27.06.2017 16:11
Woher kommen die starken Vorbehalte, die es in Deutschland nach wie vor - und nicht nur unter Rechten - gegen die Ehe für alle und die rechtliche Gleichstellung der Homosexuellen gibt? Tjark Kunstreich beantwortete diese Frage in konkret 7/15
Als am 23. Mai 2015 Conchita Wurst, die vorjährige Gewinnerin des Eurovision Song Contests (ESC), die Show in Wien eröffnete, war bereits bekannt, dass eine große Mehrheit der Iren, die sich an der Abstimmung über die Freigabe der Ehe für homosexuelle Paare beteiligt hatten, mit Ja gestimmt hatte. Den ESC, der, neben den jährlichen Demonstrationen rund um den Jahrestag der Stonewall-Riots vom Juni 1969, zum größten Ereignis medialer homo- und transsexueller Sichtbarkeit geworden ist, gewann in diesem Jahr ein echter Mann mit echtem Bart: der Schwede Mans Zelmerlöw, der zuvor aufgrund einiger homophober Kommentare, mit denen er seine Heterosexualität unter Beweis stellen zu müssen meinte, unter verschärfter Beobachtung der ESC-Community gestanden hatte. Eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als könnte die Russin Polina Gagarina mit ihrem absurd pathetischen Friedenslied den Wettbewerb gewinnen. Ein Sieg der Russin aber hätte bedeutet, dass der ESC im kommenden Jahr in einem Land hätte stattfinden müssen, in dem das Propagieren nichttraditioneller Beziehungen unter Strafe steht – ein Gedanke, den offenbar nicht wenige reizvoll fanden.
Conchita Wursts »We are unstoppable« hat sich mit dem irischen Ja zur Gleichstellung homosexueller Partnerschaften scheinbar ein weiteres Mal bestätigt. Die Reaktionen in Deutschland und Österreich auf die Abstimmung in Irland lassen bei den Gegnern der Ehe für alle denn auch einen resignativen Zug erkennen; sie mutmaßen, dass die Gleichstellung nur noch eine Frage der Zeit ist. Die Befürworter der Ehe für alle geben sich große Mühe, diesen Eindruck zu bestätigen, und verorten das Problem vor allem bei den Politchristen der großen Konfessionen. Wie um das zu bestätigen, hatte ein Vertreter des Vatikan, Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin, kurz nach der irischen Abstimmung erklärt: »Ich glaube, man kann nicht nur von einer Niederlage der christlichen Prinzipien, sondern von einer Niederlage für die Menschheit sprechen«, und damit vorhersehbare Reaktionen ausgelöst.
Die »FAZ« sieht die »Verfechter der klassischen Ehe« auf dem Rückzug, sie »haben es offenbar akzeptiert, sich in eine Nische zurückziehen zu müssen, in der nur hinter vorgehaltener Hand über die erstaunlich weitverbreitete Tradition geredet wird, dass Mann und Frau dazugehören, ein Kind zu zeugen. Geht es nach dem sogenannten Gendermainstreaming, also nach der offiziellen Richtschnur von Universitäten, Ministerien und wohl bald der Schulen, ist auch das, die Berufung auf die Natur, schon ein Zeichen latenter Homophobie.«
Hier sind die beiden zentralen Themen, die konservative Gegner der Schwulenehe wie Monstranzen vor sich hertragen, zusammengefasst: zum einen die Tradition, die in Deutschland so weit verbreitet ist, dass erst kürzlich wieder das Aussterben der Nation prognostiziert wurde; zum anderen der Verweis auf das Gendermainstreaming, das mit gleichen Rechten für homosexuelle Paare ungefähr soviel zu tun hat wie mit Frauenemanzipation: nämlich gar nichts. Beide Male geht es vorgeblich um Privilegien.
Nach dieser Argumentation besteht der Zusammenhang der beiden Themen darin, dass mit der rechtlichen Gleichstellung der besondere Schutz für Ehe und Familie aufgeweicht werde und so eine Entprivilegierung der klassischen Keimzelle der Gesellschaft stattfinde; zugleich bekämen homosexuelle Paare mit dem Zugang zum Institut der Ehe Privilegien, die sie wegen ihrer Unfähigkeit, Kinder in die Welt zu setzen, nicht haben dürften. Damit wiederum entmutigten sie heterosexuelle Paare, ihre Pflicht zu tun und Kinder in die Welt zu setzen, weil Ehe und Familie nichts mehr gälten.
