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Zum Tod von Peter Kurzeck

26.11.2013 15:42

Peter Kurzeck, Frank Schäfer  

Wem erzählst du die Welt?  

Am Montag ist der Schriftsteller Peter Kurzeck im Alter von 70 Jahren gestorben. "Wenn ich mich frage, wem erzählst du die Welt, dann komme ich darauf: eigentlich dem Kind, das ich mal war." Für KONKRET 3/2008 sprach Frank Schäfer mit dem Autor über dessen fünfstündigen Roman »Ein Sommer, der bleibt«, der ausschließlich in akustischer Form existiert.

Kindheit  

Alles, was man macht, hat man vorher schon gemacht. Man wird ja gelegentlich auf Lesungen gefragt: »Für wen schreiben Sie Ihre Bücher?« Neuerdings fragen mich Leute, obwohl das unsinnig ist: »Schreiben Sie für Ihre Tochter?« Das könnte man bei den Kindheitsgeschichten denken. So ähnlich wie in den Jahrestagen von Uwe Johnson, wo es ja wirklich so ist, daß die Gesine Cresspahl etwas für ihre Tochter aufschreibt. Das kann bei mir auch deshalb nicht sein, weil ich schon geschrieben habe, bevor meine Tochter geboren wurde. Aber man fragt sich schon mal: Wem erzählst du die Welt? Das ist leichter zu beantworten als die Frage: Für wen schreiben Sie Ihre Bücher? Wenn ich mich frage, wem erzählst du die Welt, dann komme ich darauf: eigentlich dem Kind, das ich mal war. Und dann über diesen Umweg natürlich auch meiner Tochter.  

Gerade wenn ich über meine Kindheit erzählte, wurde ich oft gefragt: »Wollen Sie damit sagen, daß es damals besser war?« Oder daß es jetzt besser ist? Ich will weder das eine noch das andere. Man kann das nicht werten, weil das ja alles barbarische Zeitalter waren. Wenn man da überhaupt eine Entscheidung trifft, muß das natürlich jeder für sich selbst tun. Nur, ich glaube, um zu wissen, wer man ist, muß man sich erinnern und wissen, wie es damals gewesen ist.  

Ich würde manchmal gerne näher dran sein. Ich bin vor drei Monaten nach Calw gekommen. Und ich würde sehr gerne, wenn ich gar nichts zu tun hätte, meine ersten Tage hier aufschreiben, die Bilder meiner ersten Tage, nur werde ich nie dazu kommen. Wann soll ich jemals die Zeit haben? Man fängt natürlich mit dem Dringenderen an, aber ich würde auch gerne über spätere Zeiten mehr schreiben.
 

Schreiben  

In meiner Vorstellung war ich schon als Kind Schriftsteller, lange bevor ich das Wort überhaupt kannte, als das in meiner Vorstellung noch Dichter hieß. Ich wußte, ich bin Dichter, schon mit sechs oder sieben. Ich bin Dichter, nur außer mir weiß es keiner. Ich wußte, es gab vor mir schon Dichter, Goethe und Schiller, aber die sind schon alle tot, und ich bin der einzige lebende. Daß ich lange gebraucht habe, um dann wirklich Schriftsteller zu werden, hat nichts damit zu tun, daß ich nicht geschrieben hätte. Ich habe immer geschrieben. Ich denke, es braucht wirklich seine Zeit, es ist ja auch ein Entschluß fürs Leben dann.  

Als Kind habe ich kleine Bücher geschrieben, die sollten aussehen wie gedruckt, im Grunde wie ein fertiges Buchprodukt. Mit Seitenzahlen, Kapitelüberschriften und kleinen Zeichnungen. Die habe ich dann anderen Kindern zum Lesen gegeben. Am besten, man bleibt dabei und überzeugt sich davon, daß sie das wirklich vom Anfang bis zum Ende lesen. Diese Geschichten waren natürlich nicht sehr lang. Ein bißchen hat mich immer gequält, daß ich vielleicht bis Seite 14 kam, und dann war das, was ich mir als Buch gedacht hatte, zu Ende, während selbst die Jugendbücher damals wenigstens 60 Seiten hatten. Jetzt habe ich eher das Problem, daß die Bücher zu lang werden, daß ich aus einem Buch zwei Bücher machen muß.  

