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Zuviel des Guten

US-Fernsehserien werden jetzt sehr ernst genommen. Zeitungen veröffentlichen jubelnde Besprechungen, Produzenten und Schauspieler tun so, als ärgerten sie sich darüber, daß sowas in Deutschland nicht geht, und die Cinephilie hat ein völlig neues Diskursobjekt entdeckt. Tatsächlich gibt es kaum etwas Besseres, um Langeweile zu vertreiben, da man sich problemlos eine Folge nach der anderen reinziehen kann. Nicht schlecht ist auch, daß sich Serien als Thema selbst auf solchen Partys eignen, auf denen man kulturelle Übereinstimmungen nicht unbedingt erwarten würde. Jahrelang brauchte man nur »The Wire« zu sagen, um ein lebhaftes Gespräch in Gang zu setzen, auch wenn das dann oft entlang ähnlicher Beobachtungen verlief. Zum Beispiel fiel immer wieder das Wort Roman. TV-Serien seien eigentlich die Romane der Gegenwart. Das war sowohl ziemlich suggestiv als irgendwie auch auf der Hand liegend. Gemeint war, daß sich Erzählstränge über die einzelne Episode hinaus ausdehnen können, daß eine deutliche Nuancierung der Ausdrucksformen stattgefunden hat, Figuren komplexer und Erzählformen weitschweifiger und irgendwie »erwachsener « geworden sind. 

Allerdings, wären Serien tatsächlich wie Romane, dann müßten sie, neben dem Hang zur Expansion, auch Qualitäten teilen wie die, das Genre jenseits von Genres zu sein beziehungsweise die erzählerische Form mit der größten formalen Freiheit. Vielleicht war »Roman « in diesem Zusammenhang nur eine Parole, die ein Prestige übertragen sollte, das so nicht mehr besteht oder nicht mehr sehr ernst genommen wird. Aber selbst wenn der Romanbefund zuträfe, würde er nur für die wenigsten Titel gelten. Das wären im wesentlichen die, die das neuere Interesse an der Serie überhaupt erst angestoßen haben, also »Die Sopranos«, »The Wire«, vielleicht noch »Deadwood« oder »Boardwalk Empire«. Diese Produktionen haben es tatsächlich auf sowas wie eine zusammenfassende Deutung abgesehen, auf Panoramen der amerikanischen Gesellschaft, die Analyse und Kritik des politischen und ökonomischen Systems und ihrer historischen Bedingungen. Das konnte sogar, wie in »The Wire«, mit dem Anspruch geschehen, die Gesellschaftsdiagnostik mit dem Aufruf zu Reformen zu verbinden.

Was immer Gutes sich über die US-Serie der vergangenen 15 Jahre sagen läßt, künstlerisch allzu offen kann sie nicht sein. Überschüsse und Freiheiten gibt es möglicherweise im Vergleich mit dem TV-Durchschnitt oder der Gesamtheit deutscher Produktionen; den Erfahrungen, die man mit prägenden Erzähltexten oder Spielfilmen gemacht hat, kommen sie aber nicht sehr nahe.

Das serialisierte Erzählen kann nicht beliebig überschwenglich und redselig ausfallen (wie Balzac). Es darf sich auch nicht so weit von der Rationalität entfernen, daß sinnlose Situationen, zufällige oder inkohärente Elemente zugelassen werden könnten (die es in Spielfilmen zwischen etwa 1965 und 1980 noch sehr häufig gab). Es wäre undenkbar, daß sich das Gestaltungsprinzip einer Serie erst während der Dreharbeiten herstellt oder diese im Verlauf zu etwas ganz anderem wird. Sollte es also eine Verbindung von TV-Serie und Roman geben, dann besteht sie noch am ehesten im Realismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit dem die meisten Serien die künstlerischen Probleme und Wirklichkeitsbegriffe teilen.