Die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer tutet ins gleiche Horn: »Wir haben in der Bundesrepublik bisher eine klare Definition der Ehe als Gemeinschaft von Mann und Frau. Wenn wir diese Definition öffnen in eine auf Dauer angelegte Verantwortungspartnerschaft zweier erwachsener Menschen, sind andere Forderungen nicht auszuschließen: etwa eine Heirat unter engen Verwandten oder von mehr als zwei Menschen. Wollen wir das wirklich? «
Besonders skandalös ist die Bemerkung nicht. Sie insinuiert eben nicht einen Vergleich zwischen homosexuellen Partnerschaften und der Verwandtenehe, sondern sie kritisiert die Aufweichung des Ehebegriffs zugunsten einer beliebigen »auf Dauer angelegten Verantwortungspartnerschaft«. So möchten wahrscheinlich auch die meisten Homosexuellen, die überhaupt heiraten wollen, ihre Beziehung nicht definiert wissen. Infam an Kramp-Karrenbauers Bemerkung ist vielmehr, dass sie behauptet, in der Bundesrepublik bezeichne Ehe die Gemeinschaft von Mann und Frau – im Grundgesetz heißt es: »Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung« – , und unterstellt, die rechtliche Gleichstellung habe eine Liberalisierung des Ehe-und-Familienbegriffs zur Folge: Darauf kann man aber nur kommen, wenn man Homosexuelle für nicht annähernd so ehe- und familienfähig hält wie Heterosexuelle; nur dann müsste das Recht sozusagen nach unten angeglichen werden.
Genau das ist im übrigen in den vergangenen Jahren geschehen, nachdem in Deutschland 1999 die eingetragene Lebenspartnerschaft eingeführt wurde. Die rechtlichen Regelungen, die zunächst fast nur Pflichten, aber keine Rechte kannten, waren darauf ausgelegt, eine Homo-Ehe einzuführen, deren Eheleute sich schon in einem besonderen Ausmaß lieben mussten, um den Schritt der Verrechtlichung ihrer Liebe zu machen. Nicht zufällig kippte das Bundesverfassungsgericht Schritt für Schritt dieses fragwürdige Privileg, weil es mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung schlicht nicht übereinzubringen war.
In Irland wurde 2011 eine eingetragene Partnerschaft eingeführt, die nun obsolet geworden ist. Abgestimmt wurde jetzt über einen Zusatz zum Artikel 41 der Verfassung, der in katholischer Tradition einen Familienbegriff definiert und einen besonderen Schutz für Mütter formuliert. Es wurde nichts verändert, sondern lediglich der Satz: »Marriage may be contracted in accordance with law by two persons without distinction as to their sex« hinzugefügt. Weder der besondere Schutz der Familie noch die Privilegierung der Ehe wurde angetastet, es wird lediglich festgelegt, dass die Geschlechtszugehörigkeit der Ehepartner nicht mehr gegengeschlechtlich definiert ist.
Über die Gründe des Ergebnisses der irischen Abstimmung, das die deutsche und österreichische Öffentlichkeit überrascht hat, obwohl es absehbar war, gibt es nun einige Spekulationen: »Der Ausgang des Referendums in Irland lässt sich als ein Akt des Protests oder auch der Befreiung lesen«, meint die »FAZ«, »der Sieg der gleichgeschlechtlichen Ehe erklärt sich auch damit, dass viele Iren die Bevormundung durch eine katholische Kirche satt haben, die in Irland ihre Macht missbraucht hat und in Fragen der Sexualität angesichts haarsträubender Affären kaum noch glaubwürdige Antworten geben kann.« Eine Protestwahl also, damit kennen sich die Deutschen aus. Nun hat es aber gar keinen Sieg der »gleichgeschlechtlichen Ehe« gegeben, und, anders als in Frankreich, auch keine gewalttätigen Ausschreitungen, sondern eine eher höfliche Kontroverse. Die konservative irische Regierung, die sich an die Spitze der Bewegung zugunsten der neuen Regelung gesetzt hatte, ist zudem alles andere als eine nationale Bewegung zur Befreiung vom Katholizismus.
