20.06.2017 11:57
65 Millionen Menschen sind auf der Flucht. 90% von ihnen suchen Schutz außerhalb Europas. Mit Auffanglagern und Inhaftierungszentren an der Küste Libyens sorgen Deutschland und die EU dafür, dass auch der Rest es nicht nach Europa schafft. Jörg Kronauer schrieb dazu in konkret 11/16.
Es kommen immer noch Flüchtlinge ungefragt nach Europa? Viktor Orbán weiß, wie man das abstellt: Soll die EU doch eine »gigantische Flüchtlingsstadt« an der libyschen Küste bauen! Dorthin würde die neue libysche Einheitsregierung dann alle Flüchtlinge schicken, die in dem Land ankommen; dort würden die Flüchtlinge ihrerseits brav ihre Asylanträge stellen; und dort würden die von EU-Fachleuten geprüft. Wer Asyl bekommt, dürfte nach Europa übersetzen; wer abgelehnt wird, müsste sofort in sein Herkunftsland zurück.
Voraussetzung allerdings ist, dass die bekanntlich etwas wacklige Einheitsregierung in Tripolis am Ruder bliebe; das aber ließe sich machen, wenn man ihren Truppen militärisch ein wenig unter die Arme griffe. Und wenn das alles schnell genug ginge, erklärte der ungarische Ministerpräsident beim Flüchtlingsabwehrgipfel der »Balkanrouten«-Anrainer am 24. September in Wien, dann könne man mit der libyschen Regierung sogar noch rechtzeitig die nötigen Abkommen schließen, bevor im Frühjahr die Zahl der Flüchtlinge, die sich an Libyens Küste mit der Absicht, Europa zu erreichen, in die Boote setzen, wieder steigt. Ein paar Monate würden für die Vorbereitungen doch wohl reichen – schließlich habe Ungarn für den Bau seines hübschen kleinen Grenzzauns ja auch keine Ewigkeit gebraucht.
Mit den Phantasien des Viktor Orbán ist es so eine Sache. Einerseits spricht ihre schlichte Brutalität für sich; andererseits sind sie manchmal näher an der europäischen Realität, als man es sich wünscht. Beides trifft auf die, nun ja: Überlegungen des ungarischen Ministerpräsidenten über Libyen zu. Den Bau von Flüchtlings-»Aufnahmeeinrichtungen« in dem Land hat schon 2004 ein Visionär der europäischen Flüchtlingsabwehr gefordert – der deutsche Innenminister Otto Schily (SPD). Im April dieses Jahres hat Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi den Vorschlag in einem Brief an die EU-Kommission nun wiederaufgenommen. Im selben Monat wurde ein Papier des Europäischen Auswärtigen Diensts bekannt, das eine gemeinsame Initiative der EU und der libyschen Einheitsregierung anregte, auf libyschem Territorium »vorübergehende Auffanglager für Migranten und Flüchtlinge« zu errichten. »Dabei muss man auch über Inhaftierungseinrichtungen nachdenken«, zitierte der »Spiegel« aus dem Dokument.
Wird die EU demnächst tatsächlich Internierungslager für Flüchtlinge in Libyen bauen? Auch wenn der Wille dazu offenkundig vorhanden ist: Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie sich das nordafrikanische Land in nächster Zeit entwickelt. Das wiederum ist völlig unklar. Die Einheitsregierung, die die westlichen Staaten mit Hilfe der Uno in Tripolis an die Macht zu bringen versuchen, kommt mit ihrem Bestreben, das Land unter Kontrolle zu bekommen, nicht wirklich voran; manche spekulieren bereits über ihr baldiges Scheitern. Der zur Zeit erfolgreichste Truppenführer in Libyen, General Khalifa Haftar, lehnt nicht nur jede Zusammenarbeit mit der Einheitsregierung ab; er weist auch die Einmischung des deutschen UN-Sondergesandten für Libyen, Martin Kobler, brüsk zurück. Zwar scheint das Land zumindest vorläufig seine Erdölexporte wieder ausweiten zu können; doch hängt dies von den zahlreichen Unwägbarkeiten des andauernden Bürgerkriegs ab. Und zu allem Überfluss prangert nun auch noch ein Ausschuss des britischen Parlaments den Angriff auf Libyen im Jahr 2011 mit selten deutlichen Worten an.
