02.05.2013 13:45
Der Tag wird kommen
Regie: Gustave Kevernen; Benoît Deléphine, Albert Dupontel; Frankreich/ Belgien 2012 (Alamode); 92 Minuten, ab 2. Mai im Kino
Der konterrevolutionäre deutsche Filmtitel führt in die Irre. »DerTag wird kommen« will sich etwa so fortsetzen: »… an dem ihr in das Reich des Herrn eingehen werdet«. Oder »ins Paradies der Einkaufszentren«. Damit sind wir zwar in der Top Location dieses Films. Aber mit falschen Erwartungen. Denn der Originaltitel »Le grand soir« steht als politischer Begriff fest: Wir sind am Vorabend der Revolution.
Au wei, solche Botschaften haben bleierne Füße, und wie sollen dann Leute ins Kino à la mode kommen? Das wird sich der deutsche Verleih gesagt haben. Tatsächlich werden im Film zwar null politische Phrasen gedroschen. Aber es wird einwandfrei anarchisch gespielt. In einem dieser von der Stadtmitte ausgesourcten Einkaufszentren. Mit dem Auto schnell (Parkplätze genug!), aber zu Fuß langweilig zu erreichen (Ausfallstraße, endlos).
Das Wörtchen NOT hat er auf seine Stirn tätowiert. Er: Das ist der in die Jahre gekommene Punk, im Alter, in dem andere die Midlife Crisis kriegen. Er aber, weit und breit der älteste Punk-mit-Hund, ist sich einer Sache sicher: Die Antwort auf alles, was von ihm gewollt wird, ist das NICHT auf der Stirn.
Was nicht so gern gesehen wird, macht erst recht Spaß. Der Film lebt von diesen frechen und irre komischen Momenten. Nackt duschen im Kreisverkehr auf der Insel. Sie ist geschmückt mit einem überdimensionierten Kunstwerk, dem Nachbau einer altrömischen Wasserleitung. Ein Wasserfall ergießt sich (wir sind im Einkaufszentrum von Bègles bei Bordeaux).
Wie übernachten? Am besten samt Hund in einem der Kinderhäuser vor den Juniorshoppingauslagen. Und was ist mit dem Morgenjoghurt? Den beiden reizenden Damen, die auf dem Parkplatz mit der Fernbedienung ihr Auto geöffnet haben, kommt er zuvor, nimmt sich aus der Einkaufstüte einen Becher – und danke auch.
Heile Punk-Anarcho-Welt, und wir sind nicht weit vom alten Diogenes- mit-Hund und seinem Es-ist-so-easy-Leute. Aber es geht weiter. NOT hat Eltern. Sie betreiben ein Kartoffelbistro im Zentrum und füttern ihren Punk durch. Auch gibt es einen Bruder, Verkäufer im Bettenshop, verheiratet, ein Kind. Es dauert nicht lange, und er ist Job, Frau und Kind los. NOT tätowiert ihm ein DEAD auf die Stirn. Dann gehen beide im Einkaufszentrum Scheiß bauen, wobei gern der ausgestreckte Mittelfinger benutzt wird und genug zu Bruch geht. Geil das.
Den Regisseuren und Drehbuchschreibern Gustave Kervern und Benoît Delépine (»Louise Hires a Contract Killer«, s. KONKRET 9/09) fallen viele schöne Sachen ein. Von mehr als cineastischem Interesse ist die Anarchoperformance vor den Überwachungskameras. Wie das geht? Angucken! Aber wohin führt das Ganze? Auch die lieben Pataterie-Eltern schmeißen hin. Was ist mit den anderen? NOT und DEAD sind beim Stage Diving im Punkclub. Da geht was ab, Mann! Wenn auch voll Alk und sonst was – ist das jetzt die vorrevolutionäre Gemeinschaft, die künftige Garde? Kommt da was zum Vorschein?
