28.03.2017 16:12
Die Rückeroberung der nordirakischen Stadt Mossul verläuft nicht minder brutal und fordert nicht weniger zivile Opfer als der Kampf um Aleppo, der für Henryk M. Broder "schlimmer als Auschwitz" war. In konkret 11/16 fragte Jörg Kronauer, was die Kämpfe um Aleppo und Mossul verbindet - und was sie unterscheidet. Unter dem Artikel findet sich zum Thema außerdem der kurze Beitrag "Aleppul" von Michael Schilling aus konkret 2/17.
Der Mond soll geschienen haben, als es losging – so erzählen es jedenfalls die Kriegslyriker, die am frühen Morgen des 17. Oktober als eingebettete Journalisten gemeinsam mit den Peschmerga und anderen irakischen Truppen in Richtung Mossul aufbrachen. Panzer- und Lkw-Kolonnen wälzten sich in der Dämmerung auf die Metropole zu, die der IS im Juni 2014 beinahe kampflos eingenommen und in der er sein Kalifat ausgerufen hatte. Ihr erster Auftrag: die Dörfer auf dem Weg durchkämmen, sie von Jihadisten befreien und anschließend die Fahrt fortsetzen. Bei Sonnenaufgang wurden erste Scharmützel gemeldet, Panzer feuerten auf kleine Ortschaften, in denen IS-Kämpfer Autoreifen und Erdöl in Brand steckten, damit der Qualm den Kampffliegern der westlichen Anti-IS-Koalition die Sicht raubte. Die Bomber starteten trotzdem und nahmen mutmaßliche Stellungen der Jihadisten unter Beschuss. Noch waren es Stellungen in den Dörfern und Kleinstädten vor Mossul; bald würden es Ziele mitten in der Millionenstadt selbst sein: Joint Terminal Air Controller der US-Streitkräfte, Spezialisten, die die Ziele für Luftangriffe markieren sollen, waren im vorrückenden Tross dabei.
Luftangriffe auf dichtbesiedeltes Gebiet? In den deutschen Medien machte sich am Morgen des 17. Oktober eine gewisse Unruhe breit. Dem einen oder der anderen begann zu dämmern, was es bedeutete, dass in Mossul unmittelbar vor dem Beginn der Schlacht noch 1,5 Millionen Menschen lebten. Monatelang waren die Luftangriffe auf den umzingelten Osten der syrischen Stadt Aleppo das Empörungsthema schlechthin gewesen, anhand dessen man dem Publikum einbleuen konnte, wie verkommen die Präsidenten Bashar al Assad und Wladimir Putin doch waren. Immerhin 250.000 Zivilisten waren dort eingeschlossen und den Bombardements syrischer und russischer Kampfflieger ausgeliefert. Es ist ein Kriegsverbrechen, dichtbesiedeltes Gebiet aus der Luft zu attackieren, predigten der aufgeklärte Journalist und die mitfühlende TV-Moderatorin immer wieder. Bei solchen Angriffen kommen schließlich unweigerlich viele Zivilisten zu Tode, darunter viele Kinder.
Und stimmt das etwa nicht? Natürlich stimmt es. Es stimmte schon immer. Es stimmte im Frühjahr 1999, als die Nato – unter Mitwirkung der Bundeswehr – Jugoslawien zerbombte und neben 16 Zivilpersonen im Gebäude des staatlichen Fernsehsenders RTS und drei Zivilisten in der chinesischen Botschaft in Belgrad rund 500 weitere an den Kämpfen völlig unbeteiligte Menschen tötete. Es stimmte auch Ende 2001, als den US-Angriffen auf Afghanistan neben zahlreichen Gotteskriegern mehr als tausend Zivilisten zum Opfer fielen. Nebenbei: Wer damals die Meinung vertrat, der Krieg werde keine dauerhafte Lösung für Afghanistan bringen, wurde im Westen als Jihadisten-Freund denunziert. Die Zahl der Menschen, die von März 2003 bis Juni 2006 den Luftangriffen der US-geführten Koalition der Willigen im Irak zum Opfer fielen, wurde in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift »The Lancet« auf annähernd 80.000 geschätzt. Eine Studie der Boston University bezifferte die Zivilisten, die zwischen 2008 und 2015 in Afghanistan durch Nato-Luftangriffe zu Tode kamen, auf 1.766; die Opfer des US-Angriffs auf ein Krankenhaus in Kunduz im Oktober 2015 inbegriffen. Und die von Saudi-Arabien geführte Militärkoalition, die im Jemen gegen die Huthi-Rebellen Krieg führt – unterstützt von den USA und Großbritannien und nicht zuletzt mit deutschen Waffen –, hat seit März 2015 laut Berechnungen der Uno bereits über 2.400 Zivilpersonen getötet; mehr als jeder dritte ihrer Luftangriffe traf zivile Ziele.
