05.12.2014 12:08
Gedächtniskunst von Tjark Kunstreich
Man könnte meinen, unser Gedächtnis kenne zuweilen das, was dem Entwicklungsvorgang des Polaroidfotos ähnelt«, schreibt Patrick Modiano in seinem Roman Ein so junger Hund. Der Ich-Erzähler erinnert sich plötzlich in aller Deutlichkeit an eine Begebenheit aus dem Jahr 1964 und beschließt, dieser Erinnerung nachzugehen. Der Fotograf Francis Jansen hatte seine Freundin und ihn in einem Café angesprochen, ob er sie fotografieren dürfe. Dieses Foto: »Wir sitzen auf einer Bank, meine Freundin und ich. Ich habe den Eindruck, es sind andere Personen als wir, wegen all der Zeit, die verflossen ist, oder gar wegen etwas, was Jansen durch sein Objektiv gesehen hat und was wir selbst damals nicht hätten sehen können, wenn wir uns vor einen Spiegel gestellt hätten: zwei junge Menschen, anonym und verloren in Paris.« Später lernt der Erzähler den Fotografen besser kennen, einen Freund von Robert Capa. Der Fotograf verschwindet, und die Recherche wird zu einem in scharfer Kontur gezeichneten Panorama des Nachkriegs-Paris. Im Roman fängt Modiano jenes Licht ein, nach dem Jansen auf der Suche war und dessentwegen er Paris gen Mexiko verlässt.
In seinem gerade auf Deutsch erschienenen vorletzten Buch Gräser der Nacht verfolgt Modiano sein Anliegen weiter, der Erinnerung Genüge zu tun. Oft sind die Figuren seiner Bücher verschwunden, und ein alltäglicher Anlass bringt die Frage nach dem Warum wieder zu Bewusstsein. »Konnte es wirklich sein, dass ein Doppelgänger, den ich hier zurückgelassen hatte, immer weiter jede meiner alten Bewegungen wiederholte, meine alten Wege ging bis in alle Ewigkeit? Nein, hier war nichts mehr von uns übrig. Die Zeit hatte Tabula rasa gemacht.« Das Objekt der Recherche in diesem Roman ist Dannie, mit der der Erzähler Mitte der sechziger Jahre eine dreimonatige Liebesgeschichte hatte und die wahrscheinlich verschwand, weil sie in die Affäre um den Mord an einem marokkanischen Exilpolitiker verstrickt war.
Mit jedem seiner Bücher scheint Modiano die eigentliche Handlung weniger zu interessieren, vielmehr treibt ihn um, wie Erinnerung überhaupt funktioniert; so vermischen sich Fiktionen und Fakten. Gräser der Nacht dreht sich um ein schwarzes Notizbuch, in dem der Erzähler alles aufgeschrieben hatte; allein, dieses Notizbuch hat er nicht dabei, als er die Orte aufsucht, die für Dannie und ihn bedeutsam waren. So erinnert er sich nicht nur an das, was diese Orte in ihm hervorrufen, sondern versucht auch zu rekapitulieren, was er damals aufgeschrieben hat.
