02.01.2019 10:14
Am 21. Dezember 2018 ist der langjährige konkret-Autor Wolfgang Pohrt gestorben. Aus diesem Anlass veröffentlicht die Redaktion ein Gespräch zwischen Hermann L. Gremliza und Pohrt über Marxsche Träumerein und kommunistische Realitäten. Der Beitrag erschien in konkret 11/14 als Folge 15 der Serie Gremlizas Gespräche.
Gremliza: Herr Pohrt, Ihre vorletzte Schrift hieß Kapitalismus forever. Darin vertraten Sie die steile These, dass Karl Marx, lebte er heute, ein Anhänger des real existierenden Kapitalismus wäre. Ihre jüngste Schrift Das allerletzte Gefecht geht um die Frage, was unsereiner in dieser Lage zu tun hat. Die Antwort: die Trümmer seiner Träume begraben. Auf gut hegelianisch: vernünftig ist, was ist. Habe ich das richtig verstanden?
Pohrt: Moment, Moment. Wo habe ich geschrieben, was Karl Marx heute täte? Das ist ein Gedanke, der mir ganz fernliegt. Kapitalismus forever richtet sich gegen das fade Geschwätz der Occupy-Anhänger und der Medien, die diese Occupy-Anhänger promotet und gefeiert haben. Das Büchlein war eine Polemik gegen den damaligen Common Sense.
Vielleicht habe ich Ihren Satz »Marx hat wirklich alles über das Kapital herausgekriegt, und deshalb wusste er, dass es unbezwingbar sein würde« überinterpretiert. Habe ich denn wenigstens damit recht, dass die zweite Schrift darum geht, dass unsereiner die Trümmer unserer Träume zu entsorgen hat?
Trümmer und Träume? Zu poetisch. Ich würde, auf unsere Vergangenheit zurückblickend, eher von Einfalt sprechen. Wir sind ziemlich dämlich gewesen. Mich amüsiert das, und ich will auch den Leser amüsieren. Ihn bekehren will ich nicht.
Warum verstehe ich Sie denn so falsch?
Weil Sie ein Bewegungsmensch sind. Sie denken in Kategorien von Bewegung, während ich Solist bin, Eigenbrötler, ich mache mein eigenes Zeug, und die Folgen interessieren mich nicht. Mich interessiert die Wahrheit. Das ist ein großer Unterschied zum Zeitungsredakteur. Der Zeitungsredakteur muss immer gucken: Wie kommt was an, wie wirkt es, ist es zu scharf, ist es zu matt und so weiter.
Ich will nicht bestreiten, dass ich früher zu oft auf die nächste Wahl oder den nächsten Parteitag geguckt und mir überlegt habe, wie man da intervenieren, politisch wirksam werden könnte. Das habe ich spätestens vor 25 Jahren eingestellt.
Aber es steckt doch noch bei Ihnen drin. Wir sprachen schon mal kurz über das Buch, und Sie sagten, das ist wie so eine überdrehte Schraube am Sattelrohr, und Sie sprechen da praktisch wie ein Restauranttester. Behauptungen über Gesellschaft sind aber nicht fade oder überwürzt, also zu scharf, sondern sie sind wahr oder falsch. Das sind die einzigen Kategorien, die zählen.
Was ich mit dem Bild vom Sattelklemmbolzen meinte, ist eine Lehre, die man als Rennfahrer, der seine Maschine selber aufbaut, zu oft macht: Nach fest kommt lose. Wenn man einen Sattelklemmbolzen zu fest anzieht, reißt er ab, und der Inbusschlüssel lässt sich spielerisch in jede Richtung drehen. So geht es mir bei Ihren Texten immer wieder: Gerade noch fühle ich mich in den Bann ihres Sarkasmus gezogen, da knackt es, und ich lese: »Gut, dass Hitler damals die SU angegriffen hat. Stellen wir uns einmal vor, er wäre nicht so größenwahnsinnig und dumm gewesen: Dann hätten er und Stalin ihr Bündnis wohl ausgebaut und vertieft.«
Stimmt das etwa nicht? Der Angriff auf die SU hat zur Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee geführt. Nur dieser Angriff. Davor hatte die SU mit Nazi-Deutschland einen Pakt geschlossen, und unter der Bedingung dieser real existierenden Perversion war der Krieg zwischen den Partnern im Pakt ein Segen.
