01.03.2017 14:39
Deniz Yücel sitzt derzeit in der Türkei in Untersuchungshaft. Vor vier Jahren war er auf dem Taksim-Platz an den Protesten gegen die Regierung Erdogan beteiligt. Seitdem hat sich die Türkei verändert - in eine andere Richtung, als die Demonstranten auf dem Taksim-Platz noch gehofft hatten. In konkret 7/13 sprachen wir mit Deniz Yücel über die Gezi-Proteste in Istanbul und die Zukunft der Türkei.
konkret: Wie ist die Lage in Istanbul?
Yücel: Die Stimmung hier ist: Meine Güte, wir haben in der letzten Zeit so viel Pfefferspray abbekommen … Die Demonstranten lassen sich derzeit nicht unterkriegen. Und die Erwartung, daß wieder geräumt werden wird, hält sie nicht davon ab, trotzdem Tag für Tag auf den Taksim-Platz zu kommen. Tagsüber sind weniger Leute da – viele Studenten und Rentner – , aber nach Arbeitsschluß kommen auch die anderen wieder. Offensichtlich hat die Regierung die Hoffnung, vor allem die vielen Leute ohne jede Demonstrationserfahrung abzuschrecken, so daß am Ende nur noch ein Rest übrigbleibt, die »marginalen Gruppen«, von denen Erdogan so gerne spricht, die man dann nach bewährter Manier abräumen kann.
konkret: Wer versammelt sich da eigentlich? Die Bewegung ist ja sehr unübersichtlich.
Yücel: Es gibt einen Kern, die ursprünglichen Parkbesetzer. Das sind Umweltaktivisten, eher aus den besseren Stadtvierteln, Linksliberale und sehr viele Jugendliche, also die Generation, die nichts anderes kennt als diesen Ministerpräsidenten. Ich habe mit ein paar von denen gesprochen, und sie haben gesagt: Erdogans autoritäre Politik in bezug auf den Park hat das Faß zum Überlaufen gebracht. Dann gibt es verschiedene Gruppen, die ohnehin eine Rechnung mit der Regierung offen haben: Kemalisten, linke, teilweise militante Gruppen, Kurden. Gerade in den ersten Tagen waren auch Anhänger der Rechtsaußenpartei MHP mit dabei, die sieht man inzwischen aber weniger.
Daß der Protest sich so ausweiten konnte, liegt daran, daß es auch dieser Regierung nicht gelungen ist, die gesellschaftlichen Konflikte zu entschärfen, die es seit Gründung der Republik gibt. Interessant ist deshalb, daß hier Leute dabei sind, die noch vor ein paar Wochen nie im Leben zusammen an einem Ort hätten auftreten können. Es gab zwar auch jetzt immer mal wieder Wortgefechte zwischen den verschiedenen Gruppen, aber in dem Moment, wo man mit der Polizeigewalt konfrontiert ist, steht man zusammen. Es gibt ein Foto, da stehen eine Frau mit der türkischen Flagge und eine mit der Fahne der kurdischen Partei BDP untergehakt vor dem Wasserwerfer. Das ist fast so erstaunlich wie die Tatsache, daß die Fans von Fenerbahçe und Besiktas gemeinsam demonstrieren.
Es klingt nach Revolutionskitsch, aber du siehst hier Leute aus den armen Vierteln, und dann gibt es diejenigen, die nach Feierabend aus ihren Büros kommen. Am Tag des Angriffs auf den Taksim-Platz habe ich Leute in Anzug und Krawatte gesehen, weil sie keine Zeit hatten, sich umzuziehen. Das geht quer durch alle Schichten und politischen Gruppen. Es sind die 50 Prozent, die nicht hinter Erdogan stehen. Der hat natürlich immer noch seine Basis, und darauf vertraut er.
konkret: Du hast die Fußballfans erwähnt. Die sind bei den Protesten prominent vertreten und haben ja auch so ihre Erfahrungen mit der Polizei.