Aber die Attraktivität von Serien hängt nicht von solchen Traditionszusammenhängen ab. Sie beruht eher auf handwerklicher Solidität, erfolgreichem Einspannen des Publikums und vor allem auf dem Erstaunen darüber, was inhaltlich inzwischen so alles geht. Man kann zeigen und bereden, was vor nicht allzulanger Zeit noch in den Bereich größter Intimität gehört hätte. Die softpornographisch explizite Präsentation sexueller Akte ist heute ebenso Standard wie die Akzeptanz reformierter geschlechtlicher Rollen. Alle Körperfunktionen und -öffnungen können benannt und sexuell verwendet werden. Die Reproduktion von »zeitgemäßer« Subjektivität, Verhaltensweisen und Sprache (Fluchen, bitchiness) gehört heute ebenso selbstverständlich in den Baukasten dramaturgischer Kunstgriffe wie die vertracktesten Formen physischer und psychischer Funktionsstörung. Die Phantasie kann sich ins surrealistisch Ekelhafte differenzieren und muß selbst vor dem Inzesttabu nicht zurückschrekken (»Boardwalk Empire«). Dabei ist nicht zu übersehen, daß einen viele heutige US-Produktionen mit einer zwar hochspezialisierten sadistischen, aber sehr hölzernen oder vielmehr stählernen erotischen Kultur konfrontieren.

Auf der dramaturgischen Ebene gibt es wiederum viele Beispiele für stramme Kombinationen unvereinbarer Elemente. Chemielehrer wird zum Drogenfabrikanten (»Breaking Bad«) beziehungsweise alleinerziehende Mutter zur Dealerin (»Weed«); arbeitsloser Familienvater wird Stricher für Damen (»Hung«); Dexter aus der gleichnamigen Serie stellt durch Serienmorde Gerechtigkeit her; verarmte Milliardärstochter und subproletarische Kellnerin wagen gemeinsam den wirtschaftlichen Neuanfang (»2 Broke Girls«); redneck kehrt aus irakischer Kriegsgefangenschaft als islamistischer Schläfer zurück (»Homeland«).

So vorteilhaft das Bild auch sein mag, das man von einzelnen Serien haben kann, es wird dunkler, sobald man von »der Serie« spricht oder bestimmte allgemeine Merkmale hervorhebt. Inzwischen wird, trotz der offensichtlichen Qualitäten sehr vieler Produktionen, das durch die eingangs erwähnten Beispiele erworbene Ansehen etwas pauschal auf alle neueren Produktionen oder die TV-Serie an sich übertragen, und dabei das Qualitätsargument überstrapaziert. Dabei sind die neueren Serien selbst der amerikanischen Bezahlkanäle gar nicht mehr so gut oder ihr Verlauf hält zumindest nicht, was der erste Anschein versprochen hat. Wie oft hat man es nicht erlebt, daß etwas, das hoffnungsvoll begann, routiniert durch die Jahre schwächelte, atmosphärisch entgleiste oder irgendwann unter zunehmender Süßlichkeit, Infantilisierung oder Unglaubwürdigkeit zusammengebrochen ist. Die Erfüllung sexueller Anziehungen wurde endlos hinausgeschoben oder ein anderes Motiv unüberwindbarer Schuld eingeführt; es ist nicht zu übersehen, daß ein ständiges Moralisieren sehr zur Eintönigkeit und Verbleierung vieler Serien beiträgt. Mit zunehmender Laufzeit hat man sich mit Dramaturgien des Hin und Her, des Jeder-mitjedem und der Aufhäufung von an den Haaren herbeigezogenen Konflikten und Wendungen abzufinden (»Smash«, »Mad Men«, die dänische »Kommissarin Lund«).

Was die Arbeit mit Dauer, Wiederholung und Periodisierung betrifft, scheinen die humoristischen Genres im Vorteil zu sein. Da sie erst gar nicht vorgeben müssen, etwas zu sein, das sie nicht sein können, können sie sehr geschickt darin sein, sich der eigenen Intuitionen und ästhetischen Voraussetzungen reflexiv zu versichern und etwa die Frustrationen zu thematisieren, die die Arbeit im immergleichen Rahmen auslösen kann (»South Park«, »Curb Your Enthusiasm«, »30 Rock«).