Tja, die beiden Punkbrüder sind nicht mehr an die 20, sondern an die 40. Sie wollen was bewegen. Sie rufen, wen sie kennen, zum Meeting auf. Haben Altpunks weder I-Phone noch Facebook? Ergebnis: Sie bleiben unter sich. Letzte Botschaft: Sie bauen aus den Leuchtbuchstaben der Läden und Märkte Buchstaben ab, bis sie den Schriftzug haben: We are NOT DEAD, aufgestellt und weithin sichtbar auf einem Hügel. In Hollywood-Manier.
Uff. Ein Lehrstück? Wohl denn doch nicht. Denn dem erhobenen Zeigefinger steht der dokumentarisch und teils improvisiert wirkende Charakter dieses Films entgegen. Die Regisseure haben ihren Anarchotypen Raum gelassen. Dialoge werden nicht abgefeiert; sie entstehen an Ort und Stelle. In einer Fülle von kleinen Szenen kommen Leute zu Wort – schräge Vollpersönlichkeiten –, die mit bösem Witz die Situation nicht nur beherrschen, sondern überhaupt erst herstellen. Geprobt ist das nicht. Und man glaubt, was man sieht, sofort. Ja, Herrgott, ich sag’s frei heraus, so abgenutzt das Wort ist: Die Authentizität der vielen kleinen (und sowieso der großen) Mitwirkenden trägt den Film. Ohne daß dem kritischen Rezensenten Bedenken kommen während des Films.
Auch nimmt man den Orten, an denen gedreht wird, ohne weiteres ab, daß sie so sind, wie sie sind. Okay, ich rede von Locations und Bauten und Ausstattung – wie üblich bei Spielfilmen. Aber jetzt aufgemerkt: Vergessen Sie die drei Wörter. Gedreht ist in einem real existierenden Einkaufszentrum mit real laufenden Überwachungskameras und mit realem Publikum. Es nutzt die paradiesischen Konsumtempel zum Flanieren. Alles von hohem Wiedererkennungswert. Der Film kommt an mit der Anarchokomik. Folge: Spezialpreis der Jury in Cannes. Geht doch!
Versteckte Botschaften gibt’s auch. Der dicke Depardieu, Wahrsager im Asia-Outfit, sieht die Zukunft voraus. Hinter ihm ein blauer Designhorizont, der mit Picassos Friedenstauben übersät ist. Hallo! Verstanden?!
Ich behaupte, daß der Film eine unvermutete Langzeitwirkung haben wird. Daß die Bewegung mangels Einsatz moderner Kommunikationsmittel nicht zustande gekommen ist – geschenkt. Denn wir sind nicht soweit. Wir sind, Sie erinnern sich, am Vorabend der Revolution. Und da geht’s ums Gewahrwerden, daß etwas bevorsteht, das mich aktiviert. Der gute alte Bloch schwärmte vom Vorschein, von etwas, das kommen wird. Und ähnlich, aber von der anderen Ecke, begeisterte Derrida die Nichtgestalt von etwas, mit dem ich, wir, die Gesellschaft schwanger gehen: das NICHT/NOT, bis die Gestalt geboren (jawohl, das war Derridas Bild) und nicht tot ist, sondern lebt.
Sorry, die letzten Zeilen müssen nicht sein, ich hab sie nur grad im Kopf. Aber bittschön, man kann mithilfe des »grand soir« auch was ganz Praktisches in den Blick nehmen. Es ist ja nicht nur der Film allein. An allen Ecken und Kanten, in voller Breite häufen sich die Lamentos über den Zerfall der Gesellschaft, fette Beute des Neoliberalismus, des Markts, der Bankenmafia. An welchem Punkt der Maßverhältnisse schlagen die Lamentos um in eine neue Qualität? Gute Frage. Der Film stellt sie, falls man ihn nur ein bißchen auf sich wirken läßt. Also dann: heute noch weiter anheizen, bis morgen der Siedepunkt erreicht ist.
Dietrich Kuhlbrodt
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