28.10.2013 14:21
Der vielbeklagte Personalmangel im Pflegebereich ist hierzulande immer wieder Thema. Was dabei selten zur Sprache kommt: In den unterbezahlten Pflegejobs landen in Deutschland, unabhängig von ihrer Ausbildung, vor allem Migrantinnen. Was sie sich dort gefallen lassen müssen und welche speziellen Probleme es bei der Betreuung der Nazi-Generation gibt, berichtet die Altenpflegerin Hedija Vranac aus Exjugoslawien. Das Interview erschien in Literatur-KONKRET Nr. 38
Literatur Konkret: Sie arbeiten seit acht Jahren in der Pflege, als Pflegehelferin in der Ausbildung und als Altenpflegerin. Haben Sie vorher in Jugoslawien in einem ähnlichen Bereich gearbeitet?
Hedija Vranac: Nein. Ich habe zu Hause ein Ökonomiestudium abgeschlossen, bevor ich 1999 erneut nach Deutschland fliehen mußte. Ich habe hier lange vergeblich versucht, in meinem Beruf Fuß zu fassen, mein Abschluß wird aber nicht anerkannt. Schließlich habe ich mit der Altenpflegeausbildung begonnen, auch weil das Arbeitsamt nichts anderes unterstützt hat. In der Kranken- und Altenpflege fehlen etwa 30.000 Fachkräfte und Helfer, sagt der Arbeitgeberverband, weil bei den schlechten Löhnen keiner in der Pflege arbeiten will. »Fachkräftemangel« bedeutet eigentlich nur Mangel an Menschen, die zu Dumpingpreisen arbeiten wollen.
Wieso wird nicht angemessen bezahlt?
Das ist, zumindest in den Einrichtungen, die ich kenne, einfach die Profitorientierung. Die meisten Pflegeheime und betreuten Wohngemeinschaften sind privat. Aus Sicht des Managements lohnt sich eine Bezahlung über 2.400 Euro brutto nicht. Das wäre absoluter Spitzenlohn. Der Verdienst von Pflegehelfern liegt sogar nur 40 Euro über dem regulären Hartz-IV-Satz. Für ausgebildete Deutsche ist das keine Option, für Migrantinnen, deren Papiere von der Arbeit abhängen, leider oft die einzige Möglichkeit.
Arbeiten in Ihrer Einrichtung viele Migrantinnen?
Obwohl das Arbeitsamt vor allem weibliche Migranten mit allen Mitteln in die Pflege drückt, sind bei uns derzeit nur 30 Prozent Migrantinnen. Im ganzen Gesundheitsbereich in Deutschland sind es letztes Jahr um die 100.000 »ausländische Fachkräfte« gewesen, das sind sechs Prozent. Parallel werden direkt Leute aus dem Ausland angeworben, aber viele gehen lieber nach Skandinavien oder Australien, wo das Leben und die Bezahlung besser sind. Zur Zeit läuft ein Programm der Arbeitsagentur mit Bosnien-Herzegowina, insgesamt 1.500 gelernte Arbeitskräfte sollen in der Pflege arbeiten. Obwohl die Bezahlung so schlecht ist, weiß ich, daß allein in Sarajevo auf 450 Stellen sofort 490 Bewerberinnen kamen. Die Arbeitsbedingungen, die die Menschen hier erwarten, sind entweder nicht bekannt oder schrecken sie nicht ab, die Situation in Bosnien ist katastrophal.
Die meisten Altenpflegerinnen werden berufsbegleitend ausgebildet. Was bedeutet das?
Das bedeutet begleitend zur Schichtarbeit als Helferin vier Jahre Ausbildung, die inzwischen sehr hohe Standards hat, gerade was das Medizinische und das Schriftdeutsche betrifft. Das Problem ist, daß die Arbeitsämter jede Migrantin in die Altenpflegeausbildung schicken, die Berufsschullehrer aber – untertrieben gesagt – nicht darauf vorbereitet sind, Menschen in ihrer zweiten Sprache auszubilden. Sie verlangen von allen Schülerinnen dasselbe Schriftdeutsch, jeden Wiederholungsfehler zählen sie einzeln (so hatte ich in einer Klausur allein deshalb 80 Fehler, weil ich Fachkrafte statt Fachkräfte geschrieben habe). Mir wurde mehrfach geraten, die Ausbildung abzubrechen, ich sei zu dumm und zu faul, obwohl ich parallel weiter Förderunterricht nahm. Ich habe meine Ausbildung schließlich als Jahrgangsbeste abgeschlossen. Den Erfolg habe ich teuer bezahlt: Gesundheitlich war ich mehrfach kurz vor dem Zusammenbruch, auch aufgrund der Arbeitsbedingungen im Job, der ja parallel lief.
Wie sehen die konkret aus?
