16.10.2019 14:40
Die Neuwahlen haben Israel ein politisches Patt beschert, das nicht auflösbar zu sein scheint. Von Alex Feuerherdt
Auch nach den September-Neuwahlen hat sich die politische Pattsituation in Israel nicht aufgelöst, doch man verliert seinen Humor nicht. »Die Bevölkerung ist sich einig, dass der neue Regierungschef ein Sicherheitsexperte mit aschkenasischem Hintergrund im Alter zwischen 60 und 70 sein sollte, der den Vornamen Benjamin trägt«, hieß es in einer Nachrichtensendung trocken. Damit war die Situation auf den Punkt gebracht: Die politischen und biografischen Gemeinsamkeiten zwischen Premierminister Benjamin Netanjahu (Likud) und seinem Herausforderer Benjamin Gantz vom Bündnis Blau-Weiß sind größer als ihre Unterschiede. Dennoch scheint es kaum einen Weg aus der Sackgasse zu geben, die schon die Parlamentswahlen im April hervorgebracht hatten. Auch damals lagen Likud und Blau-Weiß gleichauf.
33 von 120 Sitzen in der Knesset hat Blau-Weiß diesmal gewonnen, einen weniger der Likud. Die Standpunkte dieser beiden Parteien in Fragen der Sicherheits- und Außenpolitik, des Verhältnisses zu den Palästinensern, des Friedensprozesses, der israelischen Siedlungen, der Sozial- und Wirtschaftspolitik sowie des Umgangs mit den arabischen Nachbarstaaten und dem Iran sind sich sehr ähnlich. Gantz war unter Netanjahu zwischen 2011 und 2015 General-stabschef der israelischen Armee, die Zusammenarbeit lief gut. Dennoch bestehen die beiden Benjamins darauf, dass der jeweils andere auf keinen Fall Regierungschef werden darf. Gegen Netanjahu laufen mehrere Ermittlungsverfahren wegen Amtsmissbrauch und Bestechung, die im Falle einer Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe führen könnten. Seine Absicht, sich als Premierminister Immunität zu verschaffen, stößt nicht nur bei Gantz und seiner Partei auf entschiedene Ablehnung, sondern hat zu Protestdemonstrationen geführt, an der auch die Führungen der Oppositionsparteien teilgenommen haben.
Trotzdem hat Staatspräsident Reuven Rivlin ihn erneut mit der Regierungsbildung beauftragt und dabei den Wunsch geäußert, dass Likud und Blau-Weiß zu einer Einheitsregierung zusammenfinden, also gewissermaßen zu einer großen Koalition. Das brachte ihm Kritik ein, denn in Israel nimmt der Präsident normalerweise nur repräsentative Aufgaben wahr. Doch Rivlin ließ sich nicht beirren: »In seltenen Momenten muss der Präsident kraft seines Amtes einschreiten, um das System, das Schwierigkeiten hat, in die Bahn zu kommen, zu leiten und auszuloten.« Auch Knessetsprecher Juli Edelstein plädierte für ein Bündnis der beiden größten Parteien und bemühte dafür sogar die Geschichte. Zweimal, sagte er, hätten unüberwindliche Meinungsverschiedenheiten zur Auflösung eines jüdischen Staatswesens geführt: einmal nach den Königen David und Salomo und einmal im Staat der Hasmonäer, was zur römischen Besatzung und letztlich zur Zerstörung des Tempels führte. Nun drohe ein drittes Mal.