Dass die libysche Einheitsregierung, die vor allem auf Betreiben des deutschen UN-Sondergesandten Kobler international anerkannt wird, völlig erfolglos geblieben wäre, kann man nicht sagen. Ende März gelang es ihrem Ministerpräsidenten Fayez al Sarraj, sich in der Marinebasis in Tripolis niederzulassen und damit, wenn auch nur partiell, in der libyschen Hauptstadt Fuß zu fassen. Das verstand sich nicht von selbst. Libyen hat zwei hauptsächliche Machtzentren: das gewählte, aber aus der Hauptstadt verjagte Parlament, das im ostlibyschen Tobruk unter der Bezeichnung House of Representatives residiert, und die in Tripolis herrschende, islamistisch geprägte Milizenkoalition Libya Dawn. Beide verweigerten der Einheitsregierung die Anerkennung, und das nicht nur politisch, sondern auch juristisch völlig zu Recht.
Selbst Kobler gab im März zu, Bildung und Einsetzung der Einheitsregierung seien »nicht so richtig legal« gewesen, denn sie geschahen nicht nur am gewählten libyschen Parlament in Tobruk vorbei, sondern auch unter offener Missachtung der libyschen Souveränität. Libya Dawn drohte gar, den Ministerpräsidenten al Sarraj und sein Team gewaltsam zu verjagen, sollten sie in Tripolis auftauchen. Al Sarraj zog dennoch in die Marinebasis ein – und blieb. Seit Mitte Juli gelingt es der Einheitsregierung zumindest zeitweise, in den offiziellen Regierungsgebäuden der Hauptstadt zu tagen, ohne von einer der lokalen Milizen vertrieben zu werden. Mehr noch: Formell führt sie den Krieg gegen den IS und die Rückeroberung von dessen zeitweiliger Hochburg Sirte, die Anfang Oktober fast beendet war, an, wenngleich sie bei den eigentlichen Kämpfen mangels eigener militärischer Möglichkeiten auf das Zusammenwirken mit der US-Luftwaffe und vor allem mit den Kämpfern von Libya Dawn angewiesen ist.
Das alles kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zustimmung zur Einheitsregierung in Libyen allgemein sinkt. Es macht einen im Inland eben nicht gerade beliebt, wenn man vom Ausland, gar von westlichen Mächten, als Chef einer libyschen Regierung eingesetzt worden ist. Darüber hinaus musste im August selbst Kobler zugeben, die Einheitsregierung habe durch ungeschicktes Vorgehen mittlerweile deutlich »an Unterstützung verloren«. Im Frühjahr habe »Tripolis 20 Stunden am Tag Elektrizität« gehabt, »jetzt noch zwölf«, räumte der UN-Sondergesandte ein: So könne man nicht erfolgreich sein; die Basis der Einheitsregierung schrumpfe immer weiter.
Nicht zufällig änderte sich im Lauf des Sommers im Westen der Tonfall gegenüber General Khalifa Haftar, dem vom Tobruk-Parlament ernannten Chef der libyschen Streitkräfte, einem neuen Stern an Libyens Polit-Firmament. Hatte Kobler Haftar zunächst auszubremsen versucht und Anfang Juni noch über ihn gelästert, er führe »keine Armee«, sondern nur zerstrittene Milizen, so teilte er Mitte September mit, er sei »bereit«, mit Haftar zu verhandeln. Ganz ähnlich äußerte sich bald auch Ministerpräsident al Sarraj. Ende September kündigte er an, er wolle Haftar in seine Einheitsregierung aufnehmen: »Wir haben keine andere Chance als Dialog und Versöhnung.«
Was war geschehen? Nun, während die Einheitsregierung an Rückhalt in der Bevölkerung verlor, hatte General Haftar echte Erfolge erzielt. Der Mann, der sich 1969 am Sturz der Monarchie beteiligt hatte, dann im libyschen Militär weiter aufgestiegen war, 1987 in den Wirren des Krieges im Tschad von Gaddafi öffentlich fallengelassen wurde und wütend zur von der CIA geförderten Exilopposition überlief, war 2011 nach Libyen heimgekehrt, um sich nach Gaddafis Sturz ins Privatleben zurückzuziehen. Anfang 2014 meldete er sich wieder öffentlich zu Wort. Grund war, dass die mit Al Qaida kooperierende Ansar al Sharia und andere Jihadisten Bengasi mehr oder weniger unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Haftar nahm im Mai 2014 den Kampf gegen sie auf, und in der ersten Jahreshälfte 2016 gelang es ihm schließlich, sie mit seinen Truppen weitgehend zurückzudrängen, darunter übrigens auch IS-Anhänger. Das hat ihm zwar erbitterte Feinde in Libyens Jihadistenszene eingebracht – nicht zuletzt bei Libya Dawn –, in der nichtislamistischen Bevölkerung aber seine Beliebtheit deutlich steigen lassen.
