10.02.2016 12:17
Linke Politik im nationalen Interesse, der Kampf des Falschen gegen das Falsche und die Anfälligkeit deutscher Keynesianer für Querfronten.
Von Thomas Ebermann
Mein Thema ist eine Kritik des Nationalismus deutscher Keynesianer– und damit ihrer Anfälligkeit für Querfronten. Keynesianer haben komplizierte, im Detail kenntnisreiche Bücher geschrieben, in denen man, wenn man dafür ein Faible hat, auch ihre jeweiligen Differenzen kennenlernen kann. Ihre im Vergleich zum viel kleineren Lager der Systemkritik große Popularität speist sich aus ihrer Eigenschaft, sich dem Alltagsverstand kompatibel zu machen, der davon durchdrungen ist, dass es für jedes Problem eine Lösung geben muss. Der Keynesianer kann diese Sehnsucht bedienen, indem er der Herrschaft vorwirft, sie mache Fehler, sei borniert, ignoriere die eigenen Interessen. Als Clou in europapolitischen Debatten pflegt Gregor Gysi zu sagen: »Ohne die Fehler der Bundesregierung wäre die Krise längst überwunden, hören Sie doch endlich auf uns.«
Immer sind es nur ein paar Stellschrauben, die, kombiniert mit der Forderung nach einem (moralischen) Sinneswandel der Bourgeoisie, anders justiert gehören (man erinnere sich an das Versprechen von Attac, mit den Einnahmen aus der Finanzmarkttransaktionssteuer sei der Hunger dieser Welt zu beseitigen). Hierzu zwei Zitate aus Heiner Flassbecks Buch Nur Deutschland kann den Euro retten, dem ein Übereinstimmung signalisierendes Vorwort Lafontaines vorangestellt ist:
1.: »Die Herausforderung für Deutschlandbesteht darin, seine Unternehmen zur Rückkehr zu Bedingungen zu überreden, unter denen sie viel weniger verdienen und vielmehr investieren.«
2.: Man müsse »das Land überzeugen, dass es nicht einmal in seinem eigenen Interesse ist, sich für den Wettstreit statt die Kooperation zwischen den Nationen zu entscheiden, besonders unter den Mitgliedern der Währungsunion.«
Hier werden zwei so gewaltige, die Welt und das Elend der Subalternen strukturierende, nicht außerkraftsetzbare Probleme verharmlost, dass es mir den Atem verschlägt. Die Aufforderung ans (Einzel-) Kapital, »weniger zu verdienen«, also eine unterdurchschnittliche Profitrate zu akzeptieren, ist die Aufforderung zu seinem Ruin.
Das dahinterstehende Problem ist ein tatsächliches: Kapitalistische Akkumulation dehnt den Kapitalstock im Verhältnis zur lebendigen Arbeit so lange aus, bis die angewachsene Kapitalmasse die Grenzprofitabilität sinken lässt. Gelingt die Verbesserung der Profitabilität nicht, gelingt die Sanierung der Profitrate nicht (etwa durch Kapitalvernichtung, Verlagerung in Niedriglohnregionen, Veränderung der organischen Zusammensetzung des Kapitals etc.), haben wir es also mit sinkenden Wachstumsraten, Akkumulationsstockungen und Pleiten zu tun –flüchtet ein großer Teil des erwirtschafteten Kapitals in die (scheinbar) lukrative Finanzanlage, entsteht die berühmt-berüchtigte Blase, die irgendwann wertbereinigt werden, also platzen muss. Die Rettung der betroffenen Banken kann dann, wie wir wissen, die handlungsmächtigsten Subjekte des Weltgeschehens, die Staaten, schwer in die Bredouille bringen.
Das zweite Zitat schlägt (Deutschland) vor, den Weltmarkt als Hort der Kooperation statt als Schlachtfeld der Konkurrenz zu behandeln. – Täglich wird ermittelt, wer wen besiegt, wer wieviel Reichtumstransfer per Exportüberschuss auf sein Territorium lenken kann. Bei unterlegener Produktivität ist der Untergang gewiss (das ist der Kern des griechischen Problems), bei gleicher Produktivität, also etwa gleicher Infrastruktur, gleicher fachlicher Qualität und Disziplin der Ware Arbeitskraft, gleichem Bildungssystem, gleicher Maschinenlaufzeit, gleichgünstiger organischer Zusammensetzung des Kapitals etc. wird entscheidend, wer geringere Löhne bezahlen muss und wer die Nicht-Produktiven (Arbeitslose, Kranke, Rentner) weniger versorgt, um das so Ersparte der Kapitalakkumulation zuzuführen. Da die produktiven Zentren (»Wohlstandsoasen«) zugleich die Magneten des Anlage und Sicherheit suchenden Kapitals sind, wächst der Abstand, die Diskrepanz zur Peripherie. Das ist Griechenlands Schicksal. Deshalb organisiert jedes (keynesianische) Konzept, das die Stärkung von Kaufkraft (also Konsum statt Kapitalakkumulation) zum Gegenstand hat und/oder per staatlicher Stützung unrentable, nicht zur Weltmarktkonkurrenz fähige Wirtschaftszweige erhält, einen Abzug vom nationalen Gesamtprofit.