Ich habe immer ziemlich leicht und schnell geschrieben, und das dann auch schon mal irgendwohin geschickt und zurückbekommen mit 15, 16, vielleicht auch mal mit einem aufmerksamen Brief. Aber irgendwann mit 18 habe ich mir dann gesagt, jetzt schreibst du solange für dich selbst, ohne es überhaupt jemandem zu zeigen oder jemandem anzubieten, bis das, was du schreibst, genauso ist, wie du es haben willst. Und das hat dann noch mal etwa zehn Jahre gedauert. Ich hatte einen riesigen Schrank, einen Kleiderschrank, der noch von meiner Mutter war und von dem ich nicht alle Fächer brauchte, und da habe ich die Manuskripte hineingelegt. Das hat alles zu einem Text gehört, der kein Anfang und kein Ende hatte. Und dann hat es sich ergeben im Laufe der Arbeit, daß ich die Sachen noch mal herausgenommen habe. Beim Schreiben ist man ja immer hingerissen und begeistert, und am nächsten oder übernächsten Tag oder eine Woche später merkt man: Ja, das ist noch gut, aber noch lange nicht so gut, wie es dir beim Schreiben vorkam, oder noch lange nicht fertig. Und da kam ich dann darauf, daß man Texte auch überarbeiten kann, anstatt, wie ich als Kind dachte, daß man das einfach nur hinschreibt. Und so habe ich dann in dieser Zeit, zwischen 18 und 28, Texte nach ein paar Monaten oder auch Jahren wieder herausgeholt und beim Lesen korrigiert und umgeschrieben, so daß ein anderes Buch daraus wurde.
 

Schriftstellerberuf  

Ich habe also geschrieben, bis ich 28 war. Und dann bin ich eines Morgens aufgewacht und hätte eigentlich zur Arbeit gehen müssen, also in mein Büro, und wußte plötzlich, da darfst du niemals wieder hingehen. Das Personalbüro ist schon ganz interessant. Wenn man schon irgendwo in der Verwaltung einer Firma arbeitet, dann ist das Personalbüro interessanter als die Buchhaltung oder irgend etwas anderes, weil man da immer mit Menschen zu tun hat. Das war zudem in den sechziger Jahren, da mußte man praktisch niemanden rausschmeißen. Das war wirklich anders. Im Gegenteil, es ging eher darum, wie man diese offenen Stellen besetzte. Es sei denn, da gab es jemanden, der beharrlich wochenlang nicht zur Arbeit kam. Man mußte keine ganzen Abteilungen auflösen oder ähnliche Entscheidungen treffen. Und die hätte ich dann auch nicht treffen müssen. Jeder wußte zu dieser Zeit, wenn er Arbeit haben will, kann er Arbeit haben.  

Das war ein ungeheurer Schreck für mich, als ich merkte, ich kann da wirklich nicht mehr hingehen. Das war im August 1971, der 19. August, das ist der Geburtstag meiner Mutter, die damals gerade ein Jahr tot war. Es ist immer viel einfacher, man macht das weiter, was man sowieso schon macht. Und dann saß ich da, und mir war eigentlich schlecht vor Aufregung. Und ich fragte mich, warum darfst du da eigentlich nicht mehr hingehen? Daran hatte ich am Tag vorher im Traum nicht gedacht. Man lernt ja im Leben vor allem von den Leuten, die man um sich herum hat, bei denen man aufwächst. Und ich kannte immer nur Leute, in meiner Umgebung, in meinem Dorf, die gearbeitet haben, die sich alle totgearbeitet haben im Grunde genommen, alle einen 16-Stunden-Tag hatten. Das wußte jeder im Dorf, wenn man in der Eisenfabrik, wenn man am Hochofen oder in der Schamottsteinfabrik arbeitet, stirbt man zehn Jahre eher. Für die Leute war aber undenkbar, ihren zeitlich überholten Bauernhof aufzugeben, weil ihre Lebenserfahrung die war: In ganz schlimmen Notzeiten, und die hatten ja wirklich eine Notzeit nach der anderen erlebt, bringen sie ihre Familie mit dem eigenen Feld und mit dem eigenen Stall durch. Deswegen konnten sie bis in die sechziger Jahre hinein nicht die Entscheidung treffen, wir werden jetzt nur noch Fabrikarbeiter. Sie haben beides gemacht, sie haben in der Fabrik Nachtschicht gearbeitet, um das Tageslicht für die Feldarbeit übrig zu haben.  