Sie schreiben: »Rückblickend entpuppt sich die Oktoberrevolution als Grundsteinlegung für die Gazprom.« Ein anderes Zitat heißt: »Ob sie von Anfang an nichts anderes haben sein können oder ob sie erst am Ende sich als das erwiesen: Die Volksrepublik China und die Sowjetunion waren Versuche, einen großen Sprung nach vorne aus dem Mittelalter in die Neuzeit mit Versatzstücken aus dem Fundus kommunistischer Theorie zu organisieren und zu kostümieren, ihr Sozialismus bedeutete nicht die Aufhebung des Kapitalismus, sondern seine Vorbereitung. Er hat die ursprüngliche Akkumulation in Gang gesetzt, ein Proletariat geschaffen, die Gesellschaft an den Ort geführt, von dem die Westeuropäer und Nordamerikaner aufgebrochen sind.« Da steht das, was Sie sagen, schon drin. Das habe ich vor zehn Jahren geschrieben.
Es gibt einen großen Unterschied: Für Sie hat sich der Kommunismus als Aufbauhelfer für den Kapitalismus Verdienste erworben, ich betrachte ihn in diesem Zusammenhang als großen Betrug, als »Opium fürs Volk«, nicht besser als andere leere Versprechungen. Weil im Kampf für ihn Menschen gestorben sind, denen als Ersatz für den Verein freier Menschen die besseren Lebensbedingungen in einem entwickelten Kapitalismus anzubieten zynisch ist. Menschen, die man ins »letzte Gefecht« schickt, sollten wissen, wofür sie sterben müssen, damit sie entscheiden können, ob sie das auch wollen.
Die Erlösung der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung ist ein hohes Ziel und ein großes Versprechen. So groß, dass seiner Erfüllung Menschenleben geopfert werden dürfen. Und nun kommen Sie und sagen: Auch dann, wenn der Kommunismus sich als zweckdienliches Mittel zur Installation eines zeitgemäßen Kapitalismus entpuppt; ganz umsonst war der Kampf ja doch nicht. Schwacher Trost.
Meinetwegen auch eine trostlose Erkenntnis. Wenn Sie über den Kapitalismus reden, verteidigen Sie ihn geradezu hingebungsvoll.
Inwiefern?
Etwa dort, wo Sie das Kampflied »Die Internationale « auseinandernehmen und deren erste beiden Zeilen »Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt« mit dem Satz kommentieren: »Hier und heute doch nur noch in der Abmagerungsklinik «. Das ist ein Preislied ex negativo auf den Kapitalismus.
Das ist kein Preislied.
Es ist auf jeden Fall falsch, denn die Verdammten dieser Erde – vielleicht nicht die in Nordamerika und Westeuropa – hungern wie noch nie in der Menschheitsgeschichte, obwohl die Welt vom Kapitalismus ergriffen ist, vom Süd- bis zum Nordpol. Wahr?
Sind Sie sicher? Ich habe Zahlen im Kopf, denen zufolge die Bekämpfung des Hungers Fortschritte mache und heute weltweit weniger gehungert wird als früher. Aber es wird gehungert, vor allem dort, wo es keinen Kapitalismus gibt.
Ich dachte, der Kapitalismus ist überall, er bestimmt alle Bedingungen des Lebens auf der Erde.
Ja, und keinen funktionierenden Kapitalismus zu haben, bedeutet Hunger, Katastrophen, Seuchen und so weiter.
