19.07.2017 11:12
547 „Einzelfälle“ (Kardinal Gerhard Ludwig Müller) körperlicher und sexueller Gewalt zählt der Abschlussbericht seit 1945 bei den Regenburger Domspatzen. Mit Konsequenzen müssen die Täter nicht rechnen: Wer noch nicht gestorben ist, dessen Strafe ist verjährt. Florian Sendtner schrieb in konkret 04/10 darüber, wie die katholische Kirche die Übergriffe ihrer Amtsträger auf Kinder vertuscht hatte.
Daß ein Theaterstück nicht nur gesellschaftlich relevant ist, sondern tatsächlich etwas ins Rollen, gar jahrzehntelang unter den Teppich Gekehrtes ans Licht bringt – das muß hundert Jahre her sein, denkt man. Irrtum: In der bayerischen Provinzstadt Regensburg ist genau das im Februar/März 2010 passiert. Da brachte das Stadttheater als Gast des privat betriebenen Turmtheaters im Schatten des Doms das Stück »Die Beichte« von Felix Mitterer auf die Bühne. Das Duell zwischen einem von einem katholischen Pfarrer sexuell Mißbrauchten und seinem einstigen Peiniger ist von den einschlägigen Fällen in Irland inspiriert, die 1999 aufgedeckt worden waren. Die Regensburger Inszenierung erhielt zusätzliche Brisanz dadurch, daß Miko Greza, der den Pater spielt, der sich im Beichtstuhl unverhofft mit seinem einstigen unfreiwilligen Lustknaben konfrontiert sieht – daß dieser Schauspieler öffentlich darüber sprach, daß er im realen Leben als Kind selbst Opfer eines Geistlichen geworden war. Bei der Premiere am 11. Februar betonte man noch unter Verweis auf die monatelange Vorlaufzeit einer Theaterinszenierung, der zeitliche Zusammenfall mit dem Höhepunkt der Mißbrauchsenthüllungen sei purer Zufall. Regisseur Michael Bleiziffer bedauerte: »Leider hat uns ja die Wirklichkeit jetzt wieder eingeholt ...« Doch es war eher umgekehrt: Das Kammerspiel im kleinen Turmtheater tat seine Wirkung – es war der Katalysator, der dafür sorgte, daß drei Wochen später auch die Regensburger Domspatzen ihre teils schon mumifizierten Leichen im Keller doch noch auspacken mußten.
So wurde das Institut, das den weltberühmten Knabenchor produziert, zum vorläufigen Endpunkt einer beispiellosen Kette von Enthüllungen priesterlicher Kinderschändung, die Ende Januar 2010 im Berliner Canisius-Kolleg der Jesuiten ihren Anfang genommen und über Hamburg und St. Blasien im Schwarzwald, über Hildesheim, Göttingen, Hannover bis zum Bonner Aloisius-Kolleg geführt hatte. Es folgten die Bistümer Aachen, Paderborn, Mainz, Augsburg, Rottenburg, Essen, München, Würzburg, Speyer, Münster, Limburg, Fulda. Nach den Jesuiten als der Speerspitze Gottes traten da, neben gewöhnlichen Geistlichen, unter anderem folgende Orden an: die Missionare von der Heiligen Familie, die Salesianer Don Boscos, die Vinzentinerinnen, die Benediktiner, Franziskaner und Kapuziner. Der Kabarettist Hagen Rether verfiel angesichts dieses nicht enden wollenden rosenkranzförmigen Ringelreihens auf die naheliegende Lösung: »Warum macht man den Laden nicht einfach dicht?: Wegen Menschenverachtung geschlossen!«
Und nun also auch noch die Regensburger Domspatzen! Glockenhelle Knabenstimmen, die jeden Kirchenmusikliebhaber verzücken! Als Ende August 2009 ein »Merian«-Heft über Regensburg erschien, das sämtliche klerikalfeudalen Klischees erfüllte: Thurn & Taxis, Ratzinger, Domspatzen, letztere indes mit der Überschrift »Harter Drill zur Ehre Gottes« versah, war in der Papststadt (Joseph Ratzinger war hier von 1969 bis 1977 Theologieprofessor) der Teufel los. »Zur Ehre Gottes und zur Freude für die Menschen«, so hätte das heißen müssen, korrigierte der Chormanager die »Merian«-Redaktion. Ja, hätte