Eintönig sind TV-Serien durchaus auch in einem übergeordneten Sinn. Für visuelle Medien ist es ohnehin nicht leicht, in ihrem allzu Empirischen, Lebhaften und Gegenwärtigen etwas mitzumeinen, das nicht unmittelbar sichtbar ist. Was in Serien passiert, ist meistens so durchsichtig, daß es nicht undurchdringlicher und rätselhafter wird, je länger sich das Erzählen hinzieht. Diese Formen von Expansion gebieten oft nur über undialektische Zweideutigkeiten und berühren, da sie immer nur mit dem Erwartbaren überraschen, nicht einmal den Rand realer Dringlichkeiten. Man hängt sich an die Darstellungen von Selbstähnlichkeit, Familiarität und aller möglichen identitären Bestätigungen, wie auch unhistorische und verklärende Auffassungen vom Sosein des Menschen das unveräußerliche Modul der Subjektkonzeption von US-Produktionen sind.

Mit anderen Worten: Das serielle Erzählen verlangt einem einiges an Gelassenheit und Ausdauer ab. Angesichts einer Unmenge etablierter Serien, vieler Neustarts im Jahr und der bis zu 25 Episoden pro Staffel stellt sich immer mal wieder die Frage, was einen dazu bringt, diese ungeheuren Mengen an Zeit zu opfern. Meistens sind es nur kleine Sympathien oder Faszinationen, die ein erstes Interesse erzeugen, das dann möglicherweise eine Routine in Gang setzt. Mit der Zeit entsteht eine Art von Sucht. Man will wissen, wie es weitergeht; die Abhängigkeit geht aber vor allem von Identifikationen und sozialen Bedürfnissen aus. Deswegen werden Figuren so schnell zu Bekannten und sind oft viel einprägsamer als die Handlungsstränge. Obwohl der Serienkonsum eine häusliche und weitgehend einsame Beschäftigung ist, findet man sich erschreckend häufig in Ersatzfamilien wieder und damit im Wirbel bürgerlicher Werte und der Sorgen um das Seine und die Seinen. Intensive Bindungen stellen aber nicht nur die sogenannten Qualitätsserien her, das gelingt selbst Produktionen des Mittelfelds. Auch die sind noch unterhaltsam genug, um die Neugier zu befriedigen und jenen Zustand behaglich erregter Unterforderung auszulösen, der für die Serienrezeption typisch ist. Das Ende einer Episode empfindet man wie einen Stich, und der Abschluß der Staffel verstärkt das Gefühl von Einschnitt, Verlassenheit und Trauer beträchtlich.

So kommt es zu einer gewissen Verwahrlosung der Sehgewohnheiten. Es ist jetzt eher üblich, sich nicht nur eine Episode anzusehen, sondern gleich noch eine und dann vielleicht noch eine, wobei letztlich Gier oder Stumpfheit die Triebfedern sind. Wenn einem eine Serie zu blöd wird oder gar Ekel aufkommt, läßt man mehrere Folgen aus oder sieht sich die gefahrlos überspringbaren Szenen im schnellen Vorlauf an (Liebeserklärungen an die eigenen Kinder, sentimentale Appelle an das staatsbürgerliche, nachbarschaftliche oder familiäre Pflichtgefühl, bombiger Sex).

Das scheint jetzt auf eine Klage über schlechte Gewohnheiten hinauszulaufen und damit an Disziplinierungswünsche zu erinnern, die schon im 18. Jahrhundert erfolglos an Mythomanie und Buchlektüre gerichtet wurden. Hier verhält es sich eher umgekehrt. Die generischen Eigenschaften der TV-Serie – Weitschweifigkeit, Zwang zum Hinausschieben des Endes in endlosen Enden – führen irgendwann sowieso zu Erlahmungserscheinungen. Das Erodieren ist schon deshalb unvermeidbar, weil Serien nur selten wissen, worauf das Ganze jeweils als Ganzes hinauslaufen soll. Damit wäre ein weiterer Unterschied zu Romanen gegeben: Diese enden irgendwann, jene sollen das gerade nicht. Und da die Serie also nicht enden soll, ist sie dazu verdammt, irgendwann zu kippen. Ob einen das stört und ab wann, hängt offenbar sehr vom Ermessen und der individuellen Reizbarkeit ab, die Quoten beeinflußt dieses Kippen nämlich meist nicht. Da Serien nur selten aktiv beendet werden, kommt man nicht darum herum, selbst einen Ausstieg zu finden. (Falls eine Serie doch mal abgesetzt wird, kann es gut sein, daß es die ambitionierten und vielversprechenden trifft: »Deadwood«, »Rubicon«, »Luck«.)