Paul Mattick, der Rätekommunist, der wie kein zweiter die Untauglichkeit von Keynes analytisch und theoretisch herausgearbeitet hat, kommt zu dem Schluss: »Der Keynesianismus, der Heilung verspricht, kann praktisch den ganzen Knall nur hinauszögern, der dann um so heftiger sich entlädt, je stärker die keynesianischen Maßnahmen zwischenzeitlich die für die laufende Sanierung des Kapitalbetriebs notwendigen Korrekturen aufgeschoben haben und je voluminöser der nichtprofitable Staatssektor durch die Regulierungspolitik aufgebläht wurde.«
Ich lehne das, wohin die Keynesianer zurückwollen, ab. Auch der nicht-neoliberale Kapitalismus mit seinen tarifär gesicherten Arbeitsplätzen und (jedenfalls in den produktiven Zentren) wachsenden konsumptiven Möglichkeiten hat die Menschen der Konkurrenz unterworfen, die unerträgliche Lohnarbeit zur Konstante ihres Lebens und sie zu Humankapital gemacht. Er hat ihre Unfreiheit, ihre Entfremdung und Verdinglichung in ungekannter Weise, unmerklich oder mit ihrer Zustimmung, perfektioniert, sie in der »Hölle der Gesellschaft im Überfluss« hässlich und brutal gemacht und sie ums ganze Leben betrogen. Zugleich ist mein analytischer Befund, dass ein Zurück in die Lebensverhältnisse der keynesianischen Hochphase nicht möglich ist.
Was Yanis Varoufakis in seinem Buch Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise als Porträt eines blühenden, von staatlichen und privaten Investitionen geradezu überrollten, das Lohnniveau anhebenden, Gläubiger wie Deutschland und dessen Staatshaushalt nicht belastenden, die Euro-Krise überwindenden, kein einziges der europäischen Regelwerke verletzenden Griechenlands zeichnet, ist reinste Scharlatanerie: »Unabhängig davon, ob unser bescheidener Vorschlag angenommen wird oder nicht, enthält er etwas Wertvolles: Er zeigt den Menschen Europas, dass eine durchdachte, effiziente, sofort umsetzbare und bescheidene Alternative für die Lösung der Euro-Krise existiert. So gibt er uns das Vertrauen zurück, das wir brauchen, damit wir die europäischen Politiker dazu bringen können, sich ihrer Verantwortung zu stellen.« Was für ein Gesülze!
Material, das die prinzipielle Festlegung deutscher Keynesianer auf die Interessen der Nation belegt, gibt es reichlich. Zum Beispiel Sahra Wagenknecht: »Statt dessen betreibt Merkel mit Unterstützung von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen im Fall Griechenland eine andauernde Konkursverschleppung, die den potentiellen Schaden für die deutschen Steuerzahler immer weiter in die Höhe treibt.«
Man beachte den reaktionären Terminus »Steuerzahler« – die Verlagerung eines doch immerhin recht allgemeinen Sachverhalts, wie es ein Staatshaushalt ist, in das per Definition persönlich betroffene, leidende Individuum. Nicht zufällig gehört übrigens der Bund der Steuerzahler zu den reaktionärsten Vereinigungen in Deutschland. Strukturell und terminologisch illustriert Wagenknecht, was sie als »Überschneidung« zwischen ihrer Position und der der AfD bezeichnet hat: den Vorwurf, Griechenland dürfe nicht zum »Fass ohne Boden«, also zum dauerhaften Faktor werden, der einen Abzug von der gewaltigen Summe der deutschenVorteile (kürzlich las ich, 1,2 Billionen Euro in einer Dekade) aus EU und Euro bewirken könnte.
