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»Nicht schon wieder«

24.04.2017 14:10

Mit Bildungsarbeit gegen Antisemitismus? Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, fordert eine stärkere Auseinandersetzung mit antisemitischen Einstellungen bei muslimischen Geflüchteten und schlägt auch Besuche von KZ-Gedenkstätten vor. In literatur konkret 41 schrieb Olaf Kistenmacher über die Möglichkeiten und Grenzen des Kampfes gegen judenfeindliche Ressentiments mit pädagogischen Mitteln.

 

Seit rund 15 Jahren ist Antisemitismus an deutschen Schulen nicht nur im Geschichtsunterricht Thema. Unter Jugendlichen ist Jude ein gängiges Schimpfwort, Schülerinnen und Schüler zeigen sich fasziniert von Verschwörungstheorien über 9/11 oder sehen in dem Staat Israel das Böse schlechthin. Während es zum Lehrauftrag gehört, die Geschichte des Judentums oder des Antisemitismus zu unterrichten, macht diese neue Situation etwas anderes erforderlich: mit pädagogischen Mitteln judenfeindlichen Ressentiments entgegenzuwirken.

Zu diesem Zweck gründeten sich 2002/03 in Berlin die Bildungsbausteine gegen Antisemitismus und die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (Kiga), entwickelten Module für die Bildungsarbeit und führen seitdem Workshops mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch. Mittlerweile zählt das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Deutschland 13 Projekte, die sich dieser pädagogischen Arbeit verschrieben haben. Die bekannteste ist die Amadeu-Antonio-Stiftung, die ein breites Themenspektrum hat und bundesweit agiert. Seit 2011 tauschen sich die entsprechenden Initiativen jährlich in der Tagungsreihe »Blickwinkel« aus.

Die Pädagogik gegen Antisemitismus stößt, wie Barbara Schäuble in ihrer Untersuchung »Anders als wir«. Differenzkonstruktionen und Alltagsantisemitismus unter Jugendlichen ausführt, auf ein Grundproblem, das bei Jugendlichen ebenso besteht wie bei Erwachsenen. Die wenigsten halten sich selbst für judenfeindlich. Zugleich sind Themen, die mit Judenfeindschaft zu tun haben, bei vielen mit einem Tabu belegt. Fragt man allerdings nach, dann gelten Juden vielen Jugendlichen als »anders« als sie selbst, und antisemitische Aussagen erhalten bei ihnen bis zu 40 Prozent Zustimmung. »Antisemitismuskritische Bildungsprozesse«, so Schäuble, liefen deswegen stets Gefahr, »in Widerspruch zum Selbstbild der Jugendlichen zu geraten« und deswegen auf Widerstände zu stoßen.

Lange Zeit verließ man sich in der Bildungsarbeit auf die Wirkung von KZ-Gedenkstätten und Holocaust Education. Wenn Heranwachsende über die Vernichtungspolitik der Deutschen umfassend aufgeklärt würden, dann, so eine nach wie vor verbreitete Meinung, würden judenfeindliche Vorstellungen verschwinden. Eine solche Auffassung ignoriert jedoch die Erkenntnisse der Kritischen Theorie, nach denen das Wissen um diese Verbrechen die zugrundeliegenden Ressentiments nicht notwendigerweise beseitigt, sondern sogar auf neue Weise befördern kann, weil es latente Schuldgefühle aktiviert, die abgewehrt würden. Dass dieser sekundäre oder Schuldabwehr-Antisemitismus auch im 21. Jahrhundert existiert, bestätigen Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz in Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert durch ihre Analyse der Briefe und E-Mails, die der Zentralrat der Juden in Deutschland (ZJD) und die Israelische Botschaft in Berlin erhalten. Im Mai 2006 schrieb eine Person an den ZJD: »Aber wir müssen ja wieder an unsere ewige Kollektivschuld erinnert werden. Immer und immer wieder – bis es auch dem letzten zum Hals raushängt und sich antisemitische Gefühle entwickeln.« Es ist offensichtlich, dass diesem Schuldabwehr-Antisemitismus nicht mit einem Gedenkstättenbesuch beizukommen ist.

Die Module, die die Berliner Bildungsbausteine und die Kiga entwickelt haben, setzen bei gegenwärtigen, alltäglichen Formen der Judenfeindschaft an. Das Modul »Ein deutscher Jude gibt auf« baut auf einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 2003 auf. In Berlin wandelt ein Lebensmittelhändler, ein gläubiger Jude, nach einigen Jahren sein Geschäft in einen koscheren Laden um, klebt kleine Davidsterne an die Scheibe und hängt die israelische Fahne über die Tür. Kurz darauf bedrohen ihn regelmäßig Neonazis, die morgens vorfahren. Ein Fernsehbericht von Radio Berlin-Brandenburg über den Fall konzentriert sich auf das Umfeld im Stadtteil. Eine Nachbarin sagt vor laufender Kamera, sie alle seien »keine Ausländerfeinde oder sowas, aber wenn der auf einmal die Judenfahne raushängt, dann fassen wir uns an den Kopf«. Für fast alle Interviewten ist ein bekennender Jude ein Fremder. Der Film endet damit, dass Dieter T., der Ladenbetreiber, in Berlin geboren und aufgewachsen, nach Israel auswandert.

