Pünktlich zum Wintereinbruch Anfang Dezember bekamen die Aktivisten des Flüchtlingscamps am Brandenburger Tor einmal mehr Besuch von der Polizei. Seit Ende Oktober protestieren sie dort gegen die deutsche Asylpolitik, und von Beginn an hatten Bezirksamt und Polizei mit Verboten von Zelten, Wärmflaschen und sogar Sitzgelegenheiten alles getan, um ein Ausharren so unangenehm wie möglich zu machen. Bis ein Gerichtsurteil die Auflagen des Bezirksamts Berlin- Mitte für rechtswidrig erklärte. Nun, bei Temperaturen um den Gefrierpunkt und ersten Schneeflocken, rückten die Beamten gemeinsam mit einem Abschleppdienst an, denn der Kältebus, den die Protestierenden zum Aufwärmen und Ausruhen nutzten, stellte plötzlich, so hieß es, eine »Gefahr für die öffentliche Ordnung« dar. Der Bus wurde einige hundert Meter weit weggeschleppt und dabei, welch Mißgeschick aber auch, für eine weitere Nutzung unbrauchbar gemacht.
Vorfälle wie diese geben die Begleitmusik für die Ergebnisse der aktuellen Studie Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012 der SPD-nahen Friedrich- Ebert-Stiftung (FES). Seit 2002 untersuchen die »Mitte«-Studien alle zwei Jahre die Verbreitung rechten Gedankenguts in der Bevölkerung und belegen dabei regelmäßig, daß dieses kein Randproblem ist, sondern in Form von rassistischen, antisemitischen und autoritären Einstellungen in allen Teilen der Gesellschaft verbreitet.
Entsprechend problematisch sehen die Autoren den »Extremismus«-Begriff, der die Demokratiedefizite der als »normal« definierten Mitte ausblende: »Der manifeste und organisierte Rechtsextremismus ist eingebunden in ein breites Umfeld von latentem Rechtsextremismus.« Auch die grassierende Gleichsetzung von Rechts- und Links»extremismus« wird gebührend kritisiert. Um den Begriff dennoch sinnvoll verwenden zu können, legen die Autoren ihrer Arbeit den Gegensatz »rechtsextrem/ antidemokratisch« vs. »demokratisch« zugrunde und orientieren sich an Adornos Begriff des autoritären Charakters sowie dem Rechtsextremismusbegriff des durch seine Studien zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit bekannten Professors Wilhelm Heitmeyer.
Insgesamt bearbeiten die Verfasser ihre Materie mit einer fundierten und ausgefeilten Methodik. Das ist leider keine Selbstverständlichkeit, muß hier also extra gelobt werden; nach drei Jahren Schwarzgelb sind staatsnahe Veröffentlichungen zur Thematik nämlich meistens das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind (siehe KONKRET 12/10), weil sie zu nichts anderem dienen, als die staatlich verordnete Extremismusdoktrin zu zementieren, koste es auch Logik, Wissenschaftlichkeit und Verstand.
Nun kann man noch so groß auf den Titel, ins Vorwort und in Pressemitteilungen schreiben, daß das Problem in der Mitte der Gesellschaft liege, die Medien picken sich doch heraus, was ins gängige Weltbild paßt. Aus Funk und Fernsehen war daher in erster Linie zu erfahren, daß der Anteil derer, die ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild vertreten, seit der Vorgängerstudie von 2010 von 8,2 auf 9 Prozent und damit auf den höchsten bisher gemessenen Wert gestiegen ist (West: 7,3; Ost: 15,8); alarmierend ist insbesondere der rasante Anstieg um über fünf Prozent in Ostdeutschland.
Wirklich dramatisch wird es allerdings, wenn man auch diejenigen mitzählt, die den präsentierten Aussagen zwar nicht »voll und ganz«, aber doch immerhin »überwiegend« oder »teils/teils« zustimmen. Knapp 45 Prozent der Befragten lehnen das Statement »Auch heute noch ist der Einfluß der Juden zu groß« nicht rundweg ab, der Satz »Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen « findet die mindestens teilweise Zustimmung von rund 65 Prozent, und ein »starkes Nationalgefühl« erfreut sich gar bei 70 Prozent einiger Beliebtheit.