Oder Heiner Flassbeck: Er thematisiert denselben Zweck und kommt im Gestus des nicht nur ökonomischen Kalküls, sondern auch des tiefen Einfühlungsvermögens daher: »Schließlich wäre die Bildung einer Transferunion zur Stützung der Währungsunion weder ein machbarer noch ein wünschenswerter Schritt unter unabhängigen und souveränen Staaten ...«
Warum das denn nicht? Weil die Griechen einfach stolzer und würdevoller sind als die Ureinwohner Mecklenburg-Vorpommerns und Bremens, die sich per Länderfinanzausgleich einen faulen Lenz machen –ja, so geht tatsächlich das Argument. Weiter im Text: »Es gibt keinen Mitgliedsstaat in der EU, dessen Bevölkerung akzeptieren würde, abhängig von deutschen Transfers zu werden, um auf diese Weise vorhandene wirtschaftliche Ungleichgewichte zu konsolidieren und zu vermeiden.« Da ist das griechische Subproletariat knallhart: Lieber keine Gesundheitsvorsorge, lieber obdachlos und hungrig als Transfergeld aus Deutschland. Das ist natürlich Quatsch, und deshalb können wir nun zum Kern des Arguments kommen: »Ebenso stehen Deutschland und andere Überschussländer bereits jetzt vor enormen (objektiven und subjektiven) Schwierigkeiten, ihre Bürger zeitweilig zu überzeugen, vermeintlich ›faule Südländer‹ zu finanzieren … Die Institutionalisierung eines Systems von Finanztransfers … wäre ein Rezept für tiefgreifende nationalistische Spannungen in der Zukunft.«
Das Wort »objektiv« spielt an auf einen tatsächlichen Konflikt in der deutschen Elite. Wenn es nicht gelingt, das Gesamtkunstwerk EU zu einem Gebilde zu formen, das qua Größe des Binnenmarkts, Produktivität, Kampf ums Weltgeld, künftiger militärischer Potenz die Vereinigten Staaten von Amerika (und China) herauszufordern vermag (wozu eine verarmte Peripherie gehört, die zwar nur noch wenige deutsche Waren importieren kann, aber garantiert keine Kosten verursacht),wenn also Merkels/Schäubles Konzept der Profitcenter, also der Zerschlagung von konkurrenzfähiger Ökonomie und Sozialstandards nicht aufgeht, dann ist Abbruch angesagt, also irgendeine Form des Europas der zwei Geschwindigkeiten oder irgendein Kerneuropa oder die Rückkehr zur D-Mark.
Das Wort »subjektiv« bedeutet nicht, dass »der Bürger« Recht und Hoheit haben soll, solch komplizierte Fragen zu entscheiden. Es bedeutet die Überzeugung, dass dieser Bürger (oder Steuerzahler) Schäubles Beliebtheitswerte durch die Decke schießen ließ, weil der deutsche Finanzminister gnadenlose Härte und Kompromisslosigkeit im Umgang mit den Griechen verkörperte – und sich demonstrativ auch so inszenierte. Dies registrierend wünsche ich mir regelmäßig, die Abstiegsängste der deutschen Mittelschicht (deren Verrohung von Heitmeyers Bielefelder Soziologen gut erforscht ist) mögen nicht immer nur Ängste bleiben.
Ein wesentlicher Unterschied zwischen Flassbeck und Lafontaine einerseits und AfD, Lucke, Sinn, Sarrazin und Bosbach andererseits ist übrigens nicht, dass Flassbeck mit der Rückkehr zur Drachme einen Schuldenschnitt verbindet (das tun die anderen samt Schäuble auch), sondern dass zum Beispiel Prof. Sinn einräumt, dass die griechische Unterschicht auf diesem Weg eine dramatisch opferreiche Zeit hinter sich zu bringen hätte, während bei Flassbeck die Zeit nach der Einführung der Drachme (bei Beibehaltung des Privateigentums an Produktionsmitteln als die Gesellschaft strukturierendes Moment) einfach mal so die Gesundheitsvorsorge verbessert, Arbeitslosigkeit senkt, Löhne hebt, Wachstum und Export sprießen lässt.
Wenn richtig ist, dass Deutschland ökonomisch und politisch so mächtig ist in Europa, dass es die bekannten Verelendungsprogramme diktieren kann (was die Regierungen, die das in ihrem Staat repressiv gegen die Opfer dieser Politik umsetzen, in keiner Weise entschuldigt), dann gibt es für einen Kommunisten, ehrlichen Reformisten, Menschenfreund nur einen Gedanken: Dieses Deutschland muss geschwächt werden.