die Redaktion nur vorher gefragt! Was für ein Sakrileg, die »Stradivari unter den Knabenchören« mit negativen Attributen in Verbindung zu bringen! Hatte sich doch schon der Aufstieg zum Weltruhm seinerzeit unter der tätigen Mithilfe des Reichskanzlers persönlich vollzogen! Chorleiter Theobald Schrems buhlte bereits 1933 darum, »dem Führer ein Ständchen« darbringen zu dürfen. Er durfte, hatte er doch in Aussicht gestellt: »Unsere Buben würden alle ... im Braunhemd erscheinen. « Die Domspatzen wurden fortan von höchster Stelle protegiert und subventioniert, sie sangen am Grab von Horst Wessel, am Obersalzberg, in der Kathedrale Notre-Dame im besetzten Paris, in einem Veit-Harlan-Film (um nur die glanzvollsten Auftritte zu nennen). Ein Chor mit solch gediegener Geschichte sollte Päderastendreck am Stecken haben?
Unmöglich! Und doch sah sich der Pressesprecher des Bistums Regensburg nun bei einer Pressekonferenz Anfang März gezwungen, im Zusammenhang der hauseigenen sexuellen Übergriffe auf Kinder zumindest die beiden gerichtsnotorischen (und längst toten) Täter offiziell zuzugeben. Friedrich Z., Stellvertreter des Internatsleiters, sei 1958 mit zwei Knaben erwischt und zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden, Georg Z., zuerst Internatsleiter, dann Diözesanmusikdirektor, sei 1971 wegen Unzucht mit minderjährigen Schutzbefohlenen zu elf Monaten Haft verurteilt worden. Vermutlich von letzterem ist die Rede, als der Regisseur und Komponist Franz Wittenbrink drei Tage später im »Spiegel« von seiner Zeit bei den Domspatzen von 1958 bis 1967 und einem seinerzeit dort herrschenden »ausgeklügelten System sadistischer Strafen, verbunden mit sexueller Lust« berichtet. Der Internatsdirektor habe sich »abends im Schlafsaal zwei, drei von uns Jungs ausgesucht, die er in seine Wohnung mitnahm «, wo er ihnen Rotwein eingeflößt und mit ihnen masturbiert habe. Wittenbrink: »Warum der Papstbruder Georg Ratzinger, der seit 1964 Domkapellmeister war, davon nichts mitbekommen haben soll, ist mir unerklärlich.«
Georg Ratzinger beantwortet die telefonische Nachfrage der Regensburger Lokalzeitung mit den Worten: »Danke! Wiederhören!«. Gegenüber der »Passauer Neuen Presse« läßt er sich dann aber doch zu ganzen Sätzen hinreißen – und bleibt dabei, von alledem nie nichts gesehen und gehört zu haben: »Bei uns im Haus ist über diese Dinge nie gesprochen worden.« Zum Schluß versichert der 86jährige: »Der Papst fühlt sich allen Opfern nahe. Aber bei den Domspatzen kommt in der Tat ein fast familiärer Aspekt hinzu.«
Der familiäre Aspekt spielt überhaupt immer wieder eine Rolle. Franz Wittenbrink ist ein Neffe des seinerzeitigen bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel, der von 1962 bis 1978 regierte. Dessen Sohn wiederum, Thomas Goppel, von 2003 bis 2008 bayerischer Wissenschaftsminister, produziert sich derzeit als Gründer der »Christsozialen Katholiken«, denen die CSU zu wenig katholisch ist. Wenn man Goppel anruft und auf die sich überschlagenden Enthüllungen von sexuellem Mißbrauch durch katholische Amtsträger anspricht, kommt ein Sermon aus dem Hörer, der darin gipfelt, daß Goppel die Berliner Stadtverwaltung anprangert, die angeblich »den jungen Leuten empfiehlt, schwul und lesbisch zu werden, damit man sich besser in der Gesellschaft behaupten kann« – was weiß Gott schlimmer ist als das, was gewisse Jesuiten und Benediktiner mit ihren Zöglingen treiben. Goppel wird wohl von seinem etwa gleichaltrigen Cousin wissen, wie es bei den Domspatzen zuging, und deshalb so aufgehen bei dem Thema.
