21.08.2018 10:57
Der israelische Schriftsteller und Journalist Uri Avnery ist gestorben. In den jetzt veröffentlichten Nachrufen wird Avnery als Menschenrechtler und radikaler Friedensaktivist gewürdigt. Dass er die Lynchmorde palästinensischer Terroristen guthieß und Antizionisten jeder Couleur erzählte, was sie hören wollten, kommt allenfalls am Rande vor. In konkret 11/05 porträtierte Tjark Kunstreich Uri Avnery für die konkret-Serie „Schießen Sie auf den Zionisten“.
"Ich habe in den letzten 71 Jahren meines Lebens keinen einzigen Tag des Friedens erlebt. Ich hoffe und glaube, daß ich den Frieden noch erlebe", sagte Uri Avnery am 10. Juni 2005 in Salzburg. Ein Leben im Kriegszustand also, das begann, als er 1933 im Alter von zehn Jahren mit seinen Eltern aus Beckum nach Palästina emigrierte. Es paßt zu dem bekannten Antizionisten, daß er eine solche Zeitspanne ohne jede Differenzierung zusammenzufaßt. Dabei zeigt seine Biographie durchaus unterschiedliche Etappen - so kämpfte Avnery von 1938 bis 1948 in verschiedenen bewaffneten Formationen für einen jüdischen Staat. Es ist ja gerade diese Vita, die ihn als Kronzeugen gegen Israel besonders glaubwürdig erscheinen läßt. Er war Teil des "zionistischen Establishments", gegen das er seit Jahrzehnten angeht.
Seit Ende der vierziger Jahre kämpft Avnery auf anderem Terrain als Publizist und Journalist; er kämpft nicht mehr für Israel, sondern gegen den Zionismus. 1968 veröffentlichte er die Kampfschrift Israel ohne Zionisten, die internationale Beachtung fand – ein Plädoyer für eine föderale Lösung. Heute vertritt er die Zwei-Staaten-Lösung; auch das ist eine Veränderung in Avnerys Position, die er selbst offenbar nicht gerne wahrhat. Er, der immer einseitige Vorleistungen von den jeweiligen israelischen Regierung forderte, beschwerte sich anläßlich des Abzugs aus dem Gaza-Streifen über die Einseitigkeit dieses Schrittes, die keinen Frieden bringen werde. (Eine Annahme, die sich aus ganz anderen Gründen als wahr erweisen könnte.)
Dabei ist ihm jeder noch so schiefe Vergleich, den er "Metapher" nennt, willkommen. Wenn er sich zum Beispiel mit Osama bin Laden vergleicht, ist selbst der Kritiker geneigt, Avnery gegen sich selbst in Schutz zu nehmen: "Viele Jahre bevor Osama bin Laden den Slogan 'Die Kreuzfahrer und Zionisten' prägte, schrieb ich eine Artikelserie mit diesem Titel. Ich wies auf die vielen Ähnlichkeiten zwischen den Kreuzfahrern und dem zionistischen Unternehmen hin. Ich wollte nicht sagen, daß – Gott bewahre – unser Schicksal so sein würde, wie das der Kreuzfahrer, aber ich wollte vor einer Wiederholung ihrer Fehler warnen." Der habe darin bestanden, "daß die Kreuzfahrer die Gelegenheit versäumt hätten, sich mit der muslimischen Welt zu versöhnen und Frieden mit ihr zu machen, als sie auf dem Höhepunkt ihrer Macht waren".
Der Leser dieser Sätze wird von Avnery aber darüber im Unklaren gelassen, wann dieser Höhepunkt erreicht war und ob oder wann Israel den Zenith seiner Macht überschritten hatte. Anstelle von Gedanken präsentiert Avnery rhetorische Figuren, die alles bedeuten können, aber nur auf eines hindeuten: Wenn es den Juden bzw. ihrem Staat an den Kragen geht, sind sie selbst schuld. Dies ist das typische antizionistische Verfahren, wie an dieser Stelle schon an mehreren Beispielen verdeutlicht wurde. Avnery unterscheidet sich von Judith Butler und Etienne Balibar allerdings durch seinen Standpunkt, und das ist nach wie vor der eines israelischen Staatsbürgers, dessen Verantwortungsbereitschaft in der fortwährenden Beschwörung eines "Wir" zum Ausdruck kommt.
