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27.08.2014 12:25

„Fachkräftemangel“ – gibt’s den überhaupt? Von Timo Sander

1:3 ist kein Ergebnis der letzten Fußball-WM, sondern das Verhältnis von offenen Stellen zu Bewerbern. Bei diesem Verhältnis geht die Bundesagentur für Arbeit von „Bewerbermangel“ aus. 1:3 bedeutet hier, daß ein Unternehmen, das nur zwischen drei qualifizierten Bewerbern entscheiden kann, unter einem Mangel leidet, der dringend beseitigt werden muß. Daß bei einer solchen Konstellation 66 Prozent der Bewerber weiter nach einer Anstellung suchen müssen, vulgo arbeitslos sind, interessiert die Bundesagentur nicht, denn sie ist Dienstleister der Unternehmen, nicht der Arbeitsuchenden.

Wie basteln wir uns nun aber einen „Fachkräftemangel“? Der Verband Deutscher Ingenieure (VDI) macht es über das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) so: Da ja nicht alle offenen Stellen bei der Bundesagentur gemeldet werden, nimmt das Institut diese Zahlen und multipliziert sie mit sieben. Warum mit sieben, weiß niemand, auch nicht der VDI oder das IW. Möglicherweise, weil es eine magische Zahl ist. Oder weil es heißt: „Über sieben Brücken mußt Du gehen“. Oder weil es im Märchen sieben Schwaben bzw. Geißlein bzw. Zwerge waren. Es bleibt nebulös.

Prof. Gerd Bosbach, seines Zeichens Statistiker, erklärt in dem ARD-Film „Der Arbeitsmarktreport - Das Märchen vom Fachkräftemangel“ von Ulrike Bremer (HR, 2014) ein solches Vorgehen für „unsinnig“. Inzwischen hat der Verband den Faktor von sieben auf fünf geändert, wiederum „völlig ohne Begründung“, wie Bosbach anmerkt. Möglicherweise haben sich die VDI-Verantwortlichen an den Enid-Blyton-Klassiker Fünf Freunde erinnert. Auch hier kann letztlich nur die Parawissenschaft oder Graf Zahl weiterhelfen.

Das Bundeswirtschaftsministerium hat sich mangels anderer Informationsmöglichkeiten beim VDI nach der Lage im Ingenieursbereich erkundigt, und siehe: Im April 2011 waren 90.400 Stellen offen (schon mit sieben multipliziert), aber nur 22.284 Ingenieure tatsächlich arbeitslos. Das heißt, in Wirklichkeit gab es nur rund 13.000 gemeldete offene Ingenieursstellen. Nach Rechnung des VDI aber ergab sich daraus eine Lücke von 68.700 Ingenieuren, und, noch gravierender, eine Vergrößerung des Mangels um sagenhafte 124,5 Prozent gegenüber dem Jahr 2010. Weiter heißt es in der Aufstellung des Verbandes: „Mit einer Arbeitslosenquote von derzeit ca. 2,4 Prozent kann man von ‚Vollbeschäftigung’ (Hervorhebung im Original) sprechen.“ Fürwahr ein Skandal, versucht doch jede Regierung seit Adenauer, „Vollbeschäftigung“ zu vermeiden, scheint aber gerade in dem hervorragenden Bereich des Ingenieurwesens kläglich zu scheitern.

Die selbstgezimmerte Ingenieurlücke hat schlimme Folgen. Allein 2010 mußten die Unternehmen Umsatzverluste von 3,3 Milliarden Euro hinnehmen, so das IW. Ein Jahr später waren es bereits 8 Milliarden. Hierbei handelt es sich nicht etwa um Schätzungen, nein, dies sollen genau berechnete Angaben sein.

