Kameraden opfert. Anschließend werden russische Zivilisten darübergejagt. Dem Zuschauer ist klar: Dieses Kriegsverbrechen hat einen militärischen Sinn. Sollten denn noch mehr von unseren Friedhelmen draufgehen? Oder, wie Günther Jauch einen Wehrmachtsveteranen fragte: »Kommt Ihnen die Frage: ›Hast Du jemanden getötet?‹ angesichts des Stahlgewitters, in das man da geraten war, relativ absurd vor?« Wer kein Nazi war, hat kein Recht, Nazis zu kritisieren – das alte Totschlagargument. Daß Viktor, eine der Hauptfiguren, plötzlich bei den Partisanen ist, ist im Film kein Akt der moralischen Entscheidung, sondern bloßer Zufall. Er stolpert da hinein wie die anderen zur Wehrmacht. Die Partisanen erscheinen zudem nicht als den Nazi-Rassekämpfern moralisch überlegen, sondern im Gegenteil als in den Wäldern hausende hinterlistige Räuberbande, die Leichen fleddert und von Haß auf Juden beseelt ist. Die polnischen Partisanen sind die einzigen, die als glühende Antisemiten gezeigt werden. Die Deutschen, die sich antisemitisch äußern, scheinen immer nur etwas Auswendiggelerntes nachzuplappern, so als ständen sie unter Hypnose.
Das Schlimmste am Krieg sind die Zweifel am Sieg. Schuld gibt es nicht, statt dessen entlastende Kadaverphilosophie: »Du tötest, bevor sie dich töten.« – »Es ist nicht immer leicht zu wissen, was richtig ist.« – »Nichts ist so, wie wir gedacht haben, Greta.« – »Heute sind wir Helden, morgen Schweine.« – »Es gibt keinen Sinn, Gott hat uns verlassen.« – »Am Anfang, wenn man in den Krieg zieht, kämpft man für sein Vaterland. Später für seine Kameraden, die man nicht im Stich lassen kann.« – »Wir sind wieder da, wo wir vor drei Jahren angefangen haben«, sagt einer der Friedhelme im Jahr 1944. Der Vernichtungskrieg als Sisyphosarbeit.
Hier offenbart sich die ganze Sinnlosigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Auch dadurch, daß die Protagonisten unablässig in die Kamera paffen, ist die Dummheit der Phrasen nicht zu verdecken. Wer hat das erbrochen? Nico Hofmann beruft sich auf Befehlsnotstand: »Wir sind eine Manufaktur, wer uns beauftragt, bekommt genau den Film, den er für sein Programm und seine Zuschauer passgenau einsetzen kann.« »Der Goldjunge« wird Hofmann in der »FAS« genannt, ob seiner Begabung, Kacke durch eine besondere Art des Quirlens zu Geld zu machen: »In der Tat produziert er Hit um Hit nach der gleichen Masche: pickt sich ein historisches Schlüsselereignis heraus, garniert es mit einer Liebesgeschichte und vermarktet das Produkt mit viel Tohuwabohu. « Zehn Jahre soll Hofmann für die Entwicklung von »Unsere Mütter, unsere Väter« gebraucht haben, doppelt so lang wie Hitler für den Zweiten Weltkrieg.
Das bedeutsame Ereignis war letztlich aber nicht der Film, sondern das Drumherum, die fortschreitende Veropferung der Deutschen. Ein Drittel der Deutschen sei damals traumatisiert worden, sagte der Historiker Arnulf Baring in der ZDF-Sendung »Markus Lanz«: »Ich habe ja den Zweiten Weltkrieg nur überlebt, weil die Großmutter mich aus dem Keller rausgezogen hat. Und ich habe die dritte meiner Töchter nach Anna benannt, der Name meiner Großmutter. Warum? Wahrscheinlich weil ich das verdrängt habe. Weil das irgendwo nicht immer gleichzeitig – nach dem Krieg hatte man andere Sorgen, erst wieder ein Dach über dem Kopf und nicht verhungern und so weiter, erst die dritte Tochter ist ’88 geboren, also mit anderen Worten, auch mir im eigenen Leben geht es so, daß ich erst dann gesagt habe, du mußt deiner Großmutter, der du dein Leben verdankst, ein Denkmal setzen, aber vorher nicht.« Erst 1988 konnten deutsche Töchter wieder Anna heißen. Da sagte Lanz: »Das ist jetzt so ein besonderer Moment in der Sendung, von dem ich nicht dachte, daß es dazu kommt, ich erlebe Sie gerade emotional erschüttert. Gibt es Tage, an denen Sie nicht daran denken?« Barings Antwort war nicht ganz die erhoffte: »Ja doch, natürlich, ich habe ja jahrzehntelang nicht daran gedacht.«
Die ganze Tragödie seines verpfuschten Historikerlebens wurde ihm erst dadurch klar, »dass meine Frau so Familienaufstellungen macht, mit diesen ganzen Generationslasten«. Der Opferstatus hängt dabei nicht vom Alter ab: »Da schreibt jetzt vor drei Tagen eine junge Frau: Ich bin 34, ich fühle mich immer auf der Flucht. Keiner versteht das. Ich habe das Gefühl, ich bin immer auf der Flucht, können Sie mich behandeln, ich habe keine organischen Schäden, aber ich habe das Gefühl, ich bin auf der Flucht. Das sind doch Folgen, da muß man doch denken, wo kommt das her? Das ist injiziert worden.« Wie das Strychnin in Auschwitz.
