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Heiße Enteignung

25.02.2013 13:06

Im Zuge der Krise verlieren immer mehr Menschen in Spanien ihre Wohnungen. Annika Müller schrieb in KONKRET 2/2013 über Leute ohne Häuser und Häuser ohne Leute.

Es war ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk für Josefa, Francisco und ihre sechs Kinder im Alter von ein bis zehn Jahren – sie durften die Weihnachtsfeiertage zu Hause verbringen. Denn eigentlich hätte die Familie ihre Wohnung in der katalanischen Provinzhauptstadt Lleida am 21. Dezember letzten Jahres verlassen müssen. Seit mehreren Monaten hatten Francisco und Josefa, beide langzeitarbeitslos und Ende dreißig, die Miete nicht mehr zahlen können.

Doch die Polizeibeamten, die die Zwangsräumung hätten durchführen sollen, drangen nicht einmal bis zur Wohnungstür durch: Einige Dutzend Demonstranten hatten mit roten »Stop«-Schildern bereits am frühen Morgen den Zutritt verstellt. Die Aktivisten der Plataforma d’Afectats per la Hipoteca (PAH), der Plattform der von einer Hypothek Betroffenen, hatten der Familie schon im Vorfeld zur Seite gestanden, sie auf die Ämter begleitet, Petitionen geschrieben, Anwälte besorgt. Die PAH, der sich nicht nur von einer Zwangsräumung Bedrohte, sondern auch Juristen, Psychologen und Sozialarbeiter angeschlossen haben, hat seit ihrer Gründung 2009 viel Erfahrung gesammelt und vor allem Frustrationstoleranz entwickelt: Nur rund 500 der weit über 400.000 Zwangsräumungen, die seit Beginn der Krise in Spanien vollstreckt wurden, konnte sie verhindern.

Im Fall von Josefa und Francisco, die ihren vollen Namen nicht in der Presse lesen wollen, hatten sie Erfolg. »Zuerst sagte man uns bei der Stadtverwaltung, daß die Räumung auf unbestimmte Zeit verschoben sei. Dann erfuhren wir durch einen befreundeten Anwalt, daß nun doch geräumt wird«, empört sich Eduard Balach, Sprecher der PAH in Lleida, über das Verwirrspiel der Behörden. Doch über Facebook gelang es der Gruppe, in Windeseile ausreichend Aktivisten und die Presse zu informieren.

Die Sozialwohnung, die bei Einzug der Familie 150 Euro, zuletzt aber 300 Euro Miete gekostet hat, gehört der Generalitat, wie die Autonomieregierung Kataloniens genannt wird. Doch die Misere von Francisco und Josefa ist auch auf das Ausbleiben von Hilfsgeldern der katalanischen Regierung zurückzuführen. Francisco hat Anspruch auf eine Invalidenrente, Josefa auf Sozialhilfe und Kindergeld. Aber das Geld von der Generalitat bleibt seit 2010 aus – der Staat ist pleite. Katalonien ist die am stärksten verschuldete Autonomieregion Spaniens. Die Demonstranten diktierten der lokalen Presse die Summen in die Schreibblöcke, auf die das Paar eigentlich Anspruch hätte. Ein Skandal vor Weihnachten kam der Stadtverwaltung ungelegen, und so wurden die Beamten wieder abgezogen. Jetzt soll sich ein Richter mit dem Fall befassen.

»Oft steht die Zwangsräumung am Ende einer langen Kette von Schicksalsschlägen«, erklärt Eduard Balach. Es beginnt mit dem Verlust der Arbeit, dann endet nach einigen Monaten die Arbeitslosenhilfe vom Staat. Mit der ersten nicht bedienten Monatsrate oder Mietzahlung fallen Verzugszinsen von 18 bis 21 Prozent an – damit geht es unaufhaltsam abwärts. »Wir erleben eine Situation, in der extreme Armut zum Massenphänomen wird«, sagt Marta Afuera Pons, Sprecherin der PAH Girona.

»Wir mußten uns oft entscheiden, ob wir Essen kaufen oder die Rate zahlen«, erinnert sich Joan Peinado. Der 57jährige und seine Familie – Peinados 84jährige Mutter, seine arbeitslose Tochter und der kleine Enkel – hätten ihr bescheidenes Heim in der Ortschaft Vidreres in der katalanischen Provinz Girona ebenfalls am 20. Dezember räumen müssen. Seit seine Frau ihn verlassen hat und seine arbeitslose Tochter bei ihm einzog, kann Peinado die Rate von 700 Euro im Monat nicht mehr zahlen. 