Auf dem Index der menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen steht die Demokratische Republik Kongo gemeinsam mit Niger auf dem letzten Platz von 187 aufgelisteten Staaten. Und selbst aus diesem bitterarmen Land holt der reiche Norden zur Zeit pro Jahr 355 Millionen US-Dollar heraus. Da sitzen drei große deutsche Konzerne, die machen dort beträchtliche Gewinne. Also Kapital ist im Land, der Kapitalismus ist sozusagen komplett da – samt seiner personellen Ausstattung, und es wird trotzdem gehungert und verreckt.
Der Kapitalismus ist nicht komplett da, das ist er in Kolonialgebieten nie. Dort gibt es Kapital, aber keinen kapitalistischen Staat, keinen Nationalstaat, keine nationale Bourgeoisie, keinen Patriotismus. Das Zeitalter der kapitalistischen Nationalstaaten ist das Zeitalter der Volkskriege, beginnend mit Napoleon.
Kapitalistischer Staat heißt bürgerliche Demokratie?
Kann sein, muss nicht. Auf jeden Fall ein egoistischer Staat, also ein Staat, der gegen andere Staaten konkurriert. Dieser Staat, von dem Sie reden, konkurriert nicht gegen die Bundesrepublik. Er konkurriert überhaupt gegen keinen Staat.
Da sind wir an der Stelle, wo der Leitartikel der »FAZ« sagt: Armut herrscht dort, wo es keine Demokratie gibt.
Umgekehrt.
Das ist mein Einwand gegen den Leitartikel. Bürgerliche Demokratie gibt es nur dort, wo genügend Geld ist, die Massen einigermaßen bei Laune zu halten.
Demokratie ist ursprünglich dort entstanden, wo es ein entwickeltes Bürgertum gab, und es war ja auch eine Regierungsform, die zunächst nur die Bürger beteiligt hat und nicht die Proleten. Das allgemeine Wahlrecht ist eine ziemlich späte Entwicklung. Die amerikanische Revolution hatte überhaupt nichts mit Demokratie im Sinne von allgemeinem Wahlrecht zu tun.
Es war eine klassische Sklavenhaltergesellschaft.
Eine selektive Demokratie eben, wie schon das antike Original.
Nochmal zur Oktoberrevolution als Grundsteinlegung für die Gazprom. Nostalgie ist gewiss die dümmste Haltung, die man gegenüber den ehemaligen sozialistischen Staaten einnehmen kann. Dennoch bleibt, dass es in diesen nichtkommunistischen Gesellschaften verschiedene Kollateralnutzen gab, soziale Modelle, über die jetzt nicht mehr nachgedacht werden darf. Was die materielle Gleichheit der Frauen in der DDR für ihre Emanzipation bedeutet hat oder die Befreiung von dem Terror, sich um das tägliche Auskommen sorgen zu müssen – wenn man für eine Zweiraumwohnung 37 Mark 50 zahlt, lebt man einfach in einer anderen Welt. Das darf doch im Kopf behalten werden, oder?
Ich glaube nicht, dass es mir gefallen würde, für eine 37,50-Wohnung gestorben zu sein. Sie vergessen immer, dass diese kleinen Annehmlichkeiten große Opfer gekostet haben und man sie daran messen muss.
Davon abgesehen: Die Menschen haben anders entschieden. Das Werbefernsehen und die entfernte Möglichkeit, die angebotenen Produkte auch tatsächlich zu kaufen – das hat ihnen wohl besser gefallen, darum sind doch viele abgehauen aus der DDR. Warum ist dieser Ostblock, wenn er denn so gut war und so viele gute Seiten hatte, warum ist er denn mir nichts, dir nichts zusammengebrochen und ohne, dass er von außen geschubst worden ist?
Mir nichts, dir nichts – das kann man nun wirklich nicht sagen.
Ich hatte mir doch etwas mehr Widerstand seitens der Arbeiterklasse erwartet und war sicher, da kippt irgendwas. Wenn die Leute so fromm sind und so dämlich, so willfährig wie die Menschen das in der Sowjetunion und in der DDR und in anderen Ländern gewesen sind, dann ist dieser Kommunismus nicht lebensfähig.