Die hiesige Überraschung über Irland, dem man unterstellt hatte, erzkatholisch zu sein, ist eher ein Ausdruck der Ignoranz und des Unverständnisses. In der Berichterstattung über das Referendum wurde beispielsweise immer wieder darauf hingewiesen, dass Irland erst 1993 die Homosexualität legalisiert hat – allerdings ohne zu erwähnen, dass in Deutschland der Paragraf 175 erst 1994, also ein Jahr später, gestrichen wurde, nachdem er in der BRD bis 1969 noch in seiner Nazi-Fassung in Kraft gewesen war. Tatsächlich scheint empirisch das Gegenteil zu stimmen: Dort, wo der Katholizismus noch eine gesellschaftliche Kraft darstellt, ist die Ehe für alle ohne jede Einschränkung, insbesondere in der Frage der Adoption, offenbar einfacher durchzusetzen als in protestantisch geprägten Ländern, in denen zumeist mit einer Vielzahl von Sondergesetzgebungen wie Eingetragenen Lebenspartnerschaften eine rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen verhindert wird.
Spanien, Argentinien, Brasilien, Uruguay, einige mexikanische Bundesstaaten, aber nicht zuletzt auch Frankreich und Belgien haben die Ehe für alle geöffnet. Das ändert nichts an der ablehnenden Haltung des Vatikans, für den die Ehe zwischen Mann und Frau eben ein Sakrament ist und damit noch eine andere Dimension besitzt als die zivilrechtliche; für viele Katholiken scheint jedoch gerade dieser Unterschied der Grund zu sein, die Eheöffnung zu befürworten: Die Trennung von Kirche und Staat scheint für Katholiken nicht annähernd so kompliziert zu sein wie für Angela Merkel. Kaum jemand nimmt zur Kenntnis, dass ausgerechnet Irland eine sehr strikte laizistische Verfassung besitzt, wenn auch viele Grundsätze der katholischen Moral- und Soziallehre in sie eingeflossen sind, wie die Unauflöslichkeit der Ehe und das Abtreibungsverbot. Zwar gibt es unterdessen eine sehr begrenzte Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch und ein sehr restriktives Scheidungsrecht, aber in dieser Hinsicht gibt es weniger Bewegung als ausgerechnet in der rechtlichen Gleichstellung von Homosexuellen.
Von einer Protestwahl im eigentlichen Sinn kann also nicht die Rede sein, vielmehr von einem durchaus widersprüchlichen Bekenntnis zu katholischen Werten und zu einer Integration der Homosexuellen im besten Sinn. Die Country-Ikone Dolly Parton brachte es anlässlich der Auseinandersetzung um die Ehe für alle in den USA vor zwei Jahren auf den Punkt: »Sure, why can’t they get married? They should suffer like the rest of us do.« In Deutschland, Österreich und den deutschsprachigen Kantonen der Schweiz ist man von dieser einfachen Erkenntnis weit entfernt. Hugo Müller-Vogg, ehemals Mitherausgeber der »FAZ«, führt das in der »Huffington Post« vor: »Wer sich also bei dem Ruf nach der ›Ehe für alle‹ auf den Wortlaut des Artikel 6 beruft, unterstellt den Mitgliedern des Parlamentarischen Rats, sie hätten damals strafbewehrte Schwulenbeziehungen unter den Schutz des Staates gestellt.« Damals war schließlich der Paragraf 175 noch in der NS-Fassung in Kraft. Und was damals Recht war, muss Recht bleiben – so Müller-Vogg, der so tut, als sei das Grundgesetz so etwas wie das Neue Testament, und der damit zu erkennen gibt, wie wenig er vom Rechtsstaat und seinen Entwicklungen hält.
Es sind aber nicht allein die konservativen und kirchlichen Gegner der Ehe für alle, die sich mit einer Niederlage abfinden könnten und mit deren Argumenten sich zu befassen nicht so abwegig ist, wie einige Aktivisten zum Beispiel in ihrer Reaktion auf Kramp-Karrenbauer meinen, die sie wegen Volksverhetzung angezeigt haben. In den USA und in einigen europäischen Ländern gibt es nämlich durchaus konservative Befürworter der Öffnung der Ehe: Sie sehen darin eine Stärkung der Werte von Ehe und Familie, und selbst in bezug auf die Kinderfrage finden sie es wichtiger, dass Kinder überhaupt Eltern haben, als dass sie sich über die mögliche Gleichgeschlechtlichkeit der Eltern sorgen. Auch in der »FAZ« fiel es Stefan Niggemeier auf, dass die Ehe für alle doch eigentlich ein konservatives Projekt sein müsste; er zitiert den konservativen britischen Premierminister David Cameron, der früher Margret Thatchers Version des Homo-Propaganda-Gesetzes, die Clause 28, unterstützt hatte und der nun zu dem Schluss gekommen ist: »Ja, es geht um Gleichberechtigung, aber es geht auch um etwas anderes: sich zu verpflichten. Konservative glauben an Bande, die uns verbinden; daran, dass die Gesellschaft stärker ist, wenn wir einander Versprechen abgeben und uns gegenseitig unterstützen. Deshalb unterstütze ich die Homo-Ehe: nicht obwohl ich ein Konservativer bin. Ich unterstütze die Homo-Ehe, weil ich ein Konservativer bin.« Seine Gegner sagten Cameron eine Wahlniederlage wegen der Eheöffnung voraus. Das Gegenteil trat ein.