Aber das ist nicht alles. In Umfragen beklagt der „Mittelstand“ Verluste von 30 Milliarden Euro durch den Fachkräftemangel - per annum, versteht sich. Was tut der durchschnittliche deutsche Unternehmer nun? Er sucht sich Fachkräfte im Ausland, besonders gern in „Krisenstaaten“ wie Spanien und Griechenland. Dabei versucht er natürlich zu sparen. In der Regel wird ein schlecht bezahltes sechsmonatiges Praktikum angeboten; nach dieser „Eingewöhnungsphase“ würde der Arbeitnehmer dann zu den ortsüblichen Konditionen fest eingestellt. Natürlich kann ein ausländischer Arbeitnehmer niemals so gut ausgebildet sein wie ein inländischer. Bei Medizinern etwa werden Ausländer generell als Berufsanfänger betrachtet, auch wenn sie bereits jahrelang in ihren Heimatländern praktizierten. Mit dem Anwerben der am besten ausgebildeten Arbeitnehmer, das stellt die ARD-Dokumentation fest, werden die „Krisenstaaten“ noch einmal systematisch geschwächt, um den Wohlstand in der Bundesrepublik zu sichern.

Auch der „Ärztemangel“, immer wieder durch die Verbände beschworen, ist schlicht hausgemacht bzw. herbeidefiniert. Was wirklich fehlt, sind Allgemeinmediziner und Fachärzte in den als unattraktiv geltenden Gegenden des Landes, in absoluten Zahlen aber hat Deutschland so viele praktizierende Ärzte wie noch nie, wie der „Spiegel“ bereits im April 2014 unter Berufung auf die Ärztestatistik der Bundesärztekammer berichtete. Während im Jahr 1980 etwa 450 Einwohner der BRD sich einen Arzt teilen mußten, waren es 2013 nur noch 230 Einwohner je Mediziner. Selbst im am schlimmsten vom „Ärztemangel“ betroffenen Brandenburg kommt ein Arzt auf 276 Einwohner. Spitzenreiter Hamburg ist mit 150 Einwohnern  je Mediziner tendenziell überversorgt. Die Bundesärztekammer ficht das nicht an. Sie argumentiert mit dem gestiegenen Durchschnittsalter der Ärzte und den vermehrt in Anspruch genommenen Teilzeitmodellen.

In Ulrike Bremers Film schlägt der Statistiker Prof. Bosbach indes vor, wenn es einen Ärztemangel gebe, brauchten die Universitäten nur den Numerus Clausus zu senken, was ebenfalls von der Ärztekammer befürwortet wird. Eine einfache Lösung, bei der angehende Mediziner, deren Ausbildung ja durch Steuermittel bezahlt wird (pro Absolventen mehr als 200.000 Euro laut Destatis), etwa nach Abschluß ihrer klinischen Ausbildung für fünf Jahre in „unterversorgten“ Regionen arbeiten müßten, ist natürlich mit den Ärztekammern nicht zu machen.

Ob es nun um Ärzte oder Ingenieure geht: Der Wirtschaft ist schlicht der Angebotspool zu klein. Vorhandene Arbeitskräfte gelten entweder als unpassend oder als teuer. Deshalb wird das Angebot durch Abwerbung aus anderen Staaten vergrößert, diese Länder werden ihrer besonders gut ausgebildeten Menschen beraubt, und zugleich wird der Druck auf die deutsche Mittelschicht erhöht.

Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung bringt es im „Arbeitsmarktreport“ auf dem Punkt. Sämtliche Statistiken der Bundesagentur im Bereich des Arbeitskräftemangels seien nichts wert, da sie methodisch unzulänglich seien. Doch darum geht es nicht: Die Zahlenmystik dient lediglich dem Zweck, politischen Druck zugunsten der Arbeitgeber zu machen, auf daß sie Menschen zu günstigen Konditionen ausbeuten können. Das ist keine Verschwörung, kein Märchen und kein Geheimnis, sondern guter kapitalistischer Alltag. Mehr nicht.

 

„Der Arbeitsmarktreport - das Märchen vom Fachkräftemangel“. TV-Film, Regie: Ulrike Bremer; HR 2014; der Film ist in der ARD-Mediathek unter http://tinyurl.com/pc4q7p7 zu finden

 

Timo Sander mag am liebsten positive Zahlen auf seinem Konto

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