Das war er ja auch nicht. Trotzdem wurde alles getan, um es den Kommunisten so schwer wie möglich zu machen. Aber man kann sich wohl nicht darüber beschweren, dass der Feind sich wie ein Feind benimmt.
Darum fällt doch dieses Argument überhaupt nicht ins Gewicht.
Ein bisschen schon, wenn man daran denkt, dass gut 20 Jahre nach der Oktoberrevolution zwischen der russischen Westgrenze und Moskau kein Stein auf dem anderen blieb und eine ganze Generation von Sowjetbürgern ausgerottet wurde. Ich will das nicht unter den Tisch fallen lassen.
Das muss man nicht unter den Tisch fallen lassen, aber das sind die Bedingungen, unter denen sich der Kommunismus bewähren und durchsetzen muss. Und wenn er das nicht schafft, dann gibt es ihn eben nicht. Das habe ich doch in Das Allerletzte Gefecht geschrieben, genau dies, dass immer eingewandt wird: die schlimme Lage, und dann noch der Angriff durch die Wehrmacht. Ja nun, das ist die wirkliche Welt. Und in dieser wirklichen Welt muss sich der Kommunismus behaupten und durchsetzen und die Leute begeistern. Und das hat er ja damals, als Krieg war, auch noch geschafft, nur nachher hat er das nicht mehr geschafft. Nachher hat dieser Kommunismus keinen Freund mehr gehabt, weder im Funktionärsapparat, der die Selbstbedienung trainiert und später die Welt mit dieser Fähigkeit überrascht hat, noch bei den Massen, die nicht wussten, was sie da verteidigen sollen.
Schon Stalin hat sich nicht anders zu helfen gewusst, als den Krieg nicht etwa zur Verteidigung der Revolution zu führen, sondern als Großen Vaterländischen Krieg. Er hat voll auf den Nationalismus der Russen gesetzt. Aber anders wäre es nicht gegangen.
Eben, das heißt doch, dass dieser Kommunismus eine Tünche geblieben ist, die jederzeit abwaschbar ist. Wie wenn man in eine Farbpfütze fällt – man braucht nur mal warm duschen, und dann ist das wieder weg.
Veränderungen von Bewusstsein und erst recht von Haltungen vollziehen sich nicht im Schweinsgalopp.
Das geht manchmal ganz, ganz schnell.
Dass Meinungen umschwingen vielleicht, aber Haltungen? 40 Jahre Tito haben bei den jugoslawischen Stämmen weniger Spuren hinterlassen als die Herrschaft von Franz Joseph.
Auch dass Haltungen umschwingen, zum Beispiel die zur Sexualität in der Protestbewegung. Das hat ganz flott alle Gesellschaftsschichten erfasst, auch die ganz alten, die begeistert am Nacktbadestrand sich getummelt haben, je öller desto döller.
Mehr als zwei Prozent der Gesellschaft?
In den Urlaubsländern, wo ich das studieren konnte, waren die Nacktbadestrände gerappelt voll. Und warum ist von diesem Kommunismus nichts klebengeblieben, der hatte doch auch verdammt lange Zeit? Eine ganze Generation war aufgewachsen mit diesem Kommunismus, warum ist bei denen nichts klebengeblieben?
Wieviele Kommunisten gab es in der Sowjetunion zur Zeit der Oktoberrevolution? Das war eine ganz kleine Funktionärsschicht der Kommunistischen Partei, der Bolschewiki. Die haben die Macht ergriffen, die haben die Regierung gestellt, die haben Landwirtschaft und Industrie umorganisiert. Wenn man annimmt, dass nach 20 Jahren vielleicht zehn oder 15 Prozent dieser Gesellschaft aus so etwas Ähnlichem wie Kommunisten bestand, greift man ziemlich hoch.