Es gibt wenig Anlass zu vermuten, dass es in Mossul sehr anders kommt. Bei der Befreiung Tikrits und Ramadis von IS-Truppen hat es tatsächlich weniger zivile Opfer gegeben – weil aus beiden Städten die Bevölkerung zum größten Teil zuvor geflohen war. In Mossul aber war das am Morgen des 17. Oktober nicht der Fall. Ansonsten lässt gerade das Beispiel Ramadi für Mossul Schlimmes befürchten: Die Stadt wurde bei ihrer Befreiung zu 80 Prozent zerstört. Und was die Flucht aus der Stadt betrifft: Weil befürchtet wird, die gesamte Region könne im Chaos versinken, wenn allzu viele Menschen den Kämpfen zu entkommen suchten, sind die Bewohner/innen Mossuls aufgerufen worden, ihre Häuser nicht zu verlassen. Mit Blick auf die zu befürchtenden zivilen Opfer wird nun bereits vorsorglich verbreitet, der IS verbarrikadiere sich in Wohngebieten, missbrauche Zivilpersonen als menschliche Schutzschilde. Genauso hat es Al Qaida in Aleppo gemacht. Die Sache wäre vielleicht etwas weniger peinlich, hätten nicht Leute wie Katrin Göring-Eckardt (Grüne) verlangt, die Sanktionen gegen Russland wegen der brutalen Kriegführung in Aleppo zu verschärfen, oder hätte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), nicht mit Blick auf Aleppo großspurig erklärt: »Eine Folgen- und Sanktionslosigkeit schwerster Kriegsverbrechen wäre ein Skandal.«
Die Parallelen zwischen Aleppo und Mossul sind auch in anderer Hinsicht nicht zu übersehen. Beide Städte haben sich gegen eine Regierung aufgelehnt, von der sie sich – zu Recht oder Unrecht – benachteiligt fühlten. Für Aleppo – genauer: für den Osten der Stadt – ist das allgemein bekannt, für Mossul weniger. Der Journalist James Verini hat sich unlängst von einem aus der Stadt stammenden Soldaten berichten lassen, wie es kam, dass der IS die Metropole fast kampflos einnehmen konnte. In den Jahren ab 2003 sei im sunnitisch geprägten Mossul ein oppositioneller Untergrund erstarkt, der – politisch wie sozial höchst heterogen – sich nur in einem einig gewesen sei: dass es mit der schiitischen Regierung von Nuri al Maliki in Bagdad so nicht weitergehe, erläuterte der Soldat. Es sei eine krude Mischung aus Islamisten, Nationalisten, bewaffneten Banden und gelangweilten Arbeitslosen gewesen, die immer einflussreicher geworden sei – und schließlich im Juni 2014 gemeinsam mit den neu eintreffenden gerade mal 1.500 IS-Milizionären das alte lokale Establishment hinweggefegt habe.
Das aber bedeutet: Wenn der IS verjagt sein sollte, sind die Probleme in Mossul noch lange nicht gelöst; die Folgen des kriegerischen Umsturzes von 2003 sind noch heute spürbar. Ähnlich übrigens in Aleppo: Auch dort wird ein militärischer Sieg über die Jihadisten nicht die Diskrepanzen beseitigen, die zu den Protesten des Jahres 2011 geführt hatten. Klar scheint nur eines: Die westlichen Mächte sind nicht in der Lage, zur Lösung der Probleme beizutragen. Wären sie es, hätte sich die Situation im Irak und in Syrien nicht kontinuierlich verschlimmert, seit sie 1991 beziehungsweise 2011 den Versuch starteten, per Krieg und regime change die Hoheit über die Region zu gewinnen. Die Ära der westlichen Hegemonie ist aber wohl vorbei. Das zeigen auch die verzweifelten Versuche europäischer Staaten und der USA, Russland, um seinen Einfluss im Nahen Osten zu schmälern, Kriegsverbrechen vorzuwerfen, die sie selbst zahlreich begangen haben und weiterhin begehen werden. Der nächste Schauplatz heißt Mossul.
Jörg Kronauer
Aleppul
Nach Angaben der Vereinten Nationen waren seit Beginn der Offensive der irakischen Armee, kurdischer Milizen und einer Koalition unter Führung der USA gegen das vom IS besetzte Mossul bis Anfang Januar 136.000 Menschen aus dieser zweitgrößten Stadt des Landes geflohen. Die in Bedrängnis geratenen Terroristen hätten in Mossul schwere Kriegsverbrechen verübt, melden die deutschen Medien schmallippig beziehungsweise einspaltig bis gar nicht. Als der IS Teile Aleppos, der zweitgrößten Stadt Syriens besetzt hatte, Hunderttausende flohen und die in Bedrängnis geratenen Terroristen dort wüteten, setzten deutsche Politiker und die Einheizmedien die Befreier der Stadt mit Nazis gleich. »So verschieden ist es im menschlichen Leben« (Kurt Tucholsky, 1931).
Michael Schilling
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