Es existiert ganz offensichtlich hierzulande keine Kraft, die dieses Postulat einlösen könnte. Denn so etwas wie ein Generalstreik zugunsten der unteren Klassen Griechenlands (oder Südeuropas) war und ist ja nicht im Angebot. Aber positionieren kann man sich – zum Beispiel bezüglich der griechischen Reparationsansprüche (siehe dazu konkret 4/15). Unnötig zu erwähnen, dass Flassbeck et al. diesen Komplex beschweigen. Undenkbar, dass unsere Parlamentskeynesianer– die immer so stolz darauf sind, einen »voll durchgerechneten« Gegenhaushalt gegen den der Regierung zu präsentieren – die rechtmäßig von Deutschland an Griechenland zu zahlenden deutlich über 90 Milliarden Euro in ihre »mittelfristige Finanzplanung« auch nur ratenweise einstellen würden. Es liefe auf eine Schädigung der Nation hinaus und würde Wähler (wie Steuerzahler) auf die Palme bringen. Ich wäre gerne Teil einer Kampagne, die diese Schädigung fordert, schon weil man da wohl mit wenigen, aber nicht den falschen Leuten unterwegs wäre.
Um meine Position zu verallgemeinern: Partei gegen Deutschland zu ergreifen heißt nicht, seine Antipoden zu beschönigen. Es gab, um ein historisches Beispiel zu nennen, keinen Grund, die Brutalität der französischen Kolonialpolitik zu verschweigen, oder die Ausbeutung des französischen Proletariats. Erst wo daraus ein Argument für Deutschland (also gegen den Versailler Vertrag) wurde, setzt meine Kritik ein. Auch heute begegnen mir ja diese Zwangscharaktere, die mich, wenn Deutschland und also der Holocaust Thema sein soll, unbedingt über das Schicksal der US-amerikanischen Ureinwohner belehren wollen.
»Sagen was ist«, diese erste Anforderung Rosa Luxemburgs an revolutionäre Redlichkeit, heißt zunächst einmal, auf jedes »Wir (Deutsche)« zu verzichten. Denn dieses Wir (das im Namen der Differenzierung stets zurückgewiesen wird, wo das Hässliche der Deutschen verallgemeinert werden soll), dieses positive Wir ist immer das Prä, die Determinante, die alles weitere mit Parteinahme überformt. »Sagen was ist« heißt heute –so scheint mir –, aussprechen, was nicht im Angebot ist. Zwei Beispiele:
1. Alle Bundestagsparteien vertreten die frohe Botschaft, es gelte, die Fluchtursachen zu beseitigen. Es gibt kaum eine größere Lüge, kaum einen größeren Zynismus. Denn in der von nationalstaatlicher Weltmarktkonkurrenz und Imperialismus strukturierten Welt ist es undenkbar, Hunger und Verhungern (und erst recht »Perspektivlosigkeit«) zu beseitigen. Was jeden Tag »unsere Art zu leben« genannt wird (und durch die in tausend Interviews halluzinierte Tapferkeit, einen Weihnachtsmarkt trotz aller Gefahren zu besuchen, bebildert wird), beruht auf dieser unhintergehbaren Tatsache. Was im Angebot ist, ist radikalste Verschärfung des Asylrechts und – nach einer Phase tatsächlichen Zusammenbruchs – die Wiedererrichtung der »sicheren Außengrenzen«. Wer dafür Merkel dankt, weil, wie immer, andere noch brachialer und hetzerischer sind, ist mein Feind.
2. Was der Zweck von »geeintem Europa« und Euro ist, hat unsere Publizistik vielfach erläutert und ist etwa in diesem Buch schon im Titel festgehalten: Weltmacht Europa– Hauptstadt Berlin (konkret texte 39).Es ist Dummheit oder berechnender Zynismus zu behaupten, dieser Zweck könne außer Kraft gesetzt werden, etwa durch eine mehr Egalität und soziale Standards postulierende Sozialcharta oder durch Streichung der militärischen Zielsetzungen aus dem EU Vertragswerk. Wenn Joschka Fischer in der »Süddeutschen Zeitung« orakelt, »dass Europa vor der Entscheidung zwischen Selbst und Fremdbestimmung« stehe, dann verwechselt er natürlich absichtsvoll die Selbstbestimmung mit der Macht, anderen Staaten etwas aufzuzwingen. Fremdbestimmung ist für ihn, sich mit der Rolle einer zweitrangigen Macht in der Welt abzufinden. Immerhin bringt er etwas auf den Punkt: Weltmacht oder Zweite Liga.
So gesehen gäbe es keinen Grund zur Trauer, wenn dieses Projekt zerfallen sollte. Dass dieser mögliche Zerfall, den wir noch vor zehn oder 20 Jahren kaum in Erwägung gezogen haben, in nationalen Berechnungen bezüglich der Vor- und Nachteile einer Mitgliedschaft seinen Grund hätte, dass also auch gegen Deutschland aufgemachte Berechnungen dabei eine Rolle spielen, die vom Front National, dem rechten Flügel der britischen Konservativen und allerlei völkisch faschistoiden Kräften Osteuropas angestellt werden, ist unübersehbar. Das macht mich zum Gegner dieser Kräfte und Regimes – aber eben nicht zum Anhänger der deutschen Pläne. Schäuble vorzuwerfen, er verrate Kohls Erbe, ist lächerlich.