Peinados Familie lebt seit über 50 Jahren in dem bescheidenen Haus. Für Peinados Mutter ist ein Leben an einem anderen Ort unvorstellbar. Doch Joan Peinados kleine Invalidenrente und die Witwenrente seiner Mutter reichten gerade einmal für das Wesentliche: Essen, Medikamente, Kleider für den Enkel. Mit der ersten Räumungsklage 2010 erschienen auch in Vidreres die Demonstranten der PAH in ihren gelben T-Shirts. Doch sie konnten nur immer wieder etwas mehr Zeit für die Peinados herausschlagen, die inzwischen obendrein hohe Anwaltskosten zu tragen haben. Der endgültige Rauswurf steht bevor. 

Rund vier Millionen Menschen haben seit Beginn der Krise 2008 in Spanien ihre Arbeit verloren. Ganze Großfamilien leben oft nur noch von einem einzigen Einkommen, in manchen Haushalten hat überhaupt niemand mehr ein Gehalt. Doch selbst eine feste Anstellung ist keine Garantie dafür, nicht plötzlich auf der Straße zu stehen. Der 29jährige Carles Gimenez und die 26jährige Neus Matas haben beide eine gute Anstellung – er bei einer Straßenbaufirma, sie als Friseurin. Das junge Paar kaufte 2007 eine kleine Wohnung. »Damals stiegen die Preise so rasend, daß es uns das Vernünftigste schien, möglichst bald eine Wohnung zu kaufen«, erklärt Neus. So dachten viele Spanier. Ein Haus bedeutet traditionell Sicherheit. Vor der Krise gab es daher kaum einen Mietmarkt.

Doch die 700 Euro, die Neus Matas und Carles Gimenez anfangs im Monat zahlen mußten, stiegen mit der Krise auf eine monatliche Rate von zuletzt 1.800 Euro. Das war genau die Summe, die beide zusammen verdienten. Bis Ende 2008 wurden 98 Prozent der Hypothekenverträge in Spanien mit einer flexiblen Rate abgeschlossen. Auch heute noch haben in Spanien 85 Prozent der neuen Immobilienkaufverträge auf Kredit so einen Zinssatz – in Deutschland sind es nur 15 Prozent.

Als die Banken in die Klemme gerieten, trieben sie die Rückzahlungsraten in die Höhe. Manche Banken klagten sogar auf sofortige Rückzahlung der Gesamtsumme. Die wenigsten Schuldner wurden im Vorfeld über dieses Risiko aufgeklärt: »Man sagte uns, so etwas passiere in der Realität nie«, berichtet Gimenez. Tatsächlich ist dies aber nach 2008 zur Normalität geworden, so daß selbst Menschen mit gutem Einkommen reihenweise ihre Häuser an die Banken verloren haben.

Matas und Gimenez wollten die Schmach nicht erleben, von einem Räumungskommando vor die Tür gezerrt zu werden. Sie zogen einige Tage vor dem Termin zu Gimenez’ Eltern. Doch die Schulden sind sie damit nicht los. Die geräumten Wohnungen werden versteigert und geraten so häufig in den Besitz der Gläubigerbank – und zwar zu einem Preis, der weit unter dem realen Wert und vor allem weit unter dem hochspekulierten Kaufwert der Vorkrisenjahre liegt. Anders als etwa in den USA sind aber die Hypothekenschulden in Spanien mit der Übergabe der Wohnung an die Bank nicht abgegolten.

Im Fall von Gimenez und Matas sieht die Rechnung wie folgt aus: Die Wohnung in der katalanischen Kleinstadt Tarrega kostete die jungen Leute 180.000 Euro. Versteigert wurde sie für 38.000 Euro. Die Differenz plus Verzugszinsen bleibt als Schuld bestehen. »Wir werden ein Leben lang nur für die Bank arbeiten und außerdem nie wieder einen Kredit aufnehmen können«, erklärt Neus Matas resigniert: »Den Traum, eine Familie zu gründen, kann ich mir aus dem Kopf schlagen.