Dieser Vergleich mag übertrieben sein, doch die Situation ist für Israel in der Tat unangenehm, und es ist unklar, wie das Patt aufgelöst werden soll. Denn andere mögliche Koalitionen kommen in der Knesset nicht auf eine regierungsfähige Mehrheit (die liegt bei 61 Sitzen). Netanjahu hat den Rückhalt der 55 Abgeordneten des Likud, der orthodoxen Parteien und der Rechten. Nachdem das Endergebnis feststand, verkündete er, dass dieser Parteienblock bei den Koalitionsverhandlungen nur gemeinsam auftreten werde. Gantz unterstützten zunächst nur die 44 Parlamentarier von Blau-Weiß, der Arbeitspartei und dem Demokratischen Lager. Mittlerweile haben sich jedoch auch zehn von 13 Abgeordneten der Vereinten Liste angeschlossen, so dass Gantz 54 Knesset-Mitglieder hinter sich hat. Es ist das erste Mal seit 1992, seit Yitzhak Rabin, dass arabische Abgeordnete einen zionistischen Politiker unterstützen. »Wir wollen, dass Netanjahu abgesetzt wird«, sagte der Vorsitzende Ayman Odeh.
Eine Mehrheit könnte zustande kommen, wenn sich Israel Beitenu – die Partei des früheren Außenministers Avigdor Lieberman, die acht Sitze gewann – dazu entschließen würde, sich einem der beiden Blöcke anzuschließen. Doch der säkulare Lieberman hat es, wie schon nach der April-Wahl, mehrfach kategorisch ausgeschlossen, mit den Religiösen zu koalieren, an denen Netanjahu festhält. Auch ein Regierungsbündnis, an dem die antizionistische Vereinigte Arabische Liste beteiligt ist, kommt für Lieberman nicht in Frage. Für Blau-Weiß wiederum ist es undenkbar, einer Koalition beizutreten, der orthodoxe und rechte Parteien angehören. Zudem will man nicht mit Netanjahu regieren, solange dieser unter Korruptionsverdacht steht. Eine Regierung unter Mitwirkung des Likud, aber ohne Netanjahu wird allerdings nicht in Betracht kommen, denn zu einem Rücktritt ist der Premierminister nicht bereit.
Verschiedene israelische Medien mutmaßen, es könnte Blau-Weiß durchaus recht sein, dass Netanjahu von Rivlin als erster mit der Regierungsbildung beauftragt wurde. Denn sollte er dabei scheitern, wäre es für Gantz’ Union womöglich leichter, den Likud davon zu überzeugen, dass Netanjahus Zeit als Regierungschef und Parteivorsitzender abgelaufen ist. Die linke Tageszeitung »Haaretz« gibt jedoch zu bedenken, dass diese Spekulation nicht aufgehen könnte. Denn Netanjahu habe genügend Zeit, um »den Schlüssel zu seinem Königreich an Lieberman zu übergeben, im Austausch gegen Immunität«. Eine große Koalition könnte auch daran scheitern, dass es bei einer möglichen Rotation auf dem Posten des Premierministers zu keiner Einigung kommt, wer ihn zuerst übernimmt. Der Amtsinhaber besteht genauso darauf wie der Vorsitzende der Partei mit den meisten Sitzen in der Knesset.
Im Wahlkampf hatten nicht nur die Korruptionsvorwürfe gegen Netanjahu im Mittelpunkt gestanden, sondern auch die Privilegien und der Einfluss der Religiösen im jüdischen Staat. Selbst eine knappe Mehrheit der Likud-Wähler will keine Beteiligung der Orthodoxen an der Regierung mehr, bei den Blau-Weiß-Wählern sind es sogar 90 Prozent. Orthodoxe müssen keinen Wehrdienst leisten, was Lieberman unbedingt ändern will. Seiner Forderung, dass der öffentliche Nahverkehr und der Handel am Sabbat nicht länger ruhen sollen, stimmt ein großer Teil der säkularen Israelis zu. Diesen sind zudem die vielen Sozialleistungen und Subventionen für Orthodoxe ein Dorn im Auge. Die religiösen Parteien wiederum machen ihre Beteiligung an der Regierung davon abhängig, dass das Thorastudium als Ersatz für den Wehrdienst anerkannt wird. Kompromisse erscheinen angesichts dieser Gegensätze schwer vorstellbar, weitere Neuwahlen will jedoch kaum jemand. Ob und wie dieses Problem gelöst wird, ist noch völlig offen.
Alex Feuerherdt schrieb in konkret 9/19 über antisemitische Verschwörungstheorien in Deutschland
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