Mehr als lächerlich, enorm gefährlich nämlich, sind die Bestrebungen dem Ansehen nach linker Koryphäen, ein Bündnis mit den rechten Kräften anzustreben. Stefano Fassina, kürzlich noch Mitglied der Regierung Renzi in Italien, schreibt – übrigens veröffentlicht auf dem Blog von Yanis Varoufakis: »Für eine geordnete Auflösung der gemeinsamen Währung müssen wir eine breite Allianz einer Nationalen Befreiungsfront bilden …, zusammengesetzt aus progressiven Kräften, aber offen für eine Kooperation mit demokratischen rechten souveränistischen Parteien.«
Der französische Wirtschaftswissenschaftler Jacques Sapir räsoniert über die Notwendigkeit, »eine nationale Front quer über das politische Spektrum hinweg gegen den Euro zu bilden« (unter Einschluss des Front National). Und der Vorsitzende der französischen Linkspartei, der kein Bündnis mit Frau Le Pen will, postuliert gleichwohl inhaltliche Nähe, wenn er sagt: »Vor die Wahl zwischen dem Euro und der Souveränität gestellt entscheiden wir uns für die Souveränität.« Das ist der Kontext, in dem Lafontaine, Wagenknecht und Flassbeck sich bewegen.
Um die Faustregel, der ich hier folge, noch einmal zu illustrieren: Es ist ein schöner Tag, wenn die Betrügereien des VW-Konzerns auffliegen. Man weiß dann, das schafft oder sichert Arbeitsplätze – nur eben woanders. Schön auch, dass der Betrug in den USA aufgedeckt wurde, dem angeblichen Hort der Verachtung von Verbraucherschutz und Liebe zum Chlorhühnchen. Das auszusprechen ist doppelt angenehm angesichts aller Manifestationen der Pech-und-Schwefel-Treue zwischen Belegschaft, Betriebsrat, Gewerkschaft, Bundesregierung und Chefetage in Wolfsburg. Danach – nicht gleichzeitig! – diskutieren wir dann die Arbeitsbedingungen bei Toyota oder Hyundai oder die Weltmarktstrategien von General Motors.
Ich wurde aufgefordert, Texte für Anzeigen in griechischen Zeitungen zu unterzeichnen. Ihr Inhalt: a) eine Verurteilung dessen, was Deutschland via Troika und der Nea Dimokratia/Pasok-Regierung den unteren Klassen Griechenlands aufherrschte. Malbeiseite gelassen, wem meine Unterschrift in diesem Zusammenhang nützt, hätte ich das – ohne kleinliche Textexegese – unterschrieben; b) der zweite Teil enthielt Lob für die neue beziehungsweise zu wählende griechische Regierung, die sozusagen Speerspitze oder Vorbote gegen den Neoliberalismus in Europa sei. Das konnte ich nicht – nicht etwa weil ich genau wusste, wie es ausgehen würde. Es ging mir dabei ganz elementar um die Feststellung, dass es sich hier um ein Querfrontprojekt handelte, um das gemeinsame Regierungsprojekt von (keynesianischen) Linken mit offenen Rassisten, Militaristen, Antisemiten, Verschwörungstheoretikern.
Das zu akzeptieren ist ein Dammbruch und widerspricht bemerkenswert der sonst gepflegten berechtigten Empörung, wenn faschistischen Kräften Zugang zu Regierungskoalitionen ermöglicht wird – vor einiger Zeit zum Beispiel Schill in Hamburg oder kürzlich wieder einmal die FPÖ in Österreich. Auch bei denen, die es sonst besser wissen (müssten), war im Fall Griechenland ein seltsames Beschweigen, Bagatellisieren, Räsonieren über taktische Notwendigkeiten festzustellen, all das, was die Selbstverpflichtung auf die Projektion, in positiv-aufregenden Zeiten zu leben, so an Erlöschen kritischen Denkens mit sich bringt. Wenn Griechenland irgendwie nicht mehr rockt, dann finden wir zwischendurch mal spannend, dass die britische Labour Party einen neuen Vorsitzenden hat, der das Establishment aber so was von provokant herausfordert … (Es ist ermüdend.)