Modiano unternimmt diese Recherchen in einem unprätentiösen Ton, seine Bücher sind entsprechend leicht, aber eben nicht gefällig zu lesen. »Modianos Texte sind einfach, ähneln der gesprochenen Sprache, sind zugleich aber sehr poetisch. Deshalb bereitet es mir zuweilen ziemliche Mühe, äquivalente Rhythmen und Melodien zu finden. In der deutschen Sprache verfällt man allzuleicht in einen gehobenen Ton, der Modiano nicht entspricht«, erläuterte seine kongeniale Übersetzerin Elisabeth Edl jüngst in einem Interview mit dem »Tagesanzeiger«. »Seine obsessive Lektüre merkt man seinen Texten an. Mal klingt’s nach Proust – und dann plötzlich wieder nach einem amerikanischen Krimi.«
Angelpunkt der meisten seiner bislang 28 Bücher ist das Paris der sechziger Jahre, von da aus geht es zum einen in die jeweilige Gegenwart des Autors und seines Erzählers und zum anderen zurück in die Zeit der Besatzung. Diese zeitliche Trias ist für Modianos Kompositionen prägend; er sagt auch, dass er den Eindruck habe, seit 45 Jahren am selben Buch zu arbeiten. Die Schlichtheit und Nüchternheit des Werks widersprechen jedem Pathos der Erinnerung, was ein Grund dafür sein dürfte, dass Modiano über den französischen Sprachraum hinaus, wo er sehr erfolgreich ist, und vor allem in Deutschland ein Unbekannter geblieben ist. La Place de l’Étoile, sein erster Roman, erschien pünktlich im Mai 1968, jedoch erst 2010 in deutscher Sprache. Die Geschichte des Raphaël Schlemilovitch, der vor, während und nach der Besatzung versucht herauszufinden, was es heißt, ein Jude zu sein, wurde angeblich wegen der scharfen antiisraelischen Aussagen nicht ins Deutsche übertragen; selbst in Frankreich soll die Veröffentlichung des Romans ein Jahr verschoben worden sein, weil der Verlag Gallimard kurz nach dem Sechstagekrieg keinen Skandal wollte. Modiano selbst hat in späteren Auflagen die Parallelisierung des israelischen und des deutschen Militarismus herausgekürzt oder verändert.
Mir sind schon beim ersten Lesen vor Jahrzehnten diese Passagen gar nicht aufgefallen. Schlemilovitchs Reise durch die Welt der Kollaboration verliert sich keineswegs darin, jüdischen Selbsthass zu feiern: Die bittere Ironie, mit der der Verrat der grande nation an den jüdischen Staatsbürgern überhaupt erstmals in der französischen Literatur thematisiert wird, vermittelt auch bei abermaliger Lektüre das ungeheure Ausmaß der Identifikation mit den Nazis, die selbst vor den Juden nicht haltmachte – wie auch? Die ganzen Lügen, mit denen man sich nach 1944 am Leben gehalten hat, werden als Wahngebilde entlarvt; Modiano selbst spricht davon, dass er an einer »Literaturvergiftung« gelitten habe. Am Ende liegt Schlemilovitch in einem psychoanalytischen Ambulatorium in Wien-Pötzleinsdorf, nachdem man ihn am Franz-Josefs- Kai gefunden hat. Dr. Freud zitiert Sartre und sagt zu dem Juden, der nur weiß, dass er als Jude verfolgt wird: »Sie sind kein Jude, Sie sind ein Mensch unter anderen Menschen, das ist alles. Sie sind kein Jude, ich wiederhole es noch einmal, Sie haben einfach nur halluzinatorische Delirien, Wahnvorstellungen, weiter nichts, eine ganz leichte Paranoia … Niemand will Ihnen Böses tun, alle möchten nur nett zu Ihnen sein. Wir leben heute in einer friedlichen Welt. Himmler ist tot, wie kommt es, dass Sie sich an all das erinnern, Sie waren noch gar nicht geboren, kommen Sie, seien Sie vernünftig, ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, ich …«
Schlemilovitch will sich aber nur von Dr. Bardamu (der im Roman für Louis-Ferdinand Céline steht, nach einer Figur aus dessen Reise ans Ende der Nacht) behandeln lassen: »Jude wie ich« – eben ein Antisemit, der weiß, dass es Juden gibt; eine Verrücktheit, die Resultat der Besatzungszeit ist und die den Autor umtreibt.
Modiano wurde 1945 als Sohn eines sephardischen Juden und einer flämischen Schauspielerin geboren. Seine Eltern hatten 1944 geheiratet, der Vater unter falschem Namen, er lebte während der Besatzung in der Illegalität und überlebte mit Schwarzmarktgeschäften. Im autobiographischen Familienstammbuch beschreibt Modiano, wie sein Vater nie wieder aus diesem Überlebensmodus heraustreten konnte; er hatte mit den Deutschen seine Geschäfte gemacht. Albert Modiano wurde 1942 einmal verhaftet, aber auf einen Fingerzeig von hoher Stelle wieder freigelassen. Mit 17 Jahren brach Patrick Modiano mit seinem Vater und sah ihn nicht wieder.