«Das amerikanische Modell, Schulden mit der Rückgabe der Immobilie an die Bank zu tilgen, fordern einflußreiche Richter und Staatsanwälte jetzt auch für Spanien. »Die Geldinstitute haben die Gerichte zu ihren Inkassobüros gemacht«, beklagt der Richterverband APM, der sich schon früh den Protesten gegen die Zwangsräumungen angeschlossen hat. Zahlreiche Richter kündigten im vergangenen Herbst an, sich künftig zu weigern, »legal richtige, aber moralisch falsche« Entscheidungen über Wohnungsenteignungen zu treffen. Sie halten die spanische Gesetzgebung aus dem Jahr 1909 für veraltet und kritisieren, daß sie den Wohnungseigentümern in den Räumungsverfahren kaum eine Chance lasse. »Wir haben ein Gesetz, das Geldinstitute übermäßig schützt und in einer völlig anderen sozialen Realität entstanden ist«, sagt Santiago Vidal, Richter am Regionalgericht in Barcelona. »Wir dürfen nicht zulassen, daß die Banken Immobilien zu einem Spottpreis von den Schuldnern bekommen, diese gewinnbringend wieder verkaufen und so eine neue Runde der Spekulation eröffnen.« Vidal schlägt vor, die Banken zu verpflichten, Immobilien zu mindestens 80 Prozent des ursprünglichen Preises zurückzunehmen.

Sieben Gerichtsleiter in Barcelona haben stellvertretend für rund 2.000 spanische Richter ein Manifest erarbeitet, in dem sie fordern, daß der Staat einen Teil der Milliardenhilfen für die Sanierung der Banken überschuldeten Familien gewähren solle. Der Consejo General del Poder Judicial, der Generalrat der rechtsprechenden Gewalt, lehnte im Herbst 2012 Reformen ab und erhielt darauf einen Rüffel vom Europäischen Gerichtshof: Dieser befand, das spanische Zwangsräumungsgesetz verletze europäische Normen, weil es den Kunden nicht vor mißbräuchlichen Vertragsklauseln bei Hypotheken schütze.

Für ihre riskante Kreditvergabepraxis – selten wurde überhaupt die Kreditwürdigkeit der Schuldner geprüft, Warnungen vor »faulen Krediten« aus Europa wurden indes oft in den Wind geschlagen – sind die Banken bisher nicht zur Rechenschaft gezogen worden. Die Folgen der Immobilienzockerei tragen die jungen Spanier, die ihr Berufsleben mit einer erdrückenden Schuldenlast beginnen, die Eltern und Großeltern, die ihrer Häuser als Bürgschaft für den Kredit des Sohnes oder Enkels eingesetzt und verloren haben, die vielen Familien ohne ein Dach über dem Kopf.

Bankia zum Beispiel, die Bank von Peinado, Gimenez und Matas, erhielt im Herbst 2012 eine Finanzspritze von 4,5 Milliarden Euro aus dem staatlichen Rettungsfonds, nachdem sie infolge ihrer Verluste im Immobiliengeschäft ins Schlingern geraten war. »Die Regierung will 60 Milliarden Euro für die Sanierung von Banken aufwenden, aber nichts für die Menschen, die ihre Wohnungen verlassen müssen«, kritisierte der sozialistische Abgeordnete und Exarbeitsminister Valeriano Gómez im Herbst. Doch auch unter der sozialistischen PSOE-Regierung und Ministerpräsident Zapatero war zwar Geld für Bankenrettungen bereitgestellt worden, nicht aber für die geprellten Kunden. Zapatero hatte Reformvorschläge im Zusammenhang mit den Zwangsräumungen abgelehnt, da sie »das Finanzsystem belasten«.

Bis November 2012 hatte sich die Politik ohnedies wenig mit den Zwangsräumungen befaßt und die Banken gewähren lassen. Es mußte erst zur Katastrophe kommen: Eine frühere sozialistische Ratsfrau aus Barakaldo (Baskenland) stürzte sich Anfang November in den Tod, während der Gerichtsvollzieher gerade die Treppe ihres Hauses hinaufstieg. Der Suizid in Barakaldo fand zwar die besonders starke Aufmerksamkeit der Medien, war aber kein Einzelfall: Seit Oktober letzten Jahres sind acht Menschen kurz vor der Zwangsräumung der Wohnung oder des Hauses aus dem Fenster oder vom Balkon gesprungen. Nur ein 53jähriger überlebte in Valencia schwer verletzt.

Das letzte Opfer im Jahr 2012 war Dolores García. Sie verlor 2009 ihr Zigarrengeschäft im Stadtteil Los Corazones in Málaga. Die 52jährige versorgte zu Hause ihre 96jährige Mutter. Beide sollten im Dezember vor die Tür gesetzt werden. Dazu kam es nicht mehr. Dolores García stürzte sich am 14. Dezember vom Balkon der winzigen Wohnung und war sofort tot. Das neue Jahr begann mit ähnlichen Schreckensmeldungen: Innerhalb von 24 Stunden verbrannten sich Anfang Januar in Málaga zwei Männer. In der Provinz Málaga, der einzigen Region, aus der offizielle Zahlen zu Selbsttötungen vorliegen, haben sich in den Jahren 2010 bis 2012 jährlich rund 170 Menschen das Leben genommen – dreimal mehr als in den Jahren vor der Krise.