Statt dessen ist darauf zu beharren, dass Querfronten nicht nur taktische Gründe haben, sondern als Grundlage partielle inhaltliche Übereinstimmungen. Wir haben ja beobachten können, wie die schrecklichen Berufungstitel »Ehre« und »Würde«, die Bereitschaft zum Opfer für die nicht fremdbestimmte griechische Nation von Syriza in Anschlag gebracht wurden. Und wenn man bedenkt, dass ein Syriza-Finanzminister sich an Bord der Gaza-Flotte befand, und zur Kenntnis nimmt, wie schroff die Frontstellung gegen Israel im Syriza-Wahlprogramm war und ist und dass Tsipras »nicht länger hinnehmen (will), wenn Israel an den Stränden Gazas Kinder massakriert« – dann finden sich schon Schnittmengen mit den wahnhaften Vorstellungen des Anel-Vorsitzenden.
Eine nüchterne Bilanz kann meines Erachtens nur so ausfallen: Die vermeintlich linke Regierung Griechenlands hat zu keinem Zeitpunkt den unteren Klassen substantielle Verbesserungen oder auch nur eine Linderung ihrer Not gebracht. Sie realisiert heute ein Austeritätsprogramm nach deutschen Vorstellungen oder deutschem Diktat. Dass sie betont, das nicht gerne zu tun oder sogar falsch zu finden, ist das Argument aller Karrieristen, die noch nie aus einem Scheitern einen Grund zum Rücktritt abgeleitet haben, sondern immer darauf verweisen müssen, dass sonst ein anderer täte, was sie tun, und dass »Krötenschlucken« sowie »Sich-die-Hände-schmutzig-machen« Tugenden seien.
Das griechische Austeritätsprogramm könnte von keiner »neoliberalen« Regierung so relativ einfach durchgesetzt werden wie von einer scheinbar linken. (Damit verkenne ich nicht die großen widerständigen Aktionen der letzten Monate.) Die vielen, die Syriza aus guten Gründen, wenn auch leider nicht aus Gründen der Querfront verlassen haben, sind wahlpolitisch gescheitert. Der Weg über den Staat – statt über den sozialen Widerstand – hat sich als Irrweg entpuppt. Was bleibt, ist – zunächst – nur, dass Querfrontpolitiken legitim geworden sind. Dieser Vorwurf trifft alle Keynesianer, die heute freundschaftliche oder bruderparteiliche Beziehungen zu Syriza pflegen.
Eine über das Gesagte hinausgehende Affinität zu den Lockungen von Querfronten hat eine spezielle Abteilung der Linkspartei. Das ist die Strömung um Wagenknecht, Lafontaine, Inge Höger, Wolfgang Gehrke, Dieter Dehm und so weiter, also zunächst einmal all jene, die mit ihrer demonstrativen Unterstützung von Mahnwachen, Friedenswinter und Montagsdemonstrationen die enge Kooperation mit Verschwörungstheoretikern und latent Rechtsradikalen suchen (Jutta Ditfurth hat das akribisch untersucht). Ein wesentliches Organ, diese Querfront zu popularisieren, sind die »Nachdenkseiten«, deren Heroen Lafontaine, Flassbeck, Wagenknecht und Jakob Augstein sind. Es ist schon mehr als nur tastend die Fühler ausstrecken, wenn Sahra Wagenknecht verlautbart: »Wer die Gründer der AfD als Populisten abstempelt, macht es sich zu leicht.«
Mir drängt sich der Gedanke auf, dass, je mehr über den griechischen Souveränitätsverlust und die ja zutreffend konstatierte Entmachtung des griechischen Parlaments lamentiert wird, es den Autoren (über diesen Umweg) desto mehr um die wahnhafte Projektion geht, Deutschland sei irgendwie vergleichbar bemitleidenswert. Ich greife, fast willkürlich, in ein »Kritisches Jahrbuch« der »Nachdenkseiten« und finde, es geht um »den NSA und unsere (wieder so ein verräterisches Wir, T. E.) Abhängigkeit von den USA.«Zitat: »Da behaupte noch einmal jemand, Deutschland sei ein souveräner Staat! Wie die Affäre zeigt, sind wir auf dem Weg zu einem Überwachungsstaat unter amerikanischer Führung. Und die Bundesregierung tut so gut wie nichts, um ihre Bürger zu schützen.«
Die deutsche Regierung, wird, gegen alle empirische Wahrheit, der patriotischen Unzulänglichkeit bezichtigt, und nebenbei wird jeder Gedanke weggewischt, dass die Zeiten tatsächlich eingeschränkter nationaler Souveränität, die Zeiten bis 1990, relativ zu heute erträgliche Zeiten waren. Eben weil Deutschland unter einiger Beaufsichtigung stand. Der Inhalt aller Bücher Lafontaines ist die Konstruktion eines Opferstatus Deutschlands beziehungsweise der Deutschen. Die Palette reicht von Opfer durch Überfremdung über Opfer von Globalisierung, Shareholder-Value und (jüdisch-amerikanischer) Wallstreet nebst anonymen Finanzmärkten, die dem Rheinischen Kapitalismus den Garaus machen (wollen).
