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Nostradamus - see you later!

20.12.2012 15:09

Am 21.12. 2012 ist/war Weltuntergang! Daß es so manche Prophezeiung in sich hat, erklärte Ulrich Holbein in KONKRET 1/2012. Es gibt keine richtigen Wahrsager im Falschen! Oder vielleicht doch?

 

Am 21.12.2012 wird nicht gleich die Welt untergehn, aber Schlimmeres als üblich geschehn, doch sehen Apokalypse-Gourmands dieser Weissagung des altehrwürdigen Maya-Kalenders unerschrocken entgegen, als wär’s bloß das Hermagedon der Zeugen Jehovas. Kassandra und Nostradamus verströmen auch fürderhin ein Riesenrenommee, obwohl sie bloß kleinere Aufregungen von limitierter Reichweite im regionalen Biotop vorauszuwissen schienen und jeder Schwarzseher, ob er will oder nicht, sowieso recht bald recht behält. Prominente Unkenrufe zehrten vom global erweiterten Blick und wuchsen groß an Verfilmungen, worin Weltkriegspanzer durch Nostradamus’ mittelalterliche Visionen dröhnen. Im Alten Testament wurden Haßprediger von ihren Zufallstreffern zu Propheten gekürt; deren Wunschdenken bezog sich vor allem auf die Zerstörung sündiger Städte wie Jerusalem und Tyrus – und ein untergangsreifes, trotzdem prophezeiungsresistent stehnbleibendes Babylon verkleinerte ihren Prophetenstatus leider nicht.

Leonardo da Vinci prophezeite Globalkahlschlag und Technikauswuchs (aus den Höhlen wird etwas kriechen), ließ sich’s aber zugleich nicht nehmen, als eine Mixtur aus Dädalus Düsentrieb und Ikarus herumzutüfteln und also sich zu profilieren als Vater des Militärpanzers. Malthus und Jules Verne sahen Bevölkerungsexplosion und Mondbetretung voraus und bekamen halt recht. Stanislaw Lem prophezeite von ihm sog. Phantomatik, die später inkognito tatsächlich kam als sog. Cyberspace, und daß der Mensch den Krebs bis zum Jahr 2000 nicht besiegen werde. 1960 datierte ein bundesdeutsches Autorenkollektiv die Mondbetretung durch Perry Rhodan auf 1971; Neil Armstrong kam dem um zwei Jahre zuvor.

Seit Science-fiction-Autoren und Futurologen sich runterdimmten oder umbenannten zum Trendforscher, wird praktisch nur noch kurzatmiger Stuß vorhergesagt: daß Menschen bald 130 würden; daß die Bevölkerungsexplosion bei zwölf Milliarden haltmachen werde; daß man weder Insekten noch Viren würde besiegen können. Kosmologen, BBC- und NTV-Reportagen schwelgen in der Auspinselung einer »Zukunft ohne Menschen«. Einigkeit herrscht, daß die Sonne bald ihre Planeten ausglühen wird, in 5,5 Milliarden Jahren, aber das läßt sich eher, statt Prophetie, fachwissenschaftlicher Kollektiv- Schlechtwetterdienst nennen und würde jetzt noch knapp Lebende genausowenig aufregen, wenn’s bereits in 5,5 Millionen Jahren (oder 5.500 Jahren?) der Menschheit definitiv an die Gurgel ginge. Eine so fragil überzüchtete Sackgassenkonstruktion wie das Säugetier kann in unstabilen planetarischen Verhältnissen keine 200 Millionen Jahre lang durchhalten, also lang nicht so lang wie die Saurier, die auch nur einen Wimpernschlag innerhalb der Evolution der Lebewesen lästigfielen; und die Evolution bleibt selber nur eine Sternschnuppe in der geologischen Geduld der Erdgeschichte, als Geomasse und Pneumomasse noch keinerlei Biomasse duldeten – hiermit sei’s seufzend, nein: lächelnd prophezeit, aber nicht von einer Einzelperson namens Prophet, sondern vom insgesamten Wissensstand der just durchgeschleusten menschenförmigen Zivilisation.