Und so war es auch bei mir, ich wußte nicht, wie ich die tägliche Büroarbeit loswerde. Ich bin auch nicht darauf gekommen, daß man ja halbtags arbeiten kann, was damals aber auch nicht üblich war, für einen Mann schon gar nicht. Und dann bin ich also morgens aufgewacht und wußte, du darfst da nie mehr hingehen. Mit der Begründung: Du willst nur noch schreiben, aber dir bleibt ja immer nur die schlechteste Zeit des Tages übrig, nämlich der Feierabend, wenn du müde bist, und der Wecker schon für den nächsten Tag gestellt ist. Und die Wochenenden sind dann auch genau eingeteilt wie die Abschnitte von einer Wurst. Da hatte ich die Erkenntnis: Seit ich mit fünf in die Schule kam, hat mir die Zeit nicht mehr wirklich gehört. Die war immer eingeteilt. Mich quält das auch jetzt noch, daß eigentlich ständig Zeit vergeht. Ich bin vor drei Monaten hierhergekommen nach Calw, das sagte ich Ihnen ja vorhin schon, und jetzt sind die drei Monate schon herum, und ich muß sehen, wie ich nach Frankreich zurückkomme.
 

Audioroman  

Der Hörbuchverleger Klaus Sander hatte zunächst vorgeschlagen, ob wir nicht am Ort des Geschehens in Staufenberg aufnehmen sollten, aber ich habe da ja keine Wohnung. Und so haben wir das dann für mich unvorbereitet in Köln gemacht. Ich war vier oder fünf Tage in Köln am Literaturhaus zu Lesungen, und dann kam der Klaus Sander und sagte: Wollen wir es nicht jetzt machen? Und ich hatte damit gar nicht gerechnet. Ich dachte, wir treffen uns einfach mal in Köln, er und ich, aber dann haben wir das tagsüber aufgenommen in einer Wohnung von Freunden von ihm, die verreist waren. Wir haben dann drei Tage lang in Köln Aufnahmen gemacht, immer tagsüber ein paar Stunden, was insofern anstrengend war, als ich ja abends zu den Lesungen gehen mußte. Wir haben dann ein paar Wochen später in Frankfurt die letzten Aufnahmen gemacht. Dann haben wir uns zwei Monate darauf in Frankfurt getroffen, und da hatte Klaus Sander schon die Einteilung in die einzelnen Tracks festgelegt, und wir haben dann die Reihenfolge noch geringfügig geändert. Aber im großen und ganzen ist auch die Reihenfolge so geblieben, wie wir es aufgenommen haben, mit ein oder zwei Umstellungen vielleicht. Und dann haben wir noch die Untertitel gemacht für die einzelnen kleinen Kapitel, die sich aus den Texten aber von selbst ergaben. Auf dem Weg zum Treffen mit dem Verleger habe ich mir noch gedacht: Selbst wenn er sagt, es ist gut genug, wenn es mir nicht gut genug vorkommt, dann stimme ich einer Veröffentlichung nicht zu. Ich wußte, ich kann es, ich war mir nur nicht sicher, ob es mir in dem Moment gelungen war.  

Der Verleger und ich kamen überhaupt erst darauf, als ich ihm mal als Beleg dafür, wie man solche Geschichten erzählen müßte, eine andere Geschichte erzählt habe. Das war zwischen einem Uniseminar und einer Lesung, wo man zwischendrin ein paar Stunden Zeit hat und irgendwo in der Kneipe sitzt und überlegt, ob man was ißt oder nicht. Und der Verleger fragte dann: Was würden Sie denn erzählen? Und da habe ich ihm eine lange Geschichte erzählt und gemerkt, ich erzähle ihm eigentlich nicht nur, wie ich es erzählen würde, sondern erzähle es eigentlich schon, und da sagt Klaus Sander am Ende: Jetzt hätte man es aufnehmen müssen.  