Weitere Pluspunkte hat Haftar im September gesammelt: Es ist ihm gelungen, vier wichtige Erdölverladehäfen im östlichen Golf von Sirte zu erobern. Zuvor hatte eine Miliz namens Petroleum Facilities Guard unter dem Warlord Ibrahim Jadhran sie kontrolliert – mit dem Ergebnis, dass die Ausfuhr von Öl aus Libyens Osten weitgehend zum Stillstand gekommen war (was dennoch exportiert werden konnte, füllte vor allem Jadhrans Taschen). Durch geschicktes Paktieren mit den lokalen Stämmen konnte Haftar die Verladehäfen ohne allzuschwere Kämpfe einnehmen. Mitte September legte der erste Öltanker ab, Anfang Oktober der zweite. Offiziell hat der General die Häfen der staatlichen National Oil Corporation (NOC) unterstellt, die damit nun staatliche Einkünfte generieren kann; das habe Haftars »Popularität erheblich gesteigert«, berichtete Ende September der European Council on Foreign Relations (ECFR) und wies zudem darauf hin, dass Haftar nun dank seiner faktischen Kontrolle über das ostlibysche Öl seinen Einfluss so stark ausweiten könne, dass er erstmals »eine gewisse Chance« habe, »den Krieg zu gewinnen«.
Darüber hinaus gelingt es Haftar zunehmend, die Parteinahme der westlichen Staaten für die Einheitsregierung zu unterminieren. Anfang Oktober meldete das US-Militärnachrichtenportal »Defense News«, Italien unterstütze zwar weiterhin loyal die Einheitsregierung und wolle für – Haftar feindlich gesinnte – Milizen, die aktuell auf der Seite von Ministerpräsident al Sarraj kämpften, nicht nur ein Feldlazarett, sondern auch 200 Soldaten zu dessen Bewachung bereitstellen. Dennoch habe der italienische Außenminister Paolo Gentiloni am 5. Oktober einen Haftar-Gewährsmann zu Gesprächen empfangen: Haftar habe Italien die Lieferung von Öl angeboten und kooperiere bereits mit Rom. Berichten zufolge konnte auch die deutsche Wintershall dank Haftar zum ersten Mal seit langem wieder libysches Öl verladen; ob dies ebenfalls politische Folgen hat, wird man sehen. In Paris ist man schon früher zu dem Schluss gekommen, Haftars erfolgversprechenden Kampf gegen die Jihadisten in Bengasi – Einheitsregierung hin, Einheitsregierung her – zu unterstützen. Jedenfalls bestätigten sich Berichte, laut denen französische Militärs in Bengasi an Haftars Seite kämpften, spätestens im Juli, als eine Miliz, die von Haftars Truppen attackiert wurde, einen Hubschrauber abschoss und sich herausstellte, dass alle drei toten Soldaten in dem Wrack Franzosen waren.