Wo also liegt in Deutschland oder Österreich das Problem, könnte man nun fragen. Neben den bekannten Schwierigkeiten der Kanzlerin, der, wie anderen, die der Ehe für alle skeptisch gegenüberstehen, in sogenannten sozialen Medien geschmackloserweise ihre eigene Kinderlosigkeit vorgehalten wird, liegt es wohl auch bei den Linken. Wenn etwa Jakob Augstein in seiner »Spiegel Online«-Kolumne schreibt, der Widerstand gegen die Homo-Ehe sei nur noch ein letztes konservatives Rückzugsgefecht, und dann meint: »Ein Blick auf die Zahlen mindert die Dringlichkeit (der Gleichstellung, T. K.) ein wenig: Es gibt rund 18 Millionen mehr oder minder heterosexuelle Ehepaare in Deutschland – und etwa 35.000 eingetragene homosexuelle Lebenspartnerschaften. Mit einem Massenthema hat man es hier nicht gerade zu tun« – dann spricht aus ihm das Ressentiment gegen die Minderheit, das sich mit solchem Schmuddelkram nicht weiter befassen muss. Denn Augstein hat ja nichts weniger im Sinn als das Wohl und Wehe der Menschheit (das er vor allem durch Israel und die Juden bedroht sieht). Diese subkutane Verachtung ist folgenschwerer als noch der dümmste »FAZ«-Kommentar, der immerhin nicht den individuellen Anspruch auf Rechtsgleichheit leugnet, den Augstein offenbar für nicht sonderlich relevant hält. Eben deswegen ist auch von dieser Seite nichts zum mörderischen Homosexuellenhass des Islamischen (Un-)Staats zu hören.
Auch Leo Fischer hat im »ND« den beiden großen »Staatskirchen« die Schuld gegeben, er ist aber nicht so optimistisch-indifferent wie Augstein: Fischer meint, es werde die Ehe für alle in Deutschland nicht geben. »Diese beiden in Europa einmaligen Überbleibsel des Feudalismus (die Staatskirchen, T. K.) haben das Land zwar ideologisch längst verloren und preisgegeben, sind aber institutionell aufs innigste mit ihm verschmolzen und gewähren Politik und Wirtschaft einen immensen Handlungsspielraum da, wo eigentlich keiner sein dürfte.« Das erinnert doch eher an eine Verschwörungstheorie, die einen Schuldigen sucht und finden muss und es sich dabei ziemlich einfach macht. Immerhin war es Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD), der wenige Tage vor der Abstimmung in Irland die Eheöffnung in Deutschland ohne eine Grundgesetzänderung für unmöglich erklärte – und nach der Abstimmung mit dem Finger auf die CDU zeigte. Fischer meint, »das Gefühl sexueller Schuld ist das Lebensblut der Religion, es ist der einzig verlässliche neurotische Einstiegspunkt in dieses endlose Wahnsystem. Deswegen ist es auch ein systemnotwendiges Gefühl in einem Land, in dem es keinen einzigen konfessionslosen Bundesminister gibt und das sich weiterhin verlässlich attraktiv halten will für reaktionäre Schurkenregimes jeder Couleur.«
In der Behauptung, dass das ubiquitäre sexuelle Schuldgefühl sich aus der Religion ableite und nicht aus der kindlichen Sexualität in ihrer frühen Konfrontation mit der erwachsenen, wird Religionskritik zum Popanz: Sinnlichkeit und erotisches Interesse, die in der frühen Kindheit wenig Objektbezug haben, werden mit einer Bilderwelt symbolisch aufgeladen, die religiös geprägt sein mag oder auch nicht, aber erst der Konflikt zwischen subjektiver Sinnlichkeit und Symbolen beziehungsweise Erfahrungen bildet den »neurotischen Einstiegspunkt« – dazu braucht man sich nur Madonna-Videos oder Filme von Pasolini, Fassbinder oder Ozon anzusehen. Im letzten Punkt aber hat Fischer recht: Die Zurückhaltung der politischen Klasse ist dem Opportunismus geschuldet, der es sich beispielsweise mit Putins Russland, mit dem Iran oder anderen einschlägigen Geschäftspartnern nicht verderben will. Außerdem möchte man auch weiterhin alles tun, um nicht ins Fadenkreuz des islamistischen Terrors zu geraten, was Deutschland bislang gut gelungen ist. Jüngst reiste Außenminister Frank-Walter Steinmeier in den Gaza-Streifen und ließ sich dort über die Folgen des israelischen Bombardements aufklären. Er verlor kein Wort über den Terror der Hamas gegen die eigene Bevölkerung; er sagte schon gar nichts über die dortige Verfolgung von Homosexuellen.