 

Mündliches Erzählen  

Ich arbeite an der Fortsetzung meines letzten Buches Oktober und wer wir selbst sind, und ich kann jetzt natürlich ein Kapitel nehmen aus diesem unfertigen Manuskript und das völlig überarbeiten, weil ich zwei Jahre, nachdem ich es geschrieben habe, noch auf irgendein Detail gekommen bin. Das ist beim Erzählen nicht möglich. Das mündliche Erzählen ist schon eine Art Liveauftritt. Es ist am Ende geglückt oder doch zumindest so gut geworden, daß man dazu stehen kann oder eben nicht. Ich wollte so etwas eigentlich immer machen, aber ich war mir nicht sicher, ob es gut genug geworden ist, gerade bei den ersten Aufnahmen, weil ich da sehr müde war. Zudem war ich gerade dabei, eine Erkältung zu überstehen, und Erkältungen auf Lesereisen sind immer furchtbar. Man wird sie nicht leicht los. Und dann hatte ich mich auch noch an der Zunge verletzt. Das habe ich öfter vor längeren Lesereisen, daß ich mir heftig auf die Zunge beiße, und die ist dann so angeschwollen, daß es danach noch viermal passiert. Das hört sich nach nichts an, aber am Ende ist es so schlimm, daß man kaum noch lesen kann. Ich hatte eine Zeitlang auch das Problem, mich unmittelbar vor Lesungen zu verlaufen in
fremden Städten. Ich weiß in etwa, wo die Buchhandlung ist, da vorne, das dauert zwei Minuten, und dann passiert es mir, daß ich bis zum letzten Moment in irgendwelche unbekannten Seitenstraßen abbiege und am Ende da stehe und denke, jetzt ungefähr solltest du hinkommen, und plötzlich merke ich, ich finde den Weg nicht mehr, obwohl ich ihn vorher halbwegs zu wissen glaubte.
 

Lesungen  

Ich glaube, meine Bücher von Kein Frühling an wurden auch dadurch beeinflußt, daß ich dann Lesungen gemacht habe. Ich hatte zwei Bücher veröffentlicht, und dann nach der Trennung von meiner Lebensgefährtin, als ich keine Wohnung und kein Einkommen hatte, da habe ich angefangen, ein paar Lesungen zu machen, in diesem Jahr 1984. Sobald ich Lesungen gemacht habe, wurde ich auch viel empfindlicher und hellhöriger für die eigenen Texte. Ich habe damals vor allem aus dem Manuskript von Kein Frühling gelesen, also Sachen, die ich erst ein paar Wochen vorher geschrieben hatte, und wenn man das dann laut liest, insbesondere vor Publikum liest, da merkt man jeden falschen Ton. Man merkt sofort, dieses Bild ist nicht deutlich genug, da ist ein Satz, der nicht richtig an den vorherigen anschließt. Ich war damals auf die Lesungen wirklich angewiesen. Ich bin öfter mit meiner Tochter zu einer Lesung gefahren, irgendwohin in die Provinz um Frankfurt herum, wo man dann zuvor ausgemacht hat, man übernachtet beim Buchhändler, weil der auch nicht so viel Geld hat, oder man liest in der Kneipe, und irgendeiner nimmt einen dann als Gast mit nach Hause, weil wir kein Auto hatten und nachts nicht mehr zurückgekommen wären. Mir ist es manchmal passiert, daß wir nicht einmal das Geld für die Rückfahrt hatten. Wo ich dann dachte, hoffentlich gibt er mir keinen Scheck, sondern bares Geld. Und da ist es mir oft passiert, ich lese ein Stück, mache eine Pause, fange an, mit den Leuten zu reden, und am Ende lese ich eine halbe Stunde und erzähle zwei Stunden. Das mache ich jetzt noch häufig, je nachdem, wo man liest natürlich. Das hängt auch ein bißchen vom Ort ab. Aber ich finde es eigentlich schön und ein bißchen beruhigend, daß ich weiß, ich könnte notfalls auch ohne Buch zu einer Lesung gehen und käme zurecht.  

Zumal bei meinen Büchern, wo man eine Handlung ja nicht wie bei einem Krimi von links nach rechts erzählt. Ich weiß wirklich nicht, was herauskommt, wenn ich mich an den Tisch setze, nicht nur beim mündlichen Erzählen nicht, sondern beim Schreiben auch nicht. Das Buch, an dem ich jetzt arbeite, ist aus einem Nebensatz meines vorigen Buches entstanden, das sind jetzt über 500 Druckseiten schon.
 