Der Begriff des Kriegszustandes, den Avnery für sein Leben in Anspruch nimmt, bestimmt sein Denken, sie läßt ihn im Interview mit KONKRET (6/02) die Ermordung palästinensischer sogenannter Kollaborateure rechtfertigen und auch sonst großes Verständnis für die sich ja ebenfalls im Krieg wähnenden Palästinenser entwickeln. Als einer der ersten Antizionisten nahm er 1974 illegal Kontakte zur PLO auf und wurde zum gern gesehenen Gast Arafats. Noch 1969 hatte er die deutsche Linke scharf kritisiert, nachdem Veranstaltungen mit dem israelischen Botschafter Ascher Ben-Nathan an deutschen Universitäten gestört worden waren: "Hier ist ein israelischer Botschafter niedergeschrieen worden. Von wem? Von einer Koalition von Matzpen-Leuten (nicht mehr existente linke israelische Gruppierung, T.K.) und arabischen Al-Fatah-Anhängern. Und mit den Al-Fatah-Leuten, die zweifellos den Staat Israel vernichten wollen, kooperiert die deutsche Linke."
Wenig später ist Arafats Al Fatah Avnerys liebster Friedenspartner, und der Vergleich zwischen den Nazis und Israel, den er im zitierten Interview mit dem linken "Extra-Dienst" noch verurteilte, geht ihm heute auch dann leicht von der Hand, wenn er Zionisten und Antisemiten darin vergleicht, daß beide alle Juden nach Israel schaffen wollten. Auf die meisten Antisemiten trifft dies jedoch nicht zu, sie wollen Israel samt seinen Bewohnern vernichten – so leicht gerät die Verurteilung der Zionisten zur Verniedlichung und Relativierung des Antisemitismus.
Manchmal macht Avnery den Eindruck eines gescheiterten Politikberaters. Ihm, der von sich sagt, der Krieg habe ihn humanisiert – was entweder auf ein fundamentales Mißverständnis der Dialektik oder auf finsteren Zynismus hinweist – , kann es kein israelischer Politiker recht machen. Wenn einer doch mal etwas Richtiges tut, dann ist es der falsche Zeitpunkt. Eigentlich sind alle so borniert, arrogant und dumm, daß es, nähme man Avnery ernst, Frieden erst geben kann, wenn er selbst die Zügel in der Hand hält.
Als Antizionist aus Enttäuschung bleibt er gleichwohl einigen zionistischen Grundsätzen treu, indem er sie einfach negiert: Daß die Juden auf ihre eigene Kraft vertrauen und sich nicht auf andere verlassen sollten, wird bei Avnery zur Mitverantwortung der Juden für den Antisemitismus. Von da ist es nicht mehr weit bis zu der Behauptung, die europäischen Juden hätten eine Mitschuld an ihrer Vernichtung gehabt, wie es der Gründerzionismus, der Avnery bis heute ideologisch prägt, auch sah. Diesen Zionismus hat er hinter sich gelassen, seine Voraussetzungen scheinen für ihn aber noch immer zu gelten.
Antizionisten jeder Couleur haben sich Avnery zunutze gemacht, und er dankt es ihnen, indem er ihnen anläßlich zahlreicher Preisverleihungen (Alternativer Friedensnobelpreis, Carl-von-Ossietzky-Preis, Kreisky-Preis, Aachener Friedenspreis, Lew-Kopelew-Preis usw. usf.) erzählt, was sie hören wollen. "Seine blauen Augen (!) strahlen Ruhe, Besonnenheit, Weisheit – und Heiterkeit aus", wird er etwa im "Neuen Deutschland" angekündigt, und Avnery spricht dann Sätze wie: "Mein Eindruck ist, daß die Deutschen sehr viel tun, sich bemühen zu verstehen. Und es gibt einen natürlichen Drang bei jedem Menschen und jedem Volk, zu verdrängen, was schmerzhaft oder unangenehm ist. Dieser Drang ist stark. Man muß ihn bekämpfen. Dies ist für das deutsche Volk wichtig ebenso wie für das israelische." Das ist alles, was Avnery zum Holocaust-Mahnmal und zur deutschen Vergangenheitsbewältigung einfällt. Daß "Völker" einem "natürlichen Drang" folgen, diese Annahme ist der Grund für seine Liebe zu den Deutschen und den Arabern, die er dafür bewundert, daß sie selbst sich als kollektiven Organismus verstehen.
Die weltweite Front gegen Israel jedoch braucht Figuren wie Avnery heute nicht mehr. Eine Zeitlang konnte er die Rolle des innerisraelischen Dissidenten einnehmen, als es propagandistisch noch darauf ankam, daß ja schließlich auch Israelis die israelische Politik kritisierten. Nun ist der Antizionismus, und mit ihm Avnery, wieder dort angekommen, wo Avnery ihn einst noch selbst als Vernichtungsdrohung kritisiert hatte. Und in dem Maße, wie die Vernichtung Israels zu einer realistischen Option zu werden droht, wird Avnery nicht mehr gebraucht. Wer redet schon vom Frieden, wenn es einen Krieg zu gewinnen gilt?
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