Apropos injiziert: Die Schauspielerin Barbara Rütting (85) erzählte bei Jauch, wie ihr Opa ihrem Vater die »Sehnsucht nach dem heilen Leben – also Blut und Boden – eingeimpft« habe. »Das hat meinem Vater natürlich gefallen, auch diese Tugenden: Kameradschaft, einer für alle, alle für einen, und Arbeiten an einem guten Leben für alle.« Man hat es schon immer geahnt: Der Nationalsozialismus war eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt worden ist. Ja, ihr Vater sei »eben Nazi und Idealist« gewesen. Professor Baring erklärt, welche Extraarbeit Idealisten damals leisteten, zum Beispiel in Babi Jar bei Kiew: »Die Deutschen hatten mit 6.000 Juden gerechnet, 36.000 kamen.« Den Holocaust muß man sich als eine Art Facebook-Party vorstellen. »Und dabei ist den Deutschen klargeworden: Kinder, so können wir das nicht machen. Wir müssen sozusagen ’ne andere Art machen als sozusagen da diese Massenerschießungen. Denn die Massenerschießungen haben natürlich dazu geführt, daß eine Reihe von Leuten, obwohl sie verwundet waren, rausgekrochen sind und gesagt haben: Die Deutschen bringen uns da in Massen um!« Dieser Vorwurf reicht allemal, um auch den Enkeln ein Trauma zu bescheren.
Daß die beiden hier verhandelten Ereignisse– die Publikation der Forschungsergebnisse von Megargee und seinen Kollegen, die Geschichtsklitterung des ZDF – in denselben Monat fielen, war Zufall, aber ein ironischer. Er ermöglichte den direkten Vergleich der Reaktionen: Im ersten Fall wurde eine Nachricht daraus, aber kaum mehr; alles drehte sich um die Zahl der konstatierten 42.500 Lager, in den Internetforen machten sich Leser darüber lustig, daß es in Hamburg »über 1.000 KZs« gegeben habe. Dabei spricht Megargee von »Orten der Vefolgung«. Obwohl es, anders als im besetzten Osten, im Deutschen Reich keine Ghettos gab, gab es eine Ghettoisierung. Das ist ein Begriff, den schon Raul Hilberg benutzte. Juden wurden entrechtet, ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt, sie wurden vom Rest der Bevölkerung sozial und räumlich getrennt. Ab 1940 mußten sie in sogenannten »Judenhäusern« wohnen. Das waren Häuser, in denen alle Juden einer Stadt konzentriert wurden (in Hannover zum Beispiel gab es 1941 15 »Judenhäuser« für 1.500 Menschen). Victor Klemperer hat das Leben darin beschrieben: »Cohns, Stühlers, wir. Badezimmer und Klo gemeinsam. Küche gemeinsam mit Stühlers, nur halb getrennt – eine Wasserstelle für alle drei … Es ist schon halb Barackenleben, man stolpert übereinander, durcheinander. « Dazu die permanente Angst vor der nächsten Razzia. Die »Judenhäuser« waren gekennzeichnet und wurden in kurzen Abständen von der Gestapo heimgesucht, die bei ihren Besuchen die Einrichtung verwüstete, die Bewohner beschimpfte, bespuckte, prügelte, ausraubte oder auch Personen mitnahm, wenn sie Lust dazu hatte. Die Ghettoisierung in den »Judenhäusern « war die Vorstufe zur Deportation in die Vernichtungslager, und es ist darum richtig, daß Megargee sie und andere »Orte der Verfolgung « zu den Lagern hinzurechnet. Nicht, um alles zu nivellieren, sondern um sichtbar zu machen, daß es im Deutschen Reich bzw. im Herrschaftsbereich der Deutschen keinen Ort gab, wo das NS-Verfolgungssystem nicht allgegenwärtig war (die »Judenhäuser« lagen meist mitten in der Stadt, dort, wo heute die Fußgängerzonen sind). Das aber ist offenbar kein Stoff für Fernsehabende; keine Fernsehdiskussionen gab es darüber, daß Verfolgung, Inhaftierung, Folter und Ghettoisierung mitten in den deutschen Städten – oder ihren Vororten – stattfanden, vor aller Augen.
Die Encyclopedia of Camps and Ghettos 1933–1945 wird zusammen mit anderen Standardwerken von Forschern weltweit – und Nachfahren der Opfer – in den nächsten Jahrzehnten immer wieder konsultiert werden. In Deutschland aber pflegt man lieber Fantasy und Opfermythen. »Man sieht das im Film sehr gut«, sagte Baring bei Lanz immer wieder. »Die Täter sind auch Opfer, und die Opfer sind auch Täter«. »Traumatisierte Deutsche« werde das »Thema der nächsten Jahre«. Märchenstunde. Wenn man doch wenigstens die Nazis durch Hobbits und Elfen ersetzen könnte.
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