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Zum 90. Geburtstag von Wolfgang Neuss

03.12.2013 15:00

In KONKRET 6/79 schrieb Horst Tomayer über Wolfgang Neuss, seinen alten APO-Kumpel, der heute 90 Jahre alt geworden wäre.

Wolfgang Neuss: Das letzte Mal nahmen die Medien, mit denen er immer über ein »Austausch«-Abo verbunden war, 1974 von ihm Kenntnis. Gaston Salvatore war mit der Biographie des Kabarettisten (bei S. Fischer) niedergekommen: »Ein faltenreiches Kind« nannte sich Neuss' Nachlaß und unterschied sich von Erlebnisbilanzen der Gustav Knuth und Erik Ode wie Unkraut von Plastik-Veilchen.  

Trotzdem: Eine Spätgeburt. Denn - kippen wir das Bild - Neuss, der running gag der brüchigen sechziger Jahre, hatte sich, ausgepowert von sleep- und Speed-Chemie, schwindlig von der Fülle der Hochzeiten, auf denen er tanzte, entnervt von den ideologischen Gockeleien der APO-Konkursverwalter und schwer gezeichnet von einem traumatischen Erlebnis in Allendes Chile (wo er wegen angeblichen Dollar-Schmuggels und »Drogen«-Einfuhr - es war seine eigene »Haus-Apotheke« - verhaftet wurde) von der Öffentlichkeit, die er zwei Jahrzehnte instinktsicher gehandhabt hatte, längst abgenabelt und das Arbeits-»Asyl im Domizil« (am Lützowplatz, wo er seine berühmte »Pauke« machte) mit einer asketisch möblierten Eremitage in einem Neubau gegenüber dem Schloß Charlottenburg vertauscht.  

Anfangs der Siebziger, erinnere ich mich, nahm er noch hin und wieder ein Täßchen Tee am Kudamm. Auch ein Stellvertreter-Auftritt bei den »Stachelschweinen« (war das nicht 1972?) kommt mir in den Sinn. Dann verkroch er sich. Und die große Sendepause brach aus. Es wurde still um einen, dessen Metier der Krach gewesen war. Welche Metamorphose: Das Mannsbild, das nicht Pferde- noch Weiberfleisch, Whiskey und Pokertisch ausgelassen hatte, mit Menschen umgegangen war wie mit fremden Texten - er unterwarf sie gnadenlos seinem Gusto - der im Jaguar mit 200 kmh über die Autobahn raste, eingekleidet ins Tuch des Tages, ging in sich und in den Schneidersitz, mied Schweinernes und Alkohol, bestellte die Tagesblätter ab, wollte nichts mehr von Stereo hören, ja - er verzichtete sogar auf Trieb. Er ernährte sich von leichter Kost, Tee und - Hasch. Als Dessert stand häufig LSD auf der Karte.  

Da er, wie er wähnte, weder etwas zu » verbergen« habe, wie »immer noch Öffentlichkeit« sei, steckte der Sicherheitsschlüssel im Schloß der Tür zur Klausur rund um die Uhr. Jedermann konnte sich Zutritt verschaffen und - wurde vorgelassen. Der einst so rabiate, sprunghaft-aggressive, schlecht in seiner Laune auszurechnende Mann, schien über das Canabis, das man ja bekanntlich in der Gegend von Damaskus anbaut, sein Saulus-Erlebnis erledigt zu haben.  

Diese Veränderung vom Stier zum Lamm wäre dem » Stern« vor zwei Jahren freilich keinen Drei-Seiten-Report wert gewesen. Neuss, den der seichte Schein und die schnelle Befriedigung schon so oft genarrt hatten, setzte alles auf dauerhafte inwendige Konsolidierung; das Äußere ließ er schleifen. So stellte das am Bild (des Menschen) orientierte Blatt Neuss mit dem zum Indianer-Squaw-Zopf geflochtenen Haupthaar und einem vom Zahn der Zeit verwüsteten Gebiß aus. Ein » Handgeld für Shit« in Höhe von 50 Mark komplettierte diese »human-touch«-Story, in der auch von Neuss' ruhestiftenden Rauchgewohnheiten die Rede ging.  

Auch » Bild« entdeckte den Mann, der 1968 Mitbegründer der Kampagne »Enteignet Springer« war, als »abschreckendes Beispiel« mangelnder Körperpflege und falschen Drogengenusses. Wer also lesen konnte, wußte, daß Neuss notorischer Kiffer war, am ehesten der um den Kiez zirkelnde Kontaktbereichsbeamte.  