Vorher aber ist noch einiges zu tun und zu erdulden, z. B. sind in den nächsten 80 Jahren sieben Milliarden unästhetische Einzeltode leidvoll abzuwickeln. Und etliche Prophezeiungen älteren Datums sind noch gar nicht eingetroffen. Isaac Asimovs Voraussage in The End of Eternity (1955), daß Bistroverkäufer mit ihren Bauchläden zwischen konträrsten Zukünften switchen können, überall aussteigen und ihr Zeug feilbieten, läßt sehr auf sich warten, genauso wie das respektvolle Zusammenleben von Robotern und ihren Erbauern. So lang nicht eine Zweiklassengesellschaft aus Aliens und Erdlingen sich wechselweise ausbeutet, diskriminiert, mobbt, ausgrenzt, abschiebt, liquidiert, kann man unterdessen die vorhandenen irdischen Minderheiten schofel behandeln. Fritz Mauthner prophezeite 1922 in seiner monumentalen Atheismusgeschichte (2.000 Seiten), Gott sei nicht mehr zu retten, und kommt damit Oswald Spenglers Voraussage quer, das nächste große Religionszeitalter stehe erst noch bevor, siehe Papstrummel, Islam etc. Karel Capeks Vision, daß man Gott fabrikmäßig herstellen könnte, sowie H. G. Wells’ Zeitmaschine haben’s gleichfalls nicht eilig und werden unterdessen zwecks Überbrückung antizipativ simuliert mit viel Liebe zum Kostümfilm.

Jean Paul prophezeite zu Silvester 1800 nicht nur das Ende der Sklaverei (das sich noch 58 Jahre Zeit ließ), des Kolonialismus, der Frauenunterdrückung, was ja alles punktgenau eintraf bzw. als Ein-Euro-Jobs, Globalisierung und Emanzipationsfarce weiterwurstelt. Vor allem das Ende des Christentums prophezeite der Dichter, welchselbiges aber mit jedem Virusbefall die putzige Eigenschaft teilt, mit atheistischen Antibiotika bestens zurechtzukommen. Obwohl Goethe sich brüstete, in Jahrtausenden zu denken, sah der Dichterfürst nichts voraus außer der Schleifung von Wielands Grabmal in Oßmannstedt durch Barbaren; und einiges Unbehagen fühlte er am heraufdämmernden Maschinenzeitalter. Also trotz herrlicher Übersensibiliät im harschen Panzer hing seine prognostische Wetterfahne schlaff herunter, anders als die der gemütlichen Vignette der Goethezeit, des konzilianten euphorischen Jean Paul im Krähwinkel des Fichtelgebirges. Der erlaubte sich beklemmende Visionen und pessimistische Wettervorhersagen, die sein ihm zugewiesenes vogtländisches Biedermeier bestens aufsprengen und fortspülen: In seiner Erzählung Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht sah Jean Paul ein »herzenundehebrechendes Säkulum« heraufziehn, eine entgötterte, entzauberte, entseelte Welt, voll »trockener Bestien im Wüstensand« – welche Nihilisten, Bestialisten, Futuristen, Sachbuchautoren, Pragmatiker, Praktiker meinte er hier? Marx? Freud? Ausbeutung umschrieb er im Luftschiffer Giannozzo mit dem Arbeitshaus, worin Millionen freudlos für den Staat »raspeln «. Er sah sogar Fachidiotentum und Nudismus voraus. Maschinenhaftigkeit werde den Menschen zu einer Maschine machen und »zu einem Nichtssein voll Alleskönnen« – hier sprachen vorauseilend quer durch Jean Paul bereits Diagnostiker, Warner und Mahner wie Karl Jaspers, Günther Anders, Erich Fromm, Konrad Lorenz, Marshall McLuhan. 116 Jahre vor Spengler sah er sogar das Ende des mechanisch-wissenschaftlichen, des sich selbst vergötternden Säkulums voraus, das den Sinn für Ewiges verloren haben würde, mit viel beseelterer Begründung, das menschliche Herz würde die Kälte nicht lang durchhalten können – das deutete wohl bereits auf die Zweite Religiösität, die dann als hellblau flachschürfende Theosophie und Esowelle herbeiplätscherte.