Yücel: Çarsi, also die Besiktas-Ultras, sind hier Volkshelden. Bei allen Differenzen gibt es zwei Parolen, die alle gemeinsam skandieren. Das eine ist der Slogan aus den siebziger Jahren, ein Erbe der alten Linken: »Schulter an Schulter gegen den Faschismus.« Das andere ist ein Schlachtgesang von Çarsi, mit dem sie die Polizei und ihr Pfefferspray verhöhnen. Das hätte vorher außerhalb von Çarsi niemand gesungen. Am zweiten Wochenende der Proteste sind sie mit 40.000 Leuten auf den Platz gezogen – und am Mittelstreifen der Straße standen welche und haben darauf geachtet, daß niemand auf die Blumen tritt, die da gepflanzt sind. Das sind die besten Ultras der Welt, so was gibt es woanders nicht. Die sind in den vordersten Reihen bei den Auseinandersetzungen mit den Bullen dabei, machen Riesenbengaloshows – und passen auf, daß niemand die Blümchen zertritt.
konkret: Auch vor Erdogan gab es in der Türkei genug Gründe zum Protest. Und die AKP-Regierung hat ja tatsächlich etwas bewegt, sie hat das Militär entmachtet, sie hat ernsthafte Schritte auf die Kurden zu gemacht. Warum also gerade jetzt dieser Aufstand?
Yücel: Erdogan kam mit dem Versprechen der Modernisierung, dem Ziel des EU-Beitritts an die Regierung. Ein Ziel, das auch von vielen Linksliberalen unterstützt wurde. Es war ein Projekt der Demokratisierung – nicht nur des politischen Islams, also des eigenen Ladens, sondern der gesamten Türkei. Aber seit der Wahl 2011 regiert er zunehmend autoritär. Die Entmachtung des Militärs hat dazu geführt, daß es nun ein neues politisches Establishment gibt, das sich aufführt, als seien der Staat und die Gesellschaft sein Eigentum, so wie es die Militärs zuvor getan haben. Erdogan hat zu viele Leute enttäuscht.
Die Kurden sind hier zwar dabei – es war ein kurdischer Abgeordneter aus Istanbul, der sich als erster Politiker den Protesten angeschlossen hat, als diese noch relativ klein waren – , aber sie sind zwiegespalten, weil die Regierung ihnen gerade Zugeständnisse gemacht hat. Hier ist nicht die kurdische Partei mit ihrer Massenbasis auf der Straße, das ergäbe noch mal ein ganz anderes Bild. Aber für die Vielfalt der Proteste ist es gut, daß die Kurden hier quasi in Abordnungen vertreten sind, mit ein paar Politikern und den Jugendlichen an den Barrikaden.
konkret: Die Demonstranten sind sich einig in ihrer Forderung nach dem Rücktritt der Regierung. Aber was wollen sie darüber hinaus?
Yücel: Was die Twitter-Kids wollen, ist leicht zu sagen: Sie wollen keine Überväter, die ihnen ständig sagen, was sie tun sollen. Sie wollen auch keine Partei gründen. Einer von denen sagte mir: Wir sind hier, weil es keine Opposition gibt. Bei allen anderen ist die große Frage, ob die Erfahrung, hier wochenlang gemeinsam gestanden und Pfefferspray geschluckt zu haben, dazu führt, daß die verschiedenen Gruppen ihre Feindseligkeiten überwinden.
konkret: Was hat die Protestbewegung denn bis jetzt bereits bewirkt?
Yücel: Alle, die hier dabei sind, sagen, daß die Türkei nicht mehr dieselbe sein wird. Das Irre und auch das Schöne an diesem Land ist, daß sich die Dinge sehr schnell verändern können. Vor ein paar Wochen hat noch niemand, zuallerletzt die Regierung, mit dieser Entwicklung gerechnet. Aber es kann sich auch alles sehr schnell zum Negativen verändern.
Ins Archiv der konkret-News geht es hier entlang.