Aber vielleicht, dachte man, schlägt der doch leicht betagte Neuss bei den Joint-Jägern als » lebender Kunstvorbehalt« zu Fahndungs-Buche und darf drum straflos auf seinem Haschisch-Altenteil sitzen bleiben. Doch da fiel an einem Tag Ende April letzten Jahres in Neuss' Refugium auf ominöse Weise ein Schuß. Das Projektil verletzte Thomas den Sohn des Galeristen Jule Hammer (Uralt-Kumpel von Neuss) am Arm. Und ein Mädchen rannte, bekifft und unbekleidet, auf die Straße. Polizei kam, fand und notierte: Rund 36 Gramm Hasch und drei Trips. Die Gerechtigkeit ging los.  

Und so sitzt er fast auf den Tag genau ein Jahr danach auf dem Anklagestuhl einer Moabiter Schöffenkammer, die auf Übertretungen des Betäubungsmittelgesetzes spezialisiert ist. Sichtlich entspannt - denn er hat vor dem Termin »noch ein Pfeifchen durchgezogen«. Es ist dreizehn Uhr. Man wundert sich. Wie will denn die Vorsitzende, die Richterin Jutta Scholz, sie könnte im Alter des Angeklagten sein, bis zum Ladenschluß auch nur eine Handvoll Daten der Neuss'schen Biographie (ohne deren Kenntnis - kein Verständnis des »Drogenkapitels«) kapieren?  

Aufgewachsen im Breslau der zwanziger Jahre. Großeltern Budiken Vater Richthofen-Flieger im I. Weltkrieg. Schlachterlehre. Mit fünfzehn mit geklautem Geld ausgerückt. Sehnsucht Zirkus, Clown. Verwahranstalt für Ausgerissene am Berliner Alex. Friedensende: Granatendrehen. Krieg. MG-Schütze. Am Arsch verwundet. EK II am Bande. Rußland. Selbstverstümmelung mit einem Karabiner, linker Zeigefinger futsch. Erster Einsatz als Frontkomiker in Genesungsheimen (im Sudetenland). Wieder nach Rußland. Nach dem Krieg: Bunte Abende. Mal als Hansi Neuss, mal alias Peter Pips. Wegen eines »antibritischen Witzes« scharf am Knast vorbei. »Lachkolonien« vor der Währungsreform. Erste Begegnung mit Tucholsky. Witze aus » Reader's Digest«. Begegnung mit Wolfgang Müller. Die » Pauke« wird erfunden. Begegnung mit Willy Brandt. Tingeln für die SPD. Fernsehn schaltet sich wegen einer »SPD-Wahlkampf-Pauke« aus. Als »antifaschistisch-kommunistischer Doppelagent« vor zigtausend Leuten in der »Waldbühne«. In den fünfziger Jahren mehr als fünfzig Filme, meist mit Wolfgang Müller. Geld wie Heu. Bundesverdienstkreuz abgelehnt. Filmgeschäfte mit dem südafrikanischen Diamantmillionär Oppenheimer. Erster eigner Film » Wir Kellerkinder«. Tod des Partners Wolfgang Müller. Werbefilme für Damenstrümpfe. Fernsehkrimi-Serie. »Spiegel«-Story über den deutschen Karneval. Filmgeschäfte mit dem späteren FIBAG-Verwickelten Winkel. Projekt »Genosse Münchhausen« - ein Film über den Mauerbau. Soll »antikommunistisch« werden, (Lemmer gibt Geld), aber dann will er »für Brandts Ostpolitik« pointieren (Brandt gibt Geld). Verrät den Mörder in Durbridges »Straßenfeger« »Das Halstuch« - Aufschrei der Nation. Kontakte mit der »Gruppe 47«. Kunstpreis der Stadt Berlin. Mit Pohland und Pfleghar in Hollywood, filmen. »Das jüngste Gerücht«. Eintritt in die SPD. Kontakte mit Helene Weigel und Wolf Kaiser vom Berliner Ensemble. Mit Biermann zusammen Ostermarsch in Frankfurt. Kontakt zu Konrad Wolf von der DEFA - wegen Biermann abgebrochen. Satire-Blatt »Neuss Deutschland«. 1965: »Neuss Testament«. Kontakt zur »Subversiven Aktion« von SDS-Mitgliedern. Gegen die »Glöckchen«-Aktion der Berliner Porzellan Manufaktur zugunsten der Vietnam-Witwen in den USA. »New York Times« solidarisch mit Neuss. Verlegerverband gewinnt Prozeß »Anzeigenboykott Neuss«. Flugblattaktion mit SDSlern. (Dutschke, Horlemann, Levevre etc). Neuss »politisiert« sich. TV-Aufzeichnung von »Neuss Testament«. Hasch-»Premiere«. Proben bei Piscator. Verfilmung von Grass' »Katz und Maus« mit den Brandt-Söhnen in Polen. Sammlung im »Asyl« für den Vietkong. Unter Zadek: »Mühsam« - TV-Spiel. Mit SDSlern bei Barsig wegen »einer Stunde Sendezeit täglich für die APO«. Unter Peter Stein »Vietnam-Diskurs«. Auf Einladung des Bochumer Uni-Rektors Biedenkopf (später CDU-Größe) eine katastrophale Stunde Brachial-Kabarett. Immer mehr Tabletten in geringeren Abständen. Rausschmiß aus der SPD (wegen DFU-Wahl-Appell). Und ununterbrochen: Diskussionen mit SDSlern, deren »Theorien, Modellen und Systemen« der »praktische Bühnenarbeiter« nicht gewachsen ist und die er schließlich flieht wie die Pest, in die »innere« Emigration...  