Gegenwartsliteratur  

Das fängt schon mit der Gruppe 47 an: Das sind öde Bücher, die die geschrieben haben, weitgehend. Die Autoren, die mich aus der Nachkriegszeit interessieren, die waren entweder nicht in der Gruppe 47, wie der Arno Schmidt und noch ein paar andere, oder sie haben mit der Gruppe 47 schlechte Erfahrungen gemacht wie der Hildesheimer. Und auch der Uwe Johnson war da gezwungenermaßen, weil er glaubte, er ist es seinem Werk und seinem
Verleger schuldig. Ich finde es niederschmetternd, wenn ich in die Buchhandlung gehe und die meisten Bücher, die ich da vorfinde, auch vielgepriesene Neuerscheinungen, sind eine Art Klappentextliteratur, bei der die Sprache keine Rolle spielt. Bücher, die sich wunderbar auf einem Klappentext darstellen lassen. Man hat manchmal den Eindruck, sie haben zunächst den Klappentext, und dann schreiben sie erst das Buch. Daß die Sprache bei ganz wenigen Autoren eine Rolle spielt, finde ich niederschmetternd. Dabei weiß man doch eigentlich, daß man nicht hinter das zurückgehen kann, was man einmal erreicht hat.  

Blues  

Natürlich beeindruckt einen das, was man mit 15, 16 gesehen hat, mehr als alles andere später. Vor allem war das ziemlich neu damals. Die Unterhaltungsmusik, die man in deutschen Sendern gespielt hat, war meilenweit von dem Blues entfernt. Die deutschen Schlager waren bestenfalls Übersetzungen von amerikanischen Schlagern. Beim Blues war es so, daß man den in Deutschland eigentlich erst noch entdecken mußte. Man konnte in den Fünfzigern nicht mal Bluesplatten kaufen, jedenfalls nicht in den mir bekannten und zugänglichen Läden. Wenn wir fünf Mark hatten, sind wir getrampt nach Frankfurt oder sonstwohin, entweder in Kneipen oder in diese Army Clubs, wo man ein bißchen Mühe hatte, überhaupt reinzukommen, das heißt irgendein Amerikaner, obwohl man ihn gar nicht kannte, mußte einen da mit reinnehmen. Und dann war es überwältigend, erst mal nur die Platten zu hören, und dann zu merken, das ist ihre eigene Geschichte, die sie da singen. Und dann später, diese Leute dann auch direkt zu erleben. Wie mitreißend die waren, wenn sie ihre eigenen Lieder spielen. Die haben alle getrunken und ununterbrochen geraucht, und die saßen da und hatten ein paar Leute um sich herum, eher Neger als weiße Amerikaner eigentlich. Einige waren damals auch schon recht bekannt, ich habe Memphis Slim auf diese Art gehört, in Gießen oder in Marburg, und die waren für die Army schon ein halbes Jahr in Asien oder Europa unterwegs und saßen da und hatten zum Teil ihr Gepäck mit, waren meistens auffallend gekleidet, und ich hatte immer den Eindruck, auch wenn man sie reden hörte, sie wissen nicht mal genau, ob sie eine Rückfahrkarte haben. Sie wissen auch nicht genau, wie lange sie schon von Amerika weg sind, könnten auch nicht auf der Weltkarte zeigen, wo sie sich befinden, sie sitzen da und trinken, haben einen Teil ihres Gepäcks schon auf der Tournee verloren, um den letzten Koffer, den sie noch haben, drei Riemen drum, damit der nicht auch noch aufplatzt, und so einen Postsack von der US Army, wo sie ihr übriges Zeug reinstopfen, bringen es aber trotzdem fertig auszusehen wie ein Aristokrat aus dem Süden. Und sehen auch etwas verloren aus. Man merkt ja, wenn einer beim Trinken dem Suff ausgeliefert ist. Und zugleich, wenn sie zu spielen anfingen, war plötzlich Jetzt, die Gegenwart. Das war für mich ein überwältigender Eindruck. So ähnlich, wie ich es mir immer wünsche, wenn ich schreibe: daß dann die Zeit stehenbleibt. Überhaupt wenn irgendein Mensch erzählt, ist einfach Jetzt. Das ist eine andere Zeitrechnung, als wenn sonstwas geschieht. ?
 

Peter Kurzeck: Ein Sommer, der bleibt. Peter Kurzeck erzählt das Dorf seiner Kindheit. 4 Audio-CDs, 290 Minuten. Supposé, Berlin 2007

Peter Kurzeck liest aus Kein Frühling. 4 Audio-CD-Box, Stroemfeld, Frankfurt a. M. 2008

Peter Kurzeck: Kein Frühling.Erweiterte Neuausgabe. Stroemfeld, Frankfurt a. M. 2007, 590 Seiten, 32 Euro
 

 

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