Nach den ersten drei Büchern, die, wie Modiano selbst es beschreibt, dem Widerspruch von persönlicher Identität und der Verweigerung von Identifikation gewidmet sind, entwickelte Modiano den Klang, der für sein Werk prägend ist. Psychologische (Selbst)Erforschung– wie bei W. G. Sebald, mit dem Modiano im englischsprachigen Raum verglichen wird – findet bei Modiano nicht statt, aber gerade das macht die tiefe (und darin der psychoanalytischen »freien Assoziation« verbundene) Liebe zur Vergegenwärtigung aus, die aus seinem Werk spricht. Modiano hat die Freiheit, nicht urteilen zu müssen, und er ist auch deswegen weit davon entfernt, ein politischer Autor zu sein. Dass dies für ihn nicht ausschloss, gemeinsam mit Louis Malle das Drehbuch für dessen umstrittenen Film »Lacombe, Lucien« zu schreiben, die Geschichte eines jungen Kollaborateurs in der französischen Provinz, ist Ausdruck eines ästhetischen Engagements für die Wahrheit in der Kunst.
Anlässlich des Erscheinens des von Serge Klarsfeld herausgegebenen Mémorial des enfants juifs déportés de France veröffentlichte Modiano am 2. November 1994 in der »Libération« seinen einzigen in eine politische Debatte intervenierenden Text unter der Überschrift »Mit Klarsfeld, gegen das Vergessen«, in dem er für eine Erinnerung in Form genauer Recherche plädiert und über seine Scheu berichtet, zu Klarsfeld und zu dem verehrten Autor Georges Perec je Kontakt aufzunehmen. Er hat Glück gehabt als Nachgeborener und schämte sich, mit jenen in Kontakt zu treten, die als Juden verfolgt worden sind. Von Perec, den wie ihn selbst Raymond Queneau gefördert hat, ließ sich Modiano 1978 zum Titel Rue des Boutiques Obscures (Die Gasse der dunklen Läden) inspirieren, der Geschichte eines Gedächtnisverlusts, die dem Autor den Prix Goncourt einbrachte. Perec hatte 1973 unter dem Titel La Boutique Obscure ein Buch herausgebracht, in dem er 124 Träume auflistete. Modianos Literatur ist voll von solchen Bezügen zu anderen Autoren. 1997 erscheint Dora Bruder, kein Roman, sondern eine Recherche über ein 15jähriges jüdisches Mädchen, das 1941 in Paris untertauchte, aber 1942 während der großen Razzia verhaftet und später ermordet wurde.
Sicher nicht zufällig war es Peter Handke, der Modiano dem deutschen Kosmos zugänglich gemacht hat. 1985 übersetzte Handke Eine Jugend – ein fast heiterer Roman, in dem ein Paar sich an die Jahre der Besatzung erinnert, die es zufällig überlebte. In diesem Roman steht die Freude am Zufall im Vordergrund.
Erwähnte ich bereits, dass Modiano den Literaturnobelpreis 2014 erhalten hat? Lesen Sie selbst!
Patrick Modiano: Ein so junger Hund. Aus dem Französischen von Jörg Aufenanger. Aufbau, Berlin 2014, 112 Seiten, 14,95 Euro
Ders.: Gräser der Nacht. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser, München 2014, 176 Seiten, 18,90 Euro Ders.: Place de l’Étoile. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. DTV, München 2012, 192 Seiten, 8,90 Euro
Ders.: Dora Bruder. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. DTV, München 2013, 160 Seiten, 9,90 Euro
Ders: Eine Jugend. Aus dem Französischen von Peter Handke. Suhrkamp, Berlin 2014, 187 Seiten, 9 Euro
Ders.: Pariser Trilogie: Abendgesellschaft, Außenbezirke, Familienstammbuch. Aus dem Französischen von Walter Schürenberg. Suhrkamp, Berlin 2014, 359 Seiten, 10 Euro
Ders.: Die Gasse der dunklen Läden. Aus dem Französischen von Gerhard Heller. Suhrkamp, Berlin 2014, 160 Seiten,
9 Euro
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