Noch mehr geht nur der Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller auf, der von einer »antikatholischen Medienlawine« spricht, »losgetreten « von der Titelgeschichte des »Spiegel« Anfang Februar. Müller sieht sich und seine Kirche vom »totalitären Herrschaftsanspruch des Neo-Atheismus und der Diktatur des Relativismus « verfolgt. Der Mann weiß beim Kindesmißbrauch durch Geistliche, wovon er spricht: Es ist gerade mal zwei Jahre her, daß ein Geistlicher seiner Diözese wegen jahrelangen Traktierens eines Ministranten zu drei Jahren Haft verurteilt wurde. Peter K. war Wiederholungstäter: Er war bereits acht Jahre zuvor einschlägig verurteilt worden, zu einer Bewährungsstrafe. Zwischendurch hatte man ihn aus dem Verkehr gezogen, in eine Therapie gesteckt – und anschließend in eine neue, ahnungslose Pfarrei. Die klassische Variante. Dementsprechend wütend auf den Bischof war man dort, als aufkam, was hinter Peter K.s so intensiver Jugend- und Ministrantenarbeit steckte. Müller freilich sah in der leidigen Affäre in erster Linie ein Opfer: sich selbst. Bei einer Pressekonferenz am 21. September 2007, drei Wochen nach der Verhaftung von Peter K., entließ er die Journalisten mit dem Schlußwort: »Jesus ist auch verleugnet und verraten worden.«
Es war wie bei dem alten Witz mit dem Geisterfahrer, der im Radio die Meldung hört und sich wundert: ein Autofahrer? Mir kommen doch Hunderte entgegen! Zumindest gab es außer Müller selbst wohl kaum jemanden, für den damals nicht klar gewesen wäre, daß er nicht nur gegen den gesunden Menschenverstand, sondern auch gegen die Leitlinien der deutschen Bischofskonferenz zum Verfahren in Fällen sexuellen Mißbrauchs Minderjähriger durch Geistliche aus dem Jahr 2002 verstoßen hatte, die in Punkt zwölf besagen, daß solche Priester »nicht mehr in Bereichen eingesetzt« werden sollen, »die sie mit Kindern und Jugendlichen in Verbindung bringen«.
Die immer wieder als großer Fortschritt gehandelten Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz waren nun, Anfang 2010, der Stein des Anstoßes zwischen Kirche und Staat. Dafür sorgte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Die Bundesjustizministerin warf der katholischen Kirche in einem Interview mit den »Tagesthemen« am 22. Februar vor, bei einschlägigen Fällen nicht konstruktiv mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten. Die Leitlinien der Bischofskonferenz seien auch gar nicht auf eine solche Zusammenarbeit ausgerichtet, sondern auf eine kircheninterne Untersuchung. In den Leitlinien heißt es nämlich unter Punkt 7: »In erwiesenen Fällen sexuellen Mißbrauchs Minderjähriger wird ... gegebenenfalls das Gespräch mit der Staatsanwaltschaft gesucht« beziehungsweise »je nach Sachlage die Staatsanwaltschaft informiert«. – »Diese Richtlinie«, präzisierte Leutheusser- Schnarrenberger im Interview mit dem Bayerischen Rundfunk, »die von erwiesenem Verdacht spricht, wo dann je nach Sachlage die Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden soll, ist nicht ausreichend. Denn ob etwas erwiesen ist oder nicht, das festzustellen, ist die Aufgabe der Staatsanwaltschaft.«