Jean Paul erwartete die Amerikanisierung Europas – war die 1800 wirklich schon absehbar? Er sprach von »Flotten von Luftschiffen« und »einer glühenden fliegenden Bombe« – Alliiertengeschwader, Pershing-Raketen? Daß die Atombombe bereits im indischen Epos Mahabharata eindeutig vorkommt, verfaßt zwischen 500 v. Chr. und 500 n. Chr., also 1445 bzw. 2445 Jahre vor Hiroshima bzw. 1511 Jahre vor Fukushima, mag auf Allmachtsgefühl basiert haben. Bei Jean Paul wird’s Sorge und Zukunftswarnung, zumal er bis ins Detail moderne PC-gesteuerte Blitzkriegsführung voraussah à la Pearl Harbour, Kubakrise, Falklandinselkonflikt, Kuwait u. ä.: »Es muß zuletzt statt dreißigjährige dreißigstündige Kriege geben.« Atomare Apokalypseszenarien umschrieb Jean Paul bisweilen ein wenig zu altertümlich mit niederzukkendem Richtschwert. Aber: »Und wer bürgt unter den unermeßlichen Erfindungen der Chemie und Physik, daß nicht endlich eine ›Mordmaschine‹ erfunden werde, welche wie eine Mine mit einem Schuß eine Schlacht liefert und schließt?« Meinte er hier Auschwitz oder Hiroshima?

Des erklärten Antibarbars Levana, ein hocheffektives herzrührendes Gesamtprogramm zur Barbareiprophylaxe, stand praktisch bereits als eine »Erziehung nach Auschwitz« im Startloch, mit schönster Gebärdik, daß die Enkel es besser ausfechten können würden, doch genau dies geschah nicht. Sondern Milliarden Enkel und Urenkel, als Wimmelmasse zwischen den eigendynamisch technisierten Monsterwellen des 19. und 20. Jahrhunderts, mußten, durften und wollten es toller, schlimmer und entarteter treiben als sämtliche Jahrtausende vorher, und Jean Paul hat’s geahnt: »Die Menschheit geht jetzt durch ein rotes Blutmeer – vielleicht mehr als ein Jahrhundert lang«; passend zu Schillers Versen auf 1799/1800, daß beide Jahrhunderte mit Mord enden und anheben, überregionalst oder antieurozentrisch kompatibel mit dem Blutmeer der indischen Göttin Kali. »Da blickte ich hinein in die entsetzliche Welt, aber ich sank bewußtlos nieder; was ich sah, war zu gräßlich für den Menschenanblick und hatte keinen Raum in einem Menschengedächtnis.« Jean Paul schilderte nicht nur Rattenplagen und Leichenberge, vor denen Goethe das sonnenhafte Auge programmatisch verschloß, er schilderte in einer Vernichtungsvision Millionen fortgemähter schlagender Fötusherzen, also Geno- und Omnizid nicht als punktuelles, abstellbares Ausnahmsintermezzo, als Alptraum, aus dem man als eine Romanfigur namens Ottomar erwachen könnte, sondern als erschröcklich pausenlose maschinelle Routine – und  danach nuklearer Winter: »Dörfer und Städte ziehen als lange Aschenwolke pfeilschnell durch die Lüfte. Nichts regte sich, und die ganze Erde war von einer Stadt zur anderen mit stiller Asche hoch beschneiet.«

Kassandra, ade! Nostradamus – see you later! Jean Paul sah im Äonenablauf – das würden herkömmliche Propheten nie mit sich machen lassen! – seine persönliche Reich- und Tragweite als Schriftsteller voraus und wandte sich an seinen letzten Leser. Doch siehe, in einem Punkt griff er – bis jetzt – seltsam daneben. Er beneidete spätere Jahrtausende um den Zuwachs an weiter entwickelten Riesengeistern, wär rasend gespannt gewesen auf diese und solche, denen er sich vorauseilend unterlegen fühlte. Wo aber sind sie geblieben? Ach so, Joyce, Proust, Döblin, Kafka – es kam ja so einiges. Ludwig Börne prophezeite, es werde ein Weilchen dauern, bis »sein schleichend Volk« dem verstorbenen Dichter nachkomme – nirgendwo göttliche Überholmanöver, und jetzt? Jetzt hat Jean Paul aufs neue bescheiden Däumchen zu drehn; ab 2013, seinem 250. Geburtstag, mal gucken, ob sein schleichend Volk dem ausdauernden Goethe-Überbieter irgend nachkommt, mit Litfaßsäulenaktion, Theateraufbereitung, Arte-Themenabend, www.jean-paul-2013.de, schulfrei in ganz Bayern am 21.3.2013, dies aber nur, wenn das Schicksalsdatum des 21.12.2012 von der schleichenden Kulturmenschheit ein bissel was übrigläßt!

- Ulrich Holbein -

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