Sie wollen den Bock zum Gärtner machen. Die real existierenden Kommunisten waren es doch, die diesen schädlichen Völkerschwachsinn propagiert und praktiziert haben. Fast wie die Nazis, nur dass die Nazis viele Völker versklaven oder umbringen wollten, und die Kommunisten wollten sie alle erhalten und befreien. Aber Subjekt war bei beiden »das Volk«. Als Resultat dieser Doktrin wurde der Ostblock ein einziges Völkerkundemuseum, ein Völkerzoo. Echte deutsche Nazis gab es nur noch in der DDR, echte russische Slawophile nur noch in Russland, echte klerikalfaschistische Kroaten nur noch in Jugoslawien.
Und als der Ostblock dann zusammengebrochen ist, sind alle diese Zootiere ausgebrochen. Sie sind in die freie Wildbahn entwichen. Die Konsequenz war ein bisschen Faschismus, wie wir ihn in Hoyerswerda und Rostock hatten oder wie ihn Ungarn jetzt mit Orbán hat. Und ganz aktuell die Ukraine mit ihrem »Rechten Sektor«, nach zig Jahren Kommunismus, was wirklich lustig ist. Aber mit der Volkstümelei und den Volkstänzen wurde eben auch der Rest konserviert.
Nebenbei: Wer oder was ist überhaupt ein Kommunist?
Ich.
Sie sind keiner, Sie sind ein Bourgeois, Sie leben ein bourgeoises Leben. Sie sind vielleicht von der Gesinnung her Kommunist, aber Sie sind es nicht real.
Darüber hat schon Tucholsky gespottet: Es gibt keine Lage, in der man Kommunist sein kann. Hat man nichts, sagen die Leute: Typisch, ein Neidhammel. Hat man was, sagen sie: Der hat’s nötig.
Ja, Gott, aber es stimmt doch. Ich würde mich hüten zu sagen »Ich bin ein Kommunist«, ich weiß doch gar nicht, was ich bin. Woher nehmen Sie die Sicherheit, von sich zu behaupten, Sie seien Kommunist?
Ich benutze das Wort, um eine größtmögliche Distanz zu den herrschenden Verhältnissen zu markieren. Sonst hat es zur Zeit keine Funktion, es gibt nirgendwo – das sehe ich nicht anders als Sie – Ansätze von revolutionären Bewegungen. Der bürgerliche Herrschaftsapparat hat alle so in seinem Bann, dass, wenn was passieren würde, es Mehrheiten für jedes völkische oder rassistische Spektakel gäbe, aber nicht für irgendwas Kommunistisches, Sozialistisches oder wie auch immer wir das nennen wollen.
Jetzt haben Sie aber den Nationalsozialismus ganz vergessen!
Die Nazis waren keine Sozialisten. Aber ich will nicht das Lesevergnügen unterschlagen, das man hat, wenn man so schöne Sätze liest wie: »Es gibt eben Dinge, die man nur im Affekt machen sollte, zum Beispiel Revolutionen und Kinder. Wenn in solchen Fällen das Machen geplant, begründet, bedacht und begrübelt wird, wird nichts draus oder zumindest nichts Gutes.« Das ist auch meine Erfahrung, vor allem, was die Kinder angeht.
Glückwunsch, und danke für die Blumen.
An einer Stelle schreiben Sie, und das müssen Sie mir erklären: »Der Mensch ist nun mal zum Sklaven oder zum Sklavenhalter geboren. Das ist seine Naturbestimmung.« Als was bin ich geboren, als was sind Sie geboren?
Wie gesagt: als Sklave oder Sklavenhalter, manchmal in Personalunion. Das war immer so, das war noch nie anders, und als Wissenschaftler habe ich keine andere Wahl, als von einer erwiesenen und somit feststehenden Tatsache zu sprechen. Nun könnte ein Revolutionär natürlich sagen: Was kratzt mich die Wissenschaft. Es mag ja immer so gewesen sein, aber jetzt machen wir es anders, weil ich das so will.