Weil Serien also nicht enden wollen und niemand wissen kann, worauf sie eigentlich hinauslaufen, werden aber auch andere, abstraktere Enden undenkbar. Die Behauptung, daß Serien keine Beziehung zum Tod haben sollen, könnte etwas spitz wirken. Es ist ja nicht so, daß es da nicht ständig um Leben und Tod gehen würde. Es wird sicher auch genug Furcht und Schrecken verbreitet, um eine Beziehung zur eigenen Sterblichkeit mitzukultivieren. Aber es ist hier nicht die explizite Darstellung körperlicher Verletzungen, tausender Todesarten und von Leichen in allen Verwesungsstufen gemeint. Es geht darum, wie sich durch das unendliche Aussetzen der letzten Grenze das Verhältnis von Teil, Gesamtheit und Grenze verzerrt, und daß mit dem Zeitrahmen auch seine symbolische Funktion verlorengeht.

Teil dieser Funktion ist die Trennung der fiktionalen Sphäre von der einer Alltäglichkeit, die alte Romane und Spielfilme noch deutlich mit einem unwiderruflichen »Ende« markieren. Der Zwang zum offenen Ende wirkt sich wiederum auf Themen und Bandbreite des Erzählens aus. Innerhalb einer Seriendramaturgie lassen sich im Grunde nicht mal mehr die konventionellsten Geschichten menschlichen Aufstiegs und Falls plausibel erzählen. Noch weniger scheint es möglich zu sein, in eine tragische Dimension vorzudringen. Allerdings spielt dieses Tragische in Serien doch eine Rolle, nämlich im Faktor »Kollision unvereinbarer Positionen oder Gesetze«. Zwar darf dieser Faktor nie zu einer großen Krise zugespitzt werden, trotzdem legen die unauflösbaren Widersprüche den Grund für die Interessantheit der Serie. Da diese Widersprüche gleichzeitig dafür sorgen müssen, das Erzählen gegebenenfalls jahrzehntelang in Gang zu halten, wird das Tragische zerdehnt, weich, diffus und rein zweckhaft. Damit wird es aber gerade um sein Vermögen gebracht, das Alltägliche und Selbstverständliche zu überschreiten, eine Spur der Negation zu legen und an Verlusterfahrungen und Erschütterungen zu rühren, die man in Begriffen wie Kastration, Trauma und Tod denkt. In der Tragödie war der Tod die unausweichliche Konsequenz eines unausweichlichen Widerspruchs, in der TV-Serie ist die Konsequenz daraus das Nie-mehr-Sterben. Der großzügige Umgang mit Zeit unterläuft jede Möglichkeit, radikale Andersheit künstlerisch zu artikulieren.

Statt dessen locken Serien in die Illusion unendlicher Regeneration. Sie hängen sich an kindliche Bedürfnisse, bestätigen eine mit ihrer Psychologie ausgelastete Menschlichkeit und sind nur für eine einförmige Zukunft offen. Es wäre also die sozusagen realistische Seite des Realismus von TV-Serien, den Zuschauer auf der Seite des Beharrlichen und Bestehenden zu halten. In der Ambivalenz zwischen Veränderungswunsch und Gewohnheit, Belohnung und Übersättigung wird der Charakter des Lustprinzips bestätigt, eigentlich ein Lustvermeidungsprinzip zu sein. Während man den Darstellern beim Altern zusieht, konsumiert man auch den Verschleiß der eigenen Lebenszeit in exzessiver, aber fader Form. Unter dieser Bedingung wird es aber undenkbar, Grenzen zu öffnen oder jemals an ein Ende kommen zu können. Daß die serialisierten Erzählformen heute so beliebt sind und als herausragende Qualität gelten, ist auch ein Indikator.

Wenn man also immer wieder hört, daß US-Serien die Romane der Gegenwart seien, heißt das, daß deren Konzeption von Wirklichkeit zumindest in einem Punkt wie der Alltag ausgelegt ist: Dessen Erscheinungen sind auch nur schwer als funktionale Momente irgendeines Ganzen erfaßbar.

 Manfred Hermes hat zuletzt das Buch Deutschland hysterisieren. Fassbinder, Alexanderplatz (B_Books) veröffentlicht

 

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