Es war eine tausend Jahre alte Wunde, die Leutheusser-Schnarrenberger da aufriß, denn es geht um die Rechtshoheit auf klerikalem Territorium, also darum, ob die Kirche ein rechtsfreier Raum ist, auf den die Staatsanwaltschaft nur eingeschränkten Zugriff hat. Kein Wunder, daß Robert Zollitsch, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, sofort auf 180 war. Der oberste deutsche Katholik stellte der Justizministerin ein Ultimatum: Innerhalb von 24 Stunden müsse sie ihre »falschen Tatsachenbehauptungen « zurücknehmen, andernfalls werde er Bundeskanzlerin Merkel anrufen. So weit kam es nicht. Zollitsch unterhält sich im Gegensatz zu seinem Kollegen Müller mitunter noch mit Leuten, die nicht seiner Meinung sind. Jedenfalls war von dem Ultimatum fortan keine Rede mehr, obwohl Leutheusser-Schnarrenberger eine Woche später im »Deutschlandfunk « erklärte, wieso kircheninterne Erkenntnisse praktisch nie an die Staatsanwaltschaft herangetragen werden: »Diese Schweigemauer, die ist gerade bei den Schulen in katholischer Trägerschaft bestimmt auch mit darin zu sehen, daß es ja eine Direktive der katholischen Glaubenskongregation gibt von 2001, daß eben auch so schwere Mißbrauchsfälle zuallererst der päpstlichen Geheimhaltung unterliegen und eben nicht weitergegeben werden sollen außerhalb der Kirche.«
Katholische Glaubenskongregation von 2001 – das heißt Joseph Ratzinger; der heutige Papst stand der vormals Inquisition genannten vatikanischen Behörde von 1981 bis 2005 vor. Es handelt sich bei der genannten Direktive offensichtlich um das gleiche vatikanische Dokument, das die Theologin Uta Ranke-Heinemann meinte, als sie von einem »Geheimschreiben Kardinal Ratzingers von 2001« spricht, das einer »totalen Justizbehinderung für die staatlichen Gerichte« gleichkomme. »Geheimschreiben« ist nicht ganz richtig, der Text mit der Überschrift »De delictis gravioribus« steht auf der Internetseite des Vatikans, wenn auch nur auf lateinisch. Der entscheidende Satz ist dennoch leicht zu übersetzen: »Huiusmodi causae secreto pontificio subiectae sunt.« Das heißt: »Fälle dieser Art« – wie das von einem Kleriker mit einem Minderjährigen verübte Vergehen gegen das sechste Gebot – »unterliegen der päpstlichen Geheimhaltung«.
Papstfreundliche Kirchenrechtler weisen darauf hin, dabei handle es sich lediglich um ein kirchenrechtliches Dokument, das die weltliche Strafverfolgung in keiner Weise berühre. Sprich: Die geforderte »päpstliche Geheimhaltung « wolle und könne niemanden von einer Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft abhalten. In der Theorie ist das richtig. In der Praxis sieht es eher so aus wie im Fall des Peter K., in dem das kirchenrechtliche Paralleluniversum ganz ungeniert auf das strafrechtliche Territorium des Staates übergreift: Das Regensburger Ordinariat überredete die Eltern 1999 zunächst dazu, keine Anzeige zu erstatten und statt dessen als Gegenleistung für ein Schmerzensgeld ein Stillhalteabkommen zu unterschreiben (»Im wohlverstandenen Interesse der Kinder und auf ausdrücklichen Wunsch der Eltern soll Stillschweigen gewahrt werden«). Oder, wie es Wolf Haas just im selben Jahr in seinem einschlägigen Krimi Silentium ausdrückt, in dem sich sein Privatdetektiv Simon Brenner als Hausmeister in ein Salzburger Knabeninternat einschleicht und sich verschiedene Parolen erst erklären lassen muß, zum Beispiel das Schild mit der Maßgabe: »Silentium!« Brenner hat keine Ahnung, was das bedeutet, aber es wird ihm freundlicherweise erklärt: »Silentium!, das heißt: Halt’s Maul! auf lateinisch.«
Florian Sendtner schrieb in KONKRET 3/10 über die Hatz auf Hartz-IV-Empfänger
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