Auf unserer Station werden beispielsweise insgesamt 45 Bewohnerinnen und Bewohner von einem Team von insgesamt acht Pflegefachkräften (examinierte Altenpflegerinnen) und Pflegehelferinnen im Dreischichtsystem betreut: Frühschicht mit vier Pflegerinnen, Spätschicht mit drei Pflegerinnen
und Nachtschicht mit in der Regel einer Pflegerin oder einer Pflegehelferin. Der Personalschlüssel ist heute noch geringer als vor acht Jahren, als ich im Betrieb begonnen habe, damals waren immerhin sechs Pflegende in der Frühschicht und vier in der Spätschicht.
Wie werden die Schichten vergeben? Im Wochenrhythmus Nacht-, Spät-, Frühschicht?
Nein, es ist die Regel, daß tageweise gewechselt wird. Das bedeutet, daß beliebig ein bis zwei Tage Nacht-, ein- oder zwei Tage Spät- und in der Folge beispielsweise drei Tage Frühschicht vergeben werden. Bei Betrieben mit Betriebsvereinbarungen sind freie Tage nach der Nachtschicht vorgeschrieben. Viele migrantische Auszubildende arbeiten jedoch gleichzeitig im selben Betrieb als Minijobberinnen. Das bedeutet dann, auf die regulären Schichten folgt noch die Nachtschicht als Minijob. Teilweise arbeiten sie dann 17 Stunden am Stück, davon in der Nacht zehn Stunden alleine. Das führt zu immensem Streß. Der Tagesablauf ist sehr intensiv, das heißt, die Aufgaben sind kaum zu bewältigen und körperlich anstrengend, ganz abgesehen von der Verantwortung. Das führt dazu, daß man nicht nur von den Bewohnern und den Angehörigen ständig beschimpft wird, sondern auch von den eigenen Kollegen.
Was gehört zu den Aufgaben der Pflegerinnen?
Wecken und zu Bett bringen, Waschen, »Essensreichung«, Medikamentengabe, Prophylaxen, Verbandswechsel, Wundversorgung und Kommunikation mit Wundschwestern und Ärzten, eventuell Visiten oder Beschäftigungen. Hier sind wir angehalten, biographieorientiert zu arbeiten, was problematisch ist.
Inwiefern?
Fragen Sie einmal eine 1920 oder 1930 geborene Deutsche nach ihrer Biographie. Viele meiner Kolleginnen können die Geschichten nicht mehr hören, auch das Vokabular. Eine Kollegin aus der Türkei erlebte zu Beginn ihrer Ausbildung, daß eine demente Bewohnerin, die sie am Morgen weckte, geschäftig aufstand und fragte, ob die Lastwagen schon da seien. »Welche Lastwagen?« fragte die Kollegin. »Na, um sie abzuholen!« Meine Kollegin begriff nichts: »Wen abzuholen?« »Na, die Juden!« Absolut kein Einzelfall.
Mir war schnell klar, und es gehört zu meinem Beruf, damit umzugehen, daß die Menschen, die ich pflege und gegenüber denen ich zu ethischem Handeln verpflichtet bin – Fürsorge, Wohlergehen, Respekt –, mich offen ablehnen, beleidigen, beschimpfen und bespucken, manchmal schlagen. Gerade demente Bewohner/innen (und das sind sehr viele), die ab einem gewissen Stadium nicht nur ihr Zeitgefühl und ihre allgemeine Orientierung verlieren, sondern auch im Verhalten Kontrolle einbüßen, sind im Umgang vulgär. Eine meiner türkischen Kolleginnen, die nachts auf Minijobbasis zusätzlich schichtete, wurde vier Jahre lang von einer Bewohnerin mit »Türkenvotze« und ähnlichem angeredet. Viele männliche Bewohner fassen uns regelmäßig an, fragen, ob man »es im Bett bringt«, machen laufend Anspielungen, »Südländerinnen« seien »heißblütig«, einer forderte alle 15 Minuten, ich solle gefälligst mit ihm ficken.
Andere Bewohner weigern sich, sich von »Kanaken« anfassen zu lassen. Diese Meinung teilen viele Angehörige. Vor einem Jahr sagte die Frau des ehemaligen Bundespräsidenten Walter Scheel bei »Anne Will«, es sei ja wohl unzüchtig, wenn ein »schwarzer Afrikaner« eine »alte Dame unten herum« wasche oder so ähnlich. Diese Aussage zitieren Angehörige immer wieder.
Sie werden nicht in der Pflege bleiben?
Nein. Die physische und psychische Belastung macht es unmöglich, den Beruf länger als acht Jahre auszuüben. Im besten Fall gelingt es mir, Gesundheits- und Pflegemanagement zu studieren. Andere Kolleginnen arbeiten in migrantischen Pflegediensten und vermeiden so den täglichen Rassismus.
– Interview: Ann Löwin –
Ins Archiv der konkret-News geht es hier entlang.