Alle Zutaten für eine Querfrontrhetorik findet man bei Ken Jebsen, den der RBB entließ, weil selbst dem Staatssender Jebsens zügelloser Antisemitismus zu weit ging. Sein Portal Ken FM wird von hunderttausend Menschen angeklickt. Seine neuste Kreation nennt sich »Wir sind Deutschland«, veranstaltet in Plauen auch von bekennenden Nazis gut frequentierte Kundgebungen, auf denen manches Wort gegen Krieg, gegen die ein Prozent, die das sonst wunderbare Volk drangsalieren, gegen die Bevormundung Griechenlands etc. gesprochen wird. Um schließlich aus wirrem Gemisch zum Punkt zu kommen: der Forderung nach Schließung einer Militärbasis zu einem besonderen Zweck. »Wir sollten die Flüchtlinge, die hierherkommen, nach Ramstein bringen. Da ist Platz! Da ist Infrastruktur.«
Ich kann hier das Muster der ganzen Demagogie nicht entschlüsseln, für meine Zwecke muss es genügen, die Parteinahme des Chefs der Nachdenkseiten, Albrecht Müller, für diesen gefährlichen Rechten zu zitieren: »Ich gewinne den Eindruck, dass die meisten dieser Medienschaffenden einfach nur neidisch sind, weil Ken Jebsen mit dem Einsatz großer intellektueller Kraft und Energie – neben manchem Verzichtbaren –gute Medienprodukte geschaffen hat und hohe Klickzahlen erreicht.«
Ein letztes Beispiel: Vor einigen Jahren betrat ich in einer fremden Stadt ein Stadtteilbüro der Linkspartei und bat um ein Buch, das mir die Ziele und Wege der Partei gut erläutern würde. Ich bekam dieses: Was kann, was soll, was will die Linkspartei? Der meinen Gegenstand betreffende Abschnitt zur »nationalen Frage« stellt fest: »Die Chance, aus dem hundert Jahre alten Ghetto der vaterlandslosen Gesellen zu entkommen«, sei oft, speziell von der »Westlinken« vertan worden. Nun endlich (und jetzt völkisch im engsten Sinne des Wortes) »sollten Linke nicht einem abstrakten Europäer oder unbehausten Weltbürger das Wort reden, sondern Menschen in ihren konkreten ethnisch-kulturellen Beziehungen sehen«. Da springt einen die antisemitische Konnotation ja fast gewaltsam an, und das Wohlwollen gegenüber rassistischen »Überfremdungs«-Phantasien auch.
Und dann wird von genau der Normalität geträumt, die einfach nur zum Fürchten ist: »Erst wenn der Chef oder die Chefin einer deutschen Linkspartei von einem Rednerpultrufen kann: ›Es lebe Deutschland!‹…, kann man behaupten, dass hierzulande normale Verhältnisse bestünden.« Das sind ein paar Fragmente, die mich völlig sicher machen, dass Querfront keine schlechte Zukunft in Deutschland hat. Katja Kipping, ich weiß und will es hier betonen, will diesen Nationalismus nicht.
In der heutigen Welt kämpft (im Regelfall) das Falsche gegen das Falsche. Dies festzustellen bedeutet keine Äquidistanz und keine Verachtung des Graduellen. Es bedeutet lediglich auszusprechen, dass all jene, die der Idee der klassenlosen Gesellschaft anhängen, Identität schmähen und sich zu ihrem wurzellosen Kosmopolitismus bekennen, wirkohnmächtig sind. Sie – nennen wir sie die Repräsentanten der Großen Weigerung – sind nicht nur trotzdem, sondern deshalb die erste Adresse unserer (auch praktischen) Solidarität. »Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben«, schrieb Walter Benjamin; kein großer Mutmacher, aber wahr. Wer keine relevanten gesellschaftlichen Kräfte, die einer Theorie Macht verleihen, auf seiner Seite hat, kann keinen Weg vom bestehenden Schlechten zum besseren Möglichen skizzieren.
