19.09.2013 10:44
Am 18. September ist Marcel Reich-Ranicki im Alter von 93 Jahren gestorben. Hermann L. Gremliza widmete ihm in KONKRET 8/1994 seine Kolumne, die hier nachgelesen werden kann.
Der Spion, der unter die Deutschen kam
Vergessen Sie nicht, wir, meine Frau und ich, haben den Holocaust überlebt... Vergessen Sie nicht, Auschwitz war noch nicht befreit... Sie dürfen nicht vergessen, daß die deutschen Behörden in Polen alle Schulen verboten hatten... Und vergessen Sie nicht: Ich verdanke der Roten Armee mein Leben.
Sie haben es, wenn je gewußt, längst vergessen, die Redakteure der Bürgerpresse, die der Delinquent anläßlich der Interviews genannten Verhöre, denen sie ihn unterzogen, so flehentlich beschwor. Was, Reich-Ranicki, haben Sie gemacht damals, als unser Herausgeber, ein Leutnant des Führers, tief in Rußland jene Front hielt, hinter der die Gasöfen friedlich brannten? Und als wir im Westen Deutschlands mit den alten Kameraden wieder Staat zu machen begannen, verdiente Männer der SS und der Gestapo zu ziviler Tätigkeit in der Regierung oder auch in der Redaktion eines bekannten deutschen Nachrichten-Magazins umerzogen? Wie bitte, Sie haben die Rote Armee herbeigesehnt? Sind Kommunist geworden und Capitan des polnischen Geheimdiensts? Und haben uns, die wir Sie, den polnischen Juden, dennoch aufgenommen und befördert haben, diese Verbrechen sechsunddreißig Jahre lang verheimlicht? »Wofür hat MRR die (polnischen) Orden erhalten?« fragt das Bilderblatt »Focus« spitz und antwortet durchbohrend: »Zu einer Stellungnahme war er nicht bereit.«
Andere bemühen sich um Fairness. Rolf Hochhuth erklärt in der »FAZ«, es sei Reich-Ranickis »Ehrenpflicht« gewesen, in den Geheimdienst »seines Vaterlandes« einzutreten, weil nämlich Geheimdienst eigentlich immer eine prima Sache sei, wie man vor allem an Canaris sehe, dem Abwehrchef von Hitlers Wehrmacht. »Zeit«-Redakteur Greiner, dessen Verleger Helmut Schmidt einst auch als Hauptmann am Wolgastrand zu verhindern sich mühte, daß die Rote Armee den Marcel Reich und seine Frau befreite, erweist sich als generös genug, einem »dem Warschauer Ghetto entkommenen Juden, 24 Jahre alt, ohne Brot im Bauch und Dach überm Kopf«, einem mit Armut, Hunger, Obdachlosigkeit, Unreife und der falschen Rasse Entschuldigten den roten Fehltritt doch noch einmal nachzusehen. Es gibt cholesterinarme Margarine und Leberwurst, im Feuilleton gibt es auch einen Du-darfst-Kommunismus.
Und einen Du-darfst-nicht-Journalismus, der darüber wacht, daß der dem Warschauer Ghetto entkommene Jude, 24 Jahre alt, ohne Brot im Bauch und Dach überm Kopf, später unsere Großmut nicht überstrapaziert. »Er hatte das Recht, den Deutschen Rechenschaft zu verweigern«, schreibt das neue Deutschland im »Neuen Deutschland«, aber »er hat es verwirkt, als er Persönlichkeitsrechte, die er für sich beansprucht, bei anderen gröblich verletzte«. Das Recht des dem Warschauer Ghetto entkommenen Juden, 24 Jahre alt, ohne Brot im Bauch und Dach überm Kopf, den Deutschen die Auskunft und Rechenschaft zu verweigern, wird im Fall mangelhaften Betragens widerrufen.
Reich-Ranicki ist Teil des Feuilletons und damit Teil des Problems: »Bin ich als Jude, der ich 1938 nach Polen deportiert wurde und jahrelang im Warschauer Ghetto und später außerhalb des Ghettos unter deutscher Bestialität gelitten habe, bin ich ausgerechnet der deutschen Öffentlichkeit Auskunft und Rechenschaft schuldig darüber, was ich noch während des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren als polnischer Staatsbürger in der polnischen Armee und in polnischen Behörden getan habe?« Sein Recht, ausgerechnet der deutschen Öffentlichkeit Auskunft und Rechenschaft schuldig zu bleiben, verteidigt er, indem er ausgerechnet der deutschen Öffentlichkeit Auskunft und Rechenschaft gibt über die Lage des dem Warschauer Ghetto entkommenen Juden, 24 Jahre alt, ohne Brot im Bauch und Dach überm Kopf.
Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, und die herrschende Meinung ist die Meinung der Herrschenden. Die ausgerechnet deutsche ist die ihrer Bürgerpresse, ihres Fernsehens, ihrer »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« und ihres langjährigen Literaturredakteurs Reich-Ranicki. Sie ist es, die jetzt von ihm verlangt, was er von jedem Autor verlangt hat, der es mit dem Kommunismus zu halten schien: daß er eine triftige Entschuldigung für seine Verirrung vorlegt. Er war es, der ihr in tausend Buchkritiken das Recht gegeben hat, jedermann und also jetzt auch ihn abzustrafen, wenn er der Bourgeoisie zeitweilig den Dienst verweigert hat.