Gehört also diese brüchige Vita eines lebens-, arbeits-, genuß- und ruhmsüchtigen Kabarettisten, der Programme machte und sein eignes Programm war, nicht zur Sache, die hier verhandelt wird?  

Die Vorsitzende hat damit, scheints, nichts im Sinn. Aber dafür nimmt sich Neuss die Chance, die ihm die scharf am Buchstaben des Betäubungsmittelgesetzes orientierte Verhandlungsführung bietet, und - sein vor Jahren eingemottetes, aber nicht verrostetes Handwerkzeug.  

»Sie sind Schauspieler von Beruf«, sagt die Vorsitzende. Aber ja, Neuss ist auf Vorstellung programmiert. So kommt es vor Publikum zum Show-Down. Die Richterin zieht, will »überführen«, aber der Angeklagte ist, weil absolut ehrlich, schneller. »Wovon leben Sie,« fragt sie. Da antwortet Neuss wahrheitsgemäß: »Von Haschisch«. »Können Sie sagen, warum Sie nicht mehr Schauspieler sind?« »Weil ich Haschisch rauche«. »Wissen Sie nicht«, fragt sie, »daß der Besitz und das Rauchen von Haschisch verboten ist?« Neuss: »Das Rauchen auch?« Die Richterin: »Das Rauchen setzt ja voraus, daß Sie sich zunächst mal in den Besitz von Haschisch gesetzt haben.« Neuss: »Wie soll ich mich denn wehren dagegen, wenn es mit der Post kommt?« Die Vorsitzende: »Sie kriegen Haschisch mit der Post?« Neuss, nachweislich Nutznießer des Zustellnetzes: »Ich krieg es ständig mit der Post, nur mit der Post.« Die Richterin, die wohl noch nie Canabis im Kasten fand: »Sie kriegen es von der Post? Wie geht denn das?« Ganz einfach: »Weil ich seit neun Jahren meine Wohnung offenlasse.«  

Aber dann legt er doch einen Zahn zu: »Soll sich ein alter Kerl zum Alkoholtrinken zwingen lassen? Oder soll er was anderes machen?« Er hatte sich gesagt: »Übertritt das Gesetz, rauche Haschisch und bleibe gesund. Es muß im öffentlichen Interesse sein, daß ich keine Alkoholleiche bin, sondern ein intelligenter Mitmensch, wenn ich schon nicht mehr auftreten kann.«  

Apropos, warum er denn nicht mehr aufgetreten sei. »Weil ich geistig am Ende war. Ich hab nicht mehr weitergewußt.« Die Vorsitzende: »War das ein Problem des Alkohols damals?« Neuss: »Nein. Ich hab sehr viele Tabletten genommen. Unglaublich viele. Also Anmacher, Preludin. Spitzentabletten. Dreißig Stück am Tag. Und dreißig Schlaftabletten, daß ich überhaupt noch schlafen konnte bei dem ganzen linken Quatsch, den wir damals gemacht haben.«  

Da freut sich die Richterin, daß das Kind nicht nur die zerbrochene Fensterscheibe, sondern auch noch den gestohlenen Ball beichtet: »Sind Sie sich im klaren, daß das eine Nachtragsanklage wegen der Preludin-Tabletten geben kann«?  