Marx aber ist kein Revolutionär, er ist Wissenschaftler. Er knobelt eine großartige, eine wahrhaft berauschende Ideenkonstruktion aus, die beweisen soll, warum es früher immer so war, und warum jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, an dem alles anders werden muss, die Geschichte will es so. Mit anderen Worten: Die Geschichte ist von Natur aus gut, sie grenzt an Vorsehung.
Geschichte, so Marx, ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Dadurch wird sie sinnvoll. Der Klassenkampf nämlich ist eine Art Auslesewettbewerb, weil ihn am Ende immer die fortschrittlichere Klasse gewinnt. So wird die Menschheit im Verlauf der Jahrtausende immer besser, das merkt man ja auch an der Bildung und der vielen Kultur. Eigentlich ist die Geschichte etwas Wunderbares, denn auf ihrem Höhepunkt bringt sie als Krönung der ganzen Schöpfungsgeschichte das Proletariat hervor, und danach kommt der Verein freier Menschen. Es kam aber Auschwitz.
Marxens Geschichtsphilosophie ist eigentlich eine Hollywood-Schnulze. Diese Hollywood-Schnulze braucht er, weil er nicht einfach sagen kann: Ich will. Weil er halt kein Revolutionär ist. Was ich an der von Ihnen zitierten Stelle zeige, ist, dass die Verwissenschaftlichung der Revolution ein großer Schwachsinn ist.
Der Revolutionär kann sagen: Die Kausalität bin ich, der Grund, dass etwas geschehen soll, ist der, dass ich es will. Ich bin die Ursache. Wir haben diese endlose Ausbeutung und Unterdrückung satt. Jetzt wird abgerechnet. Friede den Hütten, Krieg den Palästen! Der Kommunist zeigt statt dessen auf ein paar Regalmeter Bücher, die er selbst nicht verstanden hat.
Der Satz von dem zum Sklaven oder Sklavenhalter geborenen Menschen ist also eine Konstruktion, die Sie selber gar nicht teilen?
Natürlich. Meiner Ansicht nach zeigt Marx, dass man wissenschaftlich keine Revolution ableiten kann und sich in Teufels Küche bringt, wenn man das probiert.
Bei Marx ist das ja so: Die Entwicklung der Produktivkräfte hat schließlich das Proletariat hervorgebracht. Dieses Proletariat, das die Menschheit retten wird, und der Prozess seiner Hervorbringung waren faktisch eine endlose Leidensgeschichte. Die wird von Marx veredelt. »Die Menschen waren schon Sklaven, bevor sie versklavt wurden.« Hier paraphrasiere ich Marx und seine Argumentation, im Rohentwurf und anderswo: Wie er einen Sinn in die ganze Geschichte bringt, indem er sie als Geschichte von Klassenkämpfen begreift und nicht als die ewige Klopperei, die sie ja faktisch war, sondern zielgerichtete, auf ein Telos ausgerichtete Entwicklung.
Die Geschichte als Geschichte einer ewigen Klopperei? Sind Alexander, Cäsar, Napoleon aufgebrochen, um Leute zu verkloppen? Oder um die Welt zu verändern, was sie ja faktisch getan haben.
Hitler auch, ein Motiv hatte jeder oder bildete es sich ein. Die Frage ist, ob man diesen Motiven einen höheren Sinn unterstellt, wie Marx es macht. Er betrachtet die Täter als Werkzeuge der Weltgeschichte, die insgesamt Gutes schafft, nämlich den Fortschritt.
Bei Marx läuft’s raus auf ewige Klassenkämpfe, die schließlich das Proletariat hervorgebracht haben. Am Ende ist diese ganze Klopperei von Erfolg gekrönt. Das ist Marx. Ich erzähle die ganze Geschichte zweimal, einmal seriös und einmal als Drehbuch für einen Monumentalfilm. Leider sind die Zeiten für solche Filme vorbei.
Die brauchen zu wenig technische Effekte. Und Verfolgungsjagden.