Erst diese Selbsttötungen zwangen den konservativen Ministerpräsidenten Rajoy zu einer Reaktion. Nun ist in Härtefällen ein Moratorium von bis zu zwei Jahren vorgesehen. Aber nachdem Wirtschaftsminister Luis de Guindos im November in Brüssel noch angekündigt hatte, es sollten 600.000 Familien von der Neuregelung profitieren, machte er wenige Tage später wieder einige Schritte zurück: Lediglich bis zu 120.000 Familien kämen für die Härtefallregelung in Frage.

Um als Härtefall zu gelten, dürfen die jährlichen Einkünfte einer Familie 19.000 Euro nicht überschreiten und die im Elternhaus lebenden Kinder nicht über drei Jahre alt sein. Die Kriterien, so die PAH, würden nur auf eine sehr geringe Zahl der Fälle zutreffen. Von den 172 Zwangsräumungen, die in der 140.000- Einwohner-Stadt Lleida Anfang 2013 anstünden, würde nur für zwei das Moratorium überhaupt in Frage kommen. Auch würde in den zwei Jahren der Duldung durch die Verzugszinsen der Schuldenberg der Betroffenen weiter wachsen. »Das Moratorium ist nur ein Schönheitspflaster«, kritisiert Richter Vidal.

Als besonders skandalös wird empfunden, daß kein Schutz für Kinder über drei Jahren vorgesehen ist. Denn besonders für Kinder ist der Rauswurf aus der eigenen Wohnung ein traumatisierendes Erlebnis. »Sie leiden hinterher oft unter Angstzuständen und werden überdurchschnittlich oft zu Schulversagern«, zitiert César Guerrero von der PAH Barcelona eine Studie, die Erziehungswissenschaftler und Psychologen im Auftrag der Aktivisten erstellt haben. Oft geht die Vollstreckung der Zwangsräumung brutal vonstatten. Besonders wenn sich Betroffene weigern, die Wohnung/das Haus zu verlassen, sind die Einsatzkräfte oft wenig zimperlich, treten Türen ein, zerren die Leute auf die Straße, wo schon die Presse wartet.

Der 40jährigen Maria Pilar Fontanellas steht der Schrecken, den eine Zwangsräumung mit sich bringt, ins Gesicht geschrieben. Sie erlitt eine irreversible Gesichtslähmung, als die Familie das Haus verlassen mußte. »Das kommt vom Streß, haben die Ärzte gesagt«, erklärt ihr Partner Juan Vicente López. »Sie müßte sich unbedingt schonen.« Doch das ist unmöglich. Die ständige erfolglose Suche nach Arbeit, die zurückliegenden Monate ohne feste Bleibe, die Sorge um die drei Kinder von einem, fünf und zwölf Jahren haben die beiden frühzeitig altern lassen.

Es schien, als hätten sie noch Glück im Unglück gehabt. Doch die kleine Sozialwohnung, in der sie derzeit wohnen, könnten sie schon im Januar wieder verlieren. Denn dann endet, so ist die Sozialgesetzlage, die Zahlung von 399 Euro monatlich vom Sozialamt. Es bleiben dann 75 Euro monatlich aus einem Sozialfonds und das Essen, das die Kirche der Familie spendet. Das ist kein würdiges Leben, sagt Juan Vicente. Wären da nicht die Kinder, so deutet er an, wäre er schon längst nicht mehr hier. Hier, das bedeutet »am Leben«.

Nur langsam scheint die kalte Routine der Zwangsenteignungen aufzubrechen. Die größte spanische Polizeigewerkschaft SUP sicherte Polizisten juristische Hilfe zu, die nicht an Zwangsräumungen teilnehmen wollen. Kutxabank, eine Bank im Baskenland, versprach nach dem Selbstmord in Barakaldo umgehend, auf Zwangsvollstreckungen zu verzichten.

Doch noch immer werden täglich mehr als 500 Wohnungen in Spanien zwangsgepfändet und Menschen auf die Straße gesetzt, während je nach Schätzung 600.000 bis 3,1 Millionen Wohnungen im Land leerstehen. Die von der Regierung jüngst geschaffene »Bad Bank« hat sogar den Auftrag, Wohnblöcke abreißen zu lassen, für die es am Markt keinen Bedarf gebe. »Leute ohne Häuser und Häuser ohne Leute, das macht doch keinen Sinn«, findet Eduard Balach. »Das Recht auf ein Dach über dem Kopf ist schließlich in unserer Verfassung verankert.«

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