Es gibt nicht zuletzt auch die Angst der Homosexuellen vor der Gleichstellung, wie Niggemeier in seinem »FAZ«-Artikel schreibt: »Die Gefahr ist, dass die Anerkennung von Lesben und Schwulen daran geknüpft wird, dass sie sich der klassischen, traditionellen Institution der Ehe unterwerfen, anstatt Homosexuelle und ihre eigenen, alternativen, freien Lebensentwürfe zu akzeptieren. In diesem Sinne verändert die sogenannte Homo-Ehe vielleicht die Homosexuellen mehr, als sie die Ehe verändert, und der Kampf dafür ist einer für Gleichberechtigung, aber nicht unbedingt für Liberalisierung.«
Genau diese Befürchtung des Verlusts der Sonderstellung lässt das Engagement der deutschen Homosexuellen doch etwas lau wirken. Das wird auch daran deutlich, dass es bei ihnen ein Umschwenken auf die volle Gleichstellung erst nach der Abstimmung in Irland gegeben hat. Zuvor hatten sich grüne und LSVD-Aktivisten auf die Aufwertung der eingetragenen Lebenspartnerschaft eingestellt und sich auf die Auseinandersetzung um zahllose Gesetzesänderungen konzentriert, die Schritt für Schritt zu einer Angleichung an die Ehe führen sollten. Die Diskussion um die Ehe für alle ist auch ihnen nun aufgezwungen worden. Die Strategie der Aufwertung der Lebenspartnerschaft hat ihre Geschichte in der alten Schwulen- und Lesbenbewegung, in der die Frage nach eigenen »Lebensentwürfen« jenseits der heterosexuellen Modelle tatsächlich auf die Entprivilegierung der Ehe zielte.
In der derzeitigen Lesbian-Gay-Bi-Trans-(LGBT-)Community, in der ein nicht unerheblicher Teil sich seit geraumer Zeit in einer Art ideologischer Mimikry an den Diskursvorgaben der radikalen Linken orientiert, spielt die Frage nach der rechtlichen Gleichstellung lediglich unter dem Gesichtspunkt eines Privilegs für integrierte, weiße Schwule eine Rolle, die, sofern sie für eine rechtliche Gleichstellung votieren, als »Homonationalisten « denunziert werden, die ihre Gesellschaften »pinkwashen«, um Rassismus und Imperialismus zu legitimieren. Für einige französische Linksradikale stellte die mariage pour tous denn auch nichts anderes als eine abgefeimte Maßnahme dar, um die Kolonisierten weiter zu unterdrücken. Die Gruppe Indigene der Republik wärmte das Ressentiment auf, Homosexualität sei ein westliches Konstrukt, das in den Banlieues zu Recht keinen Platz beanspruchen könne. Es müsse der »schwule Imperialismus« bekämpft werden, propagierten sie bereits 2013.
Ein Problem mit der rechtlichen Gleichstellung, die alles andere ist als eine bloße Liberalisierung, haben demnach nicht nur Konservative und Politchristen, sondern offenbar auch so ziemlich alle anderen – und jede/r Linke, die/der in dieser Sache mit dem Finger auf die Rechten zeigt, muss sich fragen lassen, aus welchen Gründen er oder sie über den Homosexuellenhass des eigenen Lagers schweigt. Das Schweigen zeigt an, dass die Feinderklärung an Homosexuelle längst kein linkes oder rechtes Thema mehr, sondern eine Querfrontsache geworden ist: Alle zusammen werden sie schon dafür sorgen, dass sich in Deutschland und in Österreich (wo die Debatte ähnlich verläuft) alles ändert, damit es beim Alten bleibt. Die rechtliche Gleichstellung kommt nicht von selbst.
Tjark Kunstreich hat soeben das Buch Dialektik der Abweichung. Über das Unbehagen in der homosexuellen Emanzipation veröffentlicht (konkret texte 67, 135 Seiten, 15 Euro)
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