Hat Berlin mit der Einheitsregierung aufs falsche Pferd gesetzt? Es scheint so – und so muss man Koblers Ankündigung, mit Haftar verhandeln zu wollen, wohl als erste leichte Kurskorrektur interpretieren. Aber ob sie erfolgreich sein wird? Haftar wird nicht nur – vor allem – von Ägypten unterstützt, sondern auch – weil er die Muslimbruderschaft zu seinen Feinden zählt – von den Vereinigten Arabischen Emiraten und, darauf kommt es nun an, von Russland. Ende Juni reiste der General nach Moskau, um dort über etwaige militärische Unterstützung zu verhandeln. Als klare Positionierung auf Seiten des Westens lässt sich das beim besten Willen nicht bezeichnen. Und tatsächlich hat Haftar Koblers Annäherungsversuche Mitte September schroff zurückgewiesen – in aller Öffentlichkeit, nämlich in einem Interview mit der ägyptischen Zeitung »Al Ahram«. Als das Blatt ihn fragte, weshalb er noch nicht mit Kobler gesprochen habe, erklärte er: »Wir haben ihn über die Gründe informiert, aber anscheinend hat er das vergessen.« Der Deutsche mische sich in Libyens innere Angelegenheiten ein, die ihn nichts angingen; es gebe Wichtigeres, als sich mit ihm zu befassen: »Unsere Zeit ist kostbar.« Das saß.
Es läuft in Libyen also nicht wirklich rund für Deutschland und die übrigen westlichen Mächte. Und als gäbe es nicht schon genug Probleme, hat im September das Foreign Affairs Select Committee des britischen House of Commons einen Untersuchungsbericht über den Libyen-Krieg des Jahres 2011 veröffentlicht, der ungewöhnlich deutliche Worte für die Entscheidung zum Krieg findet – und der damit für die damals kriegführenden Mächte (vor allem Frankreich, Großbritannien, USA) höchst peinlich ist. In gewissem Umfang trifft er auch Deutschland, wenngleich Berlin – in der Absicht, nicht für französische Interessen in den Krieg zu ziehen – sich in der Abstimmung über die »Flugverbotszone« über Libyen im UN-Sicherheitsrat der Stimme enthielt und keine Truppen nach Libyen entsandte.
Allerdings hat Berlin unmittelbar nach Kriegsbeginn der Entsendung zusätzlicher deutscher Soldaten nach Afghanistan zugestimmt, um dort Truppen anderer Nato-Staaten für den Libyen-Krieg freizusetzen; darüber hinaus hat es 66 Offiziere und 37 Unteroffiziere zusätzlich zu den ohnehin dort untergebrachten deutschen Militärs in Nato-Einsatzzentralen entsandt, um die Kriegführung zu unterstützen. Die Bundeswehrsoldaten hatten dort unter anderem mit der Auswahl zu bombardierender Ziele zu tun. Manche Politiker haben damals übrigens die Bundesregierung scharf kritisiert und eine offizielle Kriegsbeteiligung gefordert. Zu ihnen gehörte ein gewisser Joachim Gauck, der verkündete, man dürfe, wenn Rebellen einen zu Hilfe riefen, »nicht als erstes die Angst haben, wo es endet«; man müsse statt dessen »Freude« darüber zeigen, »dass es beginnt«.
Was da begann und wo es enden würde, hat man im März 2011 recht genau wissen können, urteilt nun im Rückblick das Foreign Affairs Select Committee. So sei von vornherein klar gewesen, dass Islamisten eine starke Rolle bei den Unruhen spielten: Man habe schließlich gewusst, dass unter den Al-Qaida-Kämpfern im Irak die Libyer die zweitstärkste, bezogen auf die Bevölkerungszahl sogar die bei weitem größte Gruppe gewesen seien. Auch sei klar gewesen, dass Libyens schwache staatliche Strukturen nach Gaddafis Sturz zusammenbrechen würden, ließ sich das Committee von der Libyen-Expertin Alison Pargeter bestätigen. Allerdings muss man es wohl für möglich halten, dass diese Sachverhalte zwar der Fachwelt, nicht aber den politisch zuständigen Stellen bekannt waren, dass diese also tatsächlich nicht wussten, was sie taten, als sie für den Krieg plädierten – denn Pargeter berichtete dem einigermaßen pikierten britischen Parlamentsausschuss, sie sei, als sie 2011 mit den zuständigen Stellen im Foreign Office über die Lage in Libyen diskutierte, höchst »schockiert« über deren krasse Unkenntnis bezüglich Politik, Gesellschaft und Geschichte des Landes gewesen.