Lehrerinnen und Lehrer zeigen sich vom Thema Nahostkonflikt oft überfordert. Dabei ist es weniger das fehlende Wissen als die emotionale Aufladung des Themas, die es ihnen schwermacht. Lehrkräfte sind an der Situation mitunter mit schuld. Ein Geschichtslehrer, der unbedingt betonen muss, dass er »auch ein Problem mit der Politik Israels« hat, man »dagegen in Deutschland aber kaum etwas sagen« könne, darf sich nicht wundern, wenn er in seiner Klasse antisemitische Vorstellungen schürt. In der Pädagogik gegen Antisemitismus muss es deswegen der erste Schritt sein, die deutsche Diskussion über den Nahostkonflikt selbst zu hinterfragen. Warum erregen getötete palästinensische Kinder die Gemüter mehr als der Tod von israelischen, syrischen oder libyschen Kindern? Die Jugendlichen, die sich heutzutage propalästinensisch geben, sind selten direkt oder familiär vom Konflikt zwischen Israel und Palästina betroffen, während die Kinder, die tatsächlich aus Kriegsgebieten geflohen sind, sich häufig deutlich moderater äußern. Manche 14- oder 15jährige sind in ihrer antiisraelischen Haltung schon durch die Tatsache zu erschüttern, dass rund 20 Prozent der Israelis zur arabischen Bevölkerung gehören und mehr als 16 Prozent Muslime sind. Die Position anderer Jugendlicher kann man dadurch in Frage stellen, dass man sie Ausschnitte aus der Hamas-Charta lesen lässt, in der es heißt: »Ansätze zum Frieden« stünden, wie die Hamas über sich in der dritten Person schreibt, »sämtlich im Widerspruch zu den Auffassungen der Islamischen Widerstandsbewegung. Denn auf irgendeinen Teil Palästinas zu verzichten, bedeutet, auf einen Teil der Religion zu verzichten; der Nationalismus der Islamischen Widerstandsbewegung ist ein Bestandteil ihres Glaubens.« Wie wäre also ein Frieden mit der Hamas möglich?

Nach einer Fortbildung für Teamerinnen und Teamer gab ein Teilnehmer zu, dass er sich zunächst gegen das Thema Antisemitismus gesträubt habe: »Erst dachte ich: Nee, nicht schon wieder.« Solche Gefühle geben Pädagoginnen und Pädagogen, auch ungewollt, an andere weiter. Workshops gegen Antisemitismus sind am erfolgreichsten, wenn sie allen Beteiligten Spaß machen. Die Kiga hat mit »Die Leiche von Ocarina Island« ein Workshopmodul entwickelt, das mit einer Kriminalgeschichte beginnt, in der es gar nicht um Jüdinnen, Juden oder Antisemitismus geht. Die Auflösung des Kriminalfalls verdeutlicht auf leicht verständliche Weise, warum für ökonomische Sachzwänge nicht einzelne Personen verantwortlich sind. Dieses Modul lässt sich bereits mit 14jährigen durchführen. Damit hat die Kiga ein pädagogisches Instrument geschaffen, um endlich ein zentrales Motiv des modernen Antisemitismus anzugehen: die Suche nach Schuldigen für wirtschaftliche Krisen, den personifizierten »Antikapitalismus«. Der ist nach wie vor bedeutsam, denn das Stereotyp der »reichen, mächtigen Juden« geistert in vielen Köpfen. Der Geschichtsunterricht leistet dabei zu oft, wie Martin Liepach und Wolfgang Geiger in ihrem Online-Beitrag über die »Hartnäckigkeit antisemitischer Bilder in Schulbüchern« schreiben, einen Bärendienst. Um den Judenhass der Nationalsozialisten zu erklären, würden Lehrerinnen und Lehrer den Neid auf die »reichen Juden« nennen. Die Erklärung sei nicht böse gemeint, reproduziere jedoch das alte Vorurteil.

Bei der aktuellen Stimmungslage kann man sich fragen, ob die pädagogischen Initiativen nicht zu spät kommen. Gegen Pegida-Aufmärsche, Neonazis oder Islamisten helfen Bildungsprogramme nur bedingt. Sie sind ohnehin kein Allheilmittel. Um wirksam zu sein, müssen sie früh ansetzen. Ganz allgemein leidet die deutsche Gesellschaft beim Thema Judenfeindschaft unter einem schlechten Gedächtnis. Dass es Judenhass gibt, zeigte sich nicht erst bei den »Jude, Jude, feiges Schwein«-Chören in Berlin 2014. Schon 2003 war eine bayerische Nazi-Terrorzelle aufgeflogen, die Sprengstoffanschläge auf muslimische und jüdische Einrichtungen vorbereitet hatte. Der »Spiegel« berichtete seinerzeit über eine »völlig neue Dimension« rechter Gewalt. Dass sich die herrschende Wahrnehmung trotzdem auf Judenfeindschaft bei Muslimen oder neuerdings bei Geflüchteten fokussiert, ist, wie Rosa Fava in Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft ausführt, Teil des anderen deutschen Problems, das Rassismus heißt.

 

Olaf Kistenmacher leitet in Hamburg für Arbeit und Leben Workshops gegen Antisemitismus. Anfang des Jahres erschien seine Broschüre Was tun gegen Antisemitismus?! Anregungen zu einer Pädagogik gegen Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert

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