Interesse verdient auch die Aufschlüsselung der Ergebnisse nach Parteipräferenz. Rechte Einstellungen sind unter den Wählern aller sich als demokratisch verstehenden Parteien verbreitet; es fällt zum einen ins Auge, daß dabei die SPD-Anhänger in vielen Punkten an der Spitze liegen, so etwa in der Kategorie »Ausländerfeindlichkeit« (West: 24,1 / Ost: 48,3 Prozent). In Sachen Antisemitismus werden die braven Sozialdemokraten im Osten zwar noch von den Grünen übertroffen, liegen aber mit 13,6 Prozent noch um einen Punkt vor den Sympathisanten der Linkspartei. Zum anderen fällt auf, daß die Autoren sich offenbar sehr bemühen, diesen Befund nicht extra hervorzuheben – die Studie wird nun einmal aus Töpfen jener Partei bezahlt, der Thilo Sarrazin, sein Epigone, der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky, und übrigens auch dessen Kollege Christian Hanke vom Bezirk Mitte angehören, der für die Schikanen gegen das Flüchtlingscamp am Brandenburger Tor verantwortlich ist.
Überraschen können die Befunde der »Mitte«-Studie nicht. Nicht in einem Land, dessen Geschichtsbild aus Versatzstücken von Guido-Knopp-Dokus und einfühlsamen Filmen über die letzten Tage des Führers oder die Gewissensqualen von Nazigenerälen zusammengesetzt ist und in dem ein Anti-Nazi-Demonstrant zu einer Haftstrafe wegen »versuchten Totschlags« verurteilt wird, weil er versucht haben soll, Polizisten mit einer Fahnenstange von zwei Zentimetern Durchmesser anzugreifen. Der Staat schafft einen Inlandsgeheimdienst, dessen V-Mann- Honorare in den Aufbau Freier Kameradschaften flossen, nicht etwa ersatzlos ab, sondern stärkt dessen Strukturen und weicht die Trennung von Polizei und Geheimdiensten weiter auf, und im Gemeinschaftskundeunterricht wird erklärt, warum Antifaschisten mindestens ebenso schlimm sind wie Nazis.
Die NSU-Morde haben Öffentlichkeit und Politik zwar aufgeschreckt, doch solange die Extremisten der Mitte ihren eigenen »demokratischen Konsens« nicht hinterfragen und der organisierten Nazi-Szene als ordnungspolitischem statt als gesellschaftlichem Problem begegnen, werden alle Aktivitäten zu ihrer Bekämpfung ins Leere laufen. Daran ändert auch nichts, daß die Innenministerkonferenz Anfang Dezember beschlossen hat, ein neues NPD-Verbotsverfahren anzustrengen. Ein Erfolg wäre zwar zu wünschen, um die Nazi-Szene von Geldern und Strukturen abzuschneiden, doch die Verbreitung ihres Gedankenguts dürfte dies nur mäßig behindern.
Dieselbe Innenministerkonferenz entschied übrigens auch, die Sozialleistungen für Asylbewerber annähernd auf Hartz-IV-Niveau anzuheben. Nicht aus einer vorweihnachtlichen Spendierlaune, sondern aufgrund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts, das die seit 1992 nicht erhöhten Sätze für menschenunwürdig erklärt hatte. Nicht in der Erhöhung inbegriffen, betonte Bundesinnenminister Friedrich, sei eine Übernahme der Wohnkosten, Asylbewerber lebten schließlich in staatlichen Einrichtungen. Diese Sammelunterkünfte sind eng, miserabel ausgestattet und befinden sich meist an abgelegenen Orten mitten im Nirgendwo. Ihre Auflösung ist eine der Hauptforderungen der Protestierenden am Brandenburger Tor.
Ralf Melzer (Hg.), Oliver Decker, Johannes Kies, Elmar Brähler: Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012. Dietz, Berlin 2012, 142 Seiten, 9,90 Euro