Jetzt wird auch der Staatsanwalt, ein jüngerer Herr, gegen dessen Haar- und Barttracht von der Stange der Frisur-Freak Neuss Figur macht, munter. Er regt nuschelnd an, Neuss auf dessen »Schuldfähigkeit« in einer psychiatrischen Klinik untersuchen zu lassen, worauf Neuss im Diskant kontert: »Ich beantrage, daß der Staatsanwalt diesen Antrag zurückzieht.«
 

Und da ist, wie Kai aus der Kiste (»rein zufällig«, sagt der Vorsitzende) auch Dr. Kleiner, der Chefarzt der nicht aufs beste beleumundeten Bonhoefferschen-Heilanstalt zugegen. Keine Frage und auf den ersten Blick: »Herr Neuss ist ein kranker Mann. Eine menschliche Tragödie. Die ideologisierte und nationalisierte Tragik in Person.«  

Neuss, aus dem Stand, paar Phon plus: »Ich lasse mich nicht auf Tragik abschieben. Ich bin ein wacher Berliner und ein geistiger Mensch. Ein geistiger Mensch ist immer dem Wahnsinn nahe.« Wer sagts, wen meints?  

Nachdem der Staatsanwalt auf die psychiatrische Untersuchung Neuss' plädiert hat, sagt der Angeklagte: »Die Anstalt möchte ich sehen, die mich nimmt.« Darauf der Inhaber der Wahnsinns-Reparatur-Werkstätte, Dr. Kleiner: »Da brauchen Sie sich nicht zu sorgen.« Neuss, durch alle Lücken lachend: »Da würd ich auf der Bühne 'ne Pointe draus machen.« Uni sorgfältig getimtes »sorry«: »Ich wollte Sie nur ein bißchen reizen.« Ausgereizt das Blatt? Aber nicht doch. Frau Richter zieht den Joker aus dem breiten Ärmel: »Dafür ist Dr. Kleiner ja Psychiater, daß er sich nicht reizen läßt.« Frechheit. Ein Nervenarzt ohne Nerven? Wo er doch drauf studiert hat.  

Wie geht diese prozessuale Ungeheuerlichkeit aus, einen Mann, der in dieser krummen Republik allemal grade ging, wegen seiner Raucherei auf den Verrückten-Prüfstand zu stellen?  

Neuss (»ich betrachte mich selbst als Experiment«) ist einverstanden, dem Psychiater als plaudernder Probant zu dienen. Schließlich definiert er die »professionell betriebene Krankheit« als »Mitteilungssucht«.  

Die Richterin rät zum Anwalt beim Dacapo der Wahrheitsfindung. Alles wartet auf einen Witz vom Kaliber »Makler«. Kommt nicht. Neuss hätte Schily ganz gern, »aber der hat sicher keine Zeit für mich, haben ja viele meiner früheren Freunde keine Zeit mehr... «  

Richterin Scholz, hilfsbereit: »Ich werde Herrn Schily darauf ansprechen.« Kommt jetzt noch die Auflage, das Pfeifchen im Spind zu lassen, zu enden den Rechtsbruch? Unterbleibt. Schlamperei.  

Neuss, der, kaum ist die Verhandlung geschlossen, auch noch zugibt, hin und wieder 'nen Brösel gedealt zu haben, wenn das Bare für Tee und leichte Kost knapp war, noch im Saal: »Nach ein paar Wochen redet der Dr. Kleiner so wie ich.«  

Dann klickt es wieder, denn die Springer-Töchter »Bild« und »BZ« wollen am nächsten Tag groß aufmachen auf der eins, mal fraglich »Wolfgang Neuss verrückt?«, mal in sicherer Diktion: »Wolfgang Neuss in die Nervenklinik«.  

Fragen sich die Prozeßbeobachter, die Neuss als Kumpel aus der APO-Zeit erinnern: Ob das für'n revolutionäres Remake reicht - Rauchen und so'n dubioses Renommee bei Springer?  

Wo doch von Atomenergie bis »Zentrale Erfassung aller Opposition« die Themen auf der Straße liegen. Freilich muß man raus aus dem Refugium...  

 

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