Und ausgerechnet Reich-Ranicki, der der deutschen Öffentlichkeit keine Antwort und keine Rechenschaft schuldig ist und sein wollte, antwortet und rechtfertigt sich: Er habe eben damals noch »an den Kommunismus geglaubt«, seinen »Irrtum« noch nicht »erkannt«, sei noch »verblendet« gewesen; als Hauptmann des polnischen Geheimdiensts, der wohl »alles in allem« schon zu seiner Zeit eine »kriminelle Organisation« gewesen sei, habe er entweder »nichts, buchstäblich nichts« getan, nur »harmlose Berichte« geschrieben und »niemandem geschadet«, obwohl er andererseits – »Ich war Kommunist und hielt das für meine Pflicht« – seine Tätigkeit für den Geheimdienst noch heute »nicht bedauert«.
Was heißt das? Was bedauert er nicht?: Seine Pflicht als Kommunist getan und den sozialistischen Staat geschützt oder diese Pflicht bei harmlosem Nichtstun vergessen zu haben? Reich-Ranicki teilt das Schicksal aller Angestellten, die in der Bedrängnis nur ihre Haut und dennoch auch ein bißchen Ehre zu retten versuchen. Weil er vor sich nicht als Lump und vorm »Spiegel« nicht als verdächtiges Subjekt dastehen will, geschieht ihm beides.
»Mut und Charakterfestigkeit gehören nicht zu den hervorstechenden Tugenden der geschätzten Autorin«, hat Reich-Ranicki vor Jahren über die Schriftstellerin C. Wolf geschrieben. Wie aber sollte sie, die ihm und seinen Kollegen ausgesetzt ist, Tugenden entwickeln oder bewahren, die zu entwickeln oder bewahren ihm und seinen Kollegen auch nie erlaubt wurde? Acht Jahre ist es her, da mußte Reich-Ranicki zusehen, wie seine Vorgesetzten im Feuilleton »meiner geliebten FAZ« den Nazi-Historiker Ernst Nolte die Bestialität entsorgen ließen, die den Marcel Reich ins Warschauer Ghetto gebracht hat. Das äußerste, was der einst zu den Kommunisten Gegangene diesmal zustandebrachte: Er bedauerte den Vorgang in seiner Antwort auf die Umfrage der »Süddeutschen Zeitung« zum Jahreswechsel. Dies nie zu vergessen, brauchte er seine Herausgeber nicht zu mahnen.
Wenn sie zu Boden gestreckt ist von der Konkurrenz, kommt es vor, daß eine gekränkte Betriebsnudel die Wahrheit über das Geschäft verrät: Nicht in den Kulturteil, sondern »in die Rubrik Berufliches/Soziales« gehöre, was der Karasek zum Fall Biermann jüngst gesagt habe, schreibt der Biermann und hat Recht, weil in die Rubrik Berufliches/Soziales einfach alle gehören, die der Betrieb preist oder preiskrönen läßt, der Karasek, der Reich-Ranicki und allen voran der Biermann, der seinem Wohltäter blitzschnell in den Hintern trat, als erkennbar wurde, daß dieser Preisverleiher seinen letzten Preis verliehen hatte.
Reich-Ranicki war des Betriebs bester Mann für den Teil der Rubrik Berufliches/Soziales, den sie Literatur/Literarisches Leben nennen. Keiner hat wie er auf alle künstlerischen Flötentöne gepfiffen und den Literaten den politischen Marsch geblasen. Zum Einstand im westlichen Betrieb hat er sich »von der marxistischen Literaturtheorie wegen ihrer fragwürdigen Engstirnigkeit distanziert. Jetzt schrieb ich lobend über Böll...« Später wies er den 68er-Literaten den Weg, indem er die eine Novelle von M. Walser »belanglos, schlecht, miserabel« nannte, die nächste aber »ein Meisterwerk«, wobei jeder wußte und auch wissen sollte, daß zwischen den beiden Werken kein weiterer Unterschied bestand als der, daß sich der Walser nach dem Verriß des ersten von der kommunistischen Partei abgewandt hatte. Reich-Ranicki hat Autoren von links oder aus der DDR herübergepriesen, wenn sie aber nicht kamen, ihre nächsten Arbeiten niedermachen lassen. Drei Lyriker, die für den Literaturredakteur nicht existierten, sahen ihr erstes Gedicht am Tag nach ihrem Austritt aus der DKP in der »FAZ« gedruckt.
Marcel Reich-Ranicki hat sich, kurzum, wie kein zweiter um die bürgerliche Erziehung der deutschen Intelligenz und also um Deutschland verdient gemacht. Das ist viel für einen, der einst etwas war, womit man sich um Deutschland nicht verdient machen kann: Pole, Kommunist und Jude. Als es herauskam, stellte ihn eine garantiert doppel-arische Frau Krone-Schmalz im Fernsehen vor: »Er ist Kritiker und Jude.« Aus Polen konnte er auswandern. Aus der Partei konnte er austreten. Gegen den Rest helfen heute Überstunden als Erzieher so wenig, wie Anfang der dreißiger Jahre den deutschnationalen jüdischen Frontkämpfern, die sich bei der SA um die Teilnahme am gemeinsamen Kampf gegen Rotfront bewarben, ihr im Weltkrieg erworbenes EK II geholfen hat. Wird der Jude dazu noch – außerhalb seiner Frankfurter Kernarbeitszeit – gegen ihren Nolte frech, nehmen sie die nächste Gelegenheit wahr. Der Kritiker ist in Not. Die Herausgeber genießen und schweigen.
P.S.: Ich habe vor 18 Jahren in KONKRET gegen den Literaturredakteur der »FAZ« polemisiert. Ich habe am Ende dieser Polemik Worte gebraucht, die ich nie hätte gebrauchen dürfen. Herr Reich-Ranicki wird sich erinnern. Ich hätte ihn schon längst um Entschuldigung bitten sollen.
- Hermann L. Gremliza, 1994 -
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