Der Aufschein von Freiheit, der darin liegt, sich, wenn auch nur intellektuell, den angebotenen Alternativen zu verweigern, zeigt sich auch in der Freiheit auszusprechen, dass man keine Lösung hat, ratlos ist. Damit ist man strukturell der schärfste Antipode aller Talkshow- und Parlamentsdebatten, an denen teilzunehmen nur legitim ist, wenn die kompetenten Kretins ein Rezept zur Lösung des jeweiligen Konflikts in petto haben. Meine pauschale Intervention wäre oft: Ihr habt doch in tausend Leitartikeln geschrieben, wieviel besser die Welt wird, wenn die Zeiten der Bipolarität (der Blockkonfrontation, der Existenz des realsozialistischen Lagers, des Gleichgewichts des Schreckens) beendet sind und die Multipolarität mit rasch wechselnden Bündnissen, Regionalmächten, nationalen Interessen Wirklichkeit wird. Ihr habt doch alles niedergemäht, was auch nur entfernt nach Fortschritt, Aufklärung, Lebensglück und Beseitigung unerträglicher Armut strebte.
Ja, der Islamismus ist mein Feind und der (Gremliza schrieb: gefährlichste) Feind der westlichen Staaten; aber er ist nicht unser gemeinsamer Feind. Es ist nicht Drückebergerei, nicht Flucht in unzulässige Abstraktion, nicht Entschuldigung des Mörderischen, sondern Ausgangspunkt eines analytischen Begreifens, wenn man mit Adorno feststellt: »Wahn ist der Ersatz für den Traum, dass die Menschheit die Welt menschlich einrichte, den die Welt der Menschheit hartnäckig austreibt.«
Es ist nicht nur die kriegerische Machenschaft, sondern die Totalität kapitalistischer Verwertungszwänge, die so tief in die Verstümmelt-Gefühllosen eindringt, wie Klaus Theweleit es am Beispiel der lachenden Täter zu ermitteln versucht. Das Beschweigen oder Relativieren der Tatsache, dass die Antipoden Deutschlands (bzw. des Westens) hässlich, mörderisch, antimodern, despotisch usw. sind, ist falsch. Der Feindmeines Feindes ist nicht mein Freund.
Jede geostrategische Analyse, die die kalten Berechnungen zum Beispiel des deutschen Imperialismus zum Gegenstand hat, würde nur beschädigt, würde sie sich etwa dazu hinreißen lassen, das System Putin und die russische Macht- und Außenpolitik zu beschönigen. Die russische Macht- und Außenpolitik protegiert (mal stärker, mal zurückhaltender) die Pegida-Bewegung, popularisiert Figuren wie den brandenburgischen AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland und andere »Russland-Freunde« in der AfD. Allein der Vorgang, dass Marine Le Pen vom Vorsitzenden der Duma empfangen wurde, zeugt davon, dass aus Moskau alles gestärkt werden soll, was die relative Nähe und Kooperation zwischen »Europa« und den USA, wie sie sich im Ukraine-Konflikt zeigte, aufzusprengen geeignet erscheint.
Weil die Rechtsradikalen Anschluss an tatsächliche geostrategische Projekte finden und weil »autoritätsgebundene Charaktere sich mit realer Macht schlechthin identifizieren, vor jedem besonderen Inhalt« (Adorno), also den starken Mann, den Führer des einigen, demokratisches Gezänk verabscheuenden Volkes idealisieren – bahnt sich da was an oder läuft schon. Welch Magnet für autoritäre Linke, die sogar ihre alte Treue zur Sowjetunion einbringen können.
Herbert Marcuse schrieb im Vorwort zu seiner letzten großen Schrift (Die Permanenz der Kunst), es sei unnötig, die Verzweiflung zu leugnen, die darin liegt, die Überwindung dessen, was abgeschafft gehöre, »nur« in der Phantasie zu betreiben. Da sehe ich Parallelen zur Sozialismus-Debatte in konkret (die ich mit roten Wangen verfolge). Verzweiflung nicht leugnen aber heißt einzusehen und zuzugeben, dass man seine Analysen ohne Kraftmeierei, eher bedrückt, ängstlich und ohnmächtig betreibt. Rainer Trampert hat in seinem Buch die beängstigende Kriegsgefahr in der Pazifischen Region beschrieben. Die USA haben ihre gesamte Außen- und Militärpolitik umorientiert. Eher weg vom Nahen Osten und arabischen Raum.
Ich komme da (wenn ihr wollt emotional) nicht über die Rolle des ängstlichen Fernsehzuschauers oder sogenannten naiven Pazifisten hinaus; also über die Haltung, es möge sich nicht in einem großen Krieg (mit unabsehbaren, vielleicht sogar atomaren Weiterungen) entladen. Scheiße.
Dieser Text basiert auf einem Vortrag, den Thomas Ebermann am 29. November 2015 in der Hamburger Bar Golem gehalten hat. Er wurde redaktionell bearbeitet. Der Vortrag in voller Länge, auch mit den Reflexionen zum Versailler Vertrag sowie den Beiträgen von Hermann L. Gremliza und Helmut Donat, kann auf Soundcloud gehört werden.
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