Der Plot, den ich dafür aufgeschrieben habe und der den ganzen Marx paraphrasiert, geht – ein bisschen gekürzt – so:
Die Menschen haben über viele Generationen hinweg durch harte Arbeit den Urwald in Ackerland verwandelt und aus wilden Auerochsen friedliche Milchkühe gemacht. Sie haben Sümpfe entwässert, Straßen und Dämme gebaut, Kohle und Eisen aus der Erde geholt. Das alles hat viel Blut, Schweiß und Tränen gekostet, aber am Ende werden sie mit der Befreiung der Menschheit belohnt. Im Himmel schauen die Englein zu, die auf Erden Sklaven gewesen waren, die ausgepeitscht und erschlagen wurden, oder Grubenarbeiter, die nie das Tageslicht erblickten. Sie freuen sich: Wir haben nicht umsonst gelebt, unser Leid hat sich gelohnt. Dann singen alle den Schlusschor aus Beethovens Neunter.
Natürlich ist das alles Quatsch. Selbst wenn es zu dieser sozialistischen Revolution gekommen wäre, würden die Schweinereien der Ausbeutung, die dahin geführt haben, niemals gutgemacht.
Aber die kann man ja nicht Marx in die Schuhe schieben.
Wer tut das denn? Was ich Marx in die Schuhe schiebe, ist, dass er diese ganze Schweinerei veredelt und rechtfertigt, indem er sagt, die war notwendig, um das Proletariat ...
... aus dem Elend zur erlösen.
Nicht aus dem Elend, denn so elend ging es denen ja gar nicht, als sie im Urwald lebten und da ein paar Fische fingen, als Indianer oder so was, wie die Leute das heute tun. Es ging den Menschen in dieser Vorgeschichte nie so schlecht, wie es ihnen später in den Anfängen der Industrialisierung ergangen ist.
Und wie es ihnen heute ergeht, wenn man die paar Prozent, die in Westeuropa und Nordamerika leben, nicht für »die Menschheit« hält. Dieses Elend schreit nach Änderung.
Sicher, aber die Veränderung braucht nicht die Rechtfertigung des vorangegangenen Elends.
Sondern man kann einfach sagen: Damit soll jetzt Schluss sein.
Die Kausalität bin ich.
Man hat halt schon ganz gerne den Weltgeist auf seiner Seite.
Das eben ist der große Irrtum von Marx: Den hat man nicht auf seiner Seite.
Was bedeutet das für die Zukunft?
Keine Ahnung. Ich weiß es nicht.
Da geht’s uns wieder gleich.
Das weiß einfach niemand. Vielleicht geschieht das Wunder, dass diese Revolution doch noch kommt.
In beiden Büchern halten Sie sich ganz am Schluss dieses Mauseloch offen. Wo man ganz überrascht denkt: Vielleicht gehn wir doch einmal zusammen los, mit einer Kalaschnikow im Arm.
Wir beide nicht mehr. Das schaffen wir nicht.
Wir können uns ja auf der Sanitäterliege mittragen lassen.
Kann man den deutschen Revolutionär besser treffen? Einer, den man zum Jagen tragen muss.
Wolfgang Pohrt: Kapitalismus forever. Über Krise, Krieg, Revolution, Evolution, Christentum und Islam. Tiamat, Berlin 2012, 112 Seiten, 13 Euro
Am 31. Oktober 2014 schrieb Pohrt an Gremliza:
Lieber Herr Gremliza,
ein Kompliment muss ich Ihnen machen: Sie haben den Text genau so gebracht, wie ich ihn erinnere, obgleich diese Version einige Spitzen gegen Sie enthielt. Solche Souveränität musste ich gleich meinem Verleger als leuchtendes Vorbild unter die Nase reiben, weil er in einem vergleichbaren Fall äußerst angefasst reagierte. Jedenfalls habe ich gesagt, was ich sagen wollte, ob das Mist oder vernünftig ist, ist eine andere Frage.
Ihr Wolfgang Pohrt
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