Und nicht nur das. Pargeter und der am Londoner King’s College lehrende Professor George Joffé erläuterten dem Committee, sie seien im März 2011 nicht davon ausgegangen, dass Gaddafi ein Massaker im aufständischen Bengasi befehlen würde. Mit einer solchen Behauptung aber waren die Verhängung der »Flugverbotszone« und der anschließende Libyen-Krieg legitimiert worden. Zwar hätten die libysche Exilopposition sowie Medien aus Gaddafi feindlich gesinnten Staaten wie Al Jazeera (Qatar) und Al Arabiya (Vereinigte Arabische Emirate) vor einem Massaker gewarnt und eine Intervention gefordert. Klar dagegen gesprochen hätten allerdings die historische Erfahrung aus der Niederschlagung früherer Aufstände durch Gaddafis Truppen sowie deren Vorgehen bei der Rückeroberung von Städten wie Ajdabiya im März 2011.
Über die offensichtlich zurechtgezimmerte Kriegslegitimation hat sich im Foreign Affairs Select Committee allerdings niemand gewundert. Die Abgeordneten hatten sich zuvor berichten lassen, wie französische Geheimdienstler die Pariser Kriegsziele wiedergegeben hatten – und die waren zur öffentlichen Begründung eines Angriffskrieges nun wirklich nicht besonders gut geeignet. Demnach ging es der französischen Regierung darum, »einen größeren Anteil an der libyschen Ölproduktion zu erhalten«, »Frankreichs Einfluss in Nordafrika zu vergrößern«, dem französischen Militär die Gelegenheit zu einer Machtdemonstration zu bieten und außerdem Gaddafis Pläne zunichte zu machen, Frankreich als Vormacht im französischsprachigen Teil Afrikas abzulösen. Nebenbei sei es Präsident Sarkozy auch darum gegangen, sein eigenes Ansehen in Frankreich zu verbessern – die Präsidentenwahl im Frühjahr 2012 stand bevor. (Nur um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die Mehrheit der Abgeordneten im Foreign Affairs Select Committee gehört den Konservativen an.)
Dafür also ist Libyen zerstört worden. Nun ist es so ruiniert, dass es nicht einmal mehr zur Realisierung der westlichen Kriegsziele taugt. Darüber hinaus stellt sich die Einheitsregierung, die eigentlich bei der Flüchtlingsabwehr helfen sollte, nun auch noch als zu schwach dafür heraus. Was tun, wenn man damit rechnen muss, dass noch das ausbruchsicherste Flüchtlingslager, das man gerne in Libyen errichten würde, von der nächstbesten Miliz überrannt wird oder gar dem nicht kooperationswilligen General Haftar in die Hände fällt? Vorläufig bleibt nur, mit Libyens Küstenwache zu kooperieren, sie auszubilden und auszurüsten, damit sie die Drecksarbeit erledigt und aufgegriffene Flüchtlinge in die bereits bestehenden, oft von dubiosen Milizen kontrollierten Lager steckt.
Im Mai hat Martin Kobler ein solches Lager besichtigt und eingeräumt, er sei »entsetzt« über die Lebensbedingungen dort. »Die libysche Küstenwache ist die Grundlage, auf der wir Sicherheit in Libyens Küstengewässern aufbauen müssen«, wurde der britische Außenminister Philip Hammond im selben Monat zitiert: »Wir können Training, wir können Ausrüstung bereitstellen.« Nur: Nicht einmal die Küstenwache kommt in die Gänge. Ende September reichten Diplomaten den Hinweis an die Medien weiter, die Einheitsregierung habe noch immer nicht die ersten 100 Kandidaten für das Trainingsprogramm, das eigentlich Anfang Oktober in Italien beginnen sollte, benannt; fürs erste werde es also nichts mit der Perfektionierung der Flüchtlingsabwehr. Bleibt festzustellen: Der Wille, Europa nach dem Geschmack eines Viktor Orbán gegen Flüchtlinge abzudichten, ist da. Nur: Libyen, in Grund und Boden gebombt, hat die dazu nötigen Strukturen nicht mehr parat.
Von Jörg Kronauer erscheint in diesen Tagen das Buch »Wir sind die Herren des Landes«. Der deutsche Griff nach Griechenland – Geschichte einer Unterwerfung (konkret texte 69)
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