Welche Folgen hätte die von der EU-Kommission angestrebte Privatisierung der kommunalen Wasserversorgung?
Von Georg Fülberth
Eine Initiative »right2water« sammelt Unterschriften für ein europäisches Bürgerbegehren, wie es seit dem Vertrag von Lissabon, der 2009 in Kraft trat, rechtlich möglich ist. Sie wendet sich gegen eine geplante
Richtlinie der EU-Kommission, welche die Kommunen verpflichten soll, bei der Neuerteilung von Konzessionen, unter anderem für Ver- und Entsorgungsleistungen, europaweit auszuschreiben. Es besteht die Befürchtung, daß dabei Anbieter von Trinkwasser den Zuschlag bekommen, deren Angebot hinter den bisherigen Standards zurückbleibt, aber billiger ist. Damit das Bürgerbegehren zustande kommt, müssen eine Million Unterschriften aus mindestens sieben Ländern vorliegen. Die sind inzwischen bei weitem beisammen, wobei in den einzelnen Staaten noch jeweils ein Quorum zu erfüllen ist. Bisher haben nur Deutschland und Österreich in ausreichender Menge geliefert.
Die Initiative ist auch unabhängig vom konkreten Thema interessant. Derzeit ist die Europäische Union etwa so demokratisch wie das Deutsche Reich unter den Kaisern Wilhelm: eine starke Exekutive – die Kommission –, die ihrerseits wieder von anderen Exekutiven, den nationalen Regierungen, beschickt wird, daneben ein schwaches Parlament, ähnlich dem Reichstag vor 1919. Das Bürgerbegehren würde ein plebiszitäres Element hinzufügen. Dies ist allerdings zugleich wieder eine zweischneidige Sache: Der Grunddefekt der demokratiefernen Konstruktion bleibt erhalten. Die Europäische Kommission muß nämlich dem Bürgerbegehren nicht stattgeben. Lehnt sie es ab, bedarf dies lediglich einer Begründung. Ein anschließender Volksentscheid ist nicht vorgesehen.
Manche nennen die Konstruktion der EU bonapartistisch. Das ist beschönigend, denn unter Napoleon III. fanden immerhin Volksabstimmungen statt, die konkrete Folgen hatten. Allerdings wurden sie immer vom Kaiser angeordnet, und es kam hinten heraus, was er vorn eingegeben hatte. Das europäische Bürgerbegehren – korrekt heißt es »Bürgerinitiative« – hat in etwa die Durchschlagskraft einer Dienstaufsichtsbeschwerde: formlos, kostenlos, folgenlos. Befaßt es sich aber mit einem Problem, das die Massen wirklich ergreift, stößt es dabei an die im Vertrag von Lissabon gezogenen Grenzen, und wiederholt sich das einige Male, hätte dies eine aufklärende Wirkung, die die ganze politische Verfaßtheit des kapitalistischen Europa in Frage stellte, wenngleich zunächst wohl nur in den Köpfen.
Die Bewegung gegen die Privatisierung der Trinkwasserversorgung könnte ein solches mobilisierendes Thema gefunden haben. H2O , das im Boden gelagert ist, aus Quellen fließt und vom Himmel fällt, ist ein sogenanntes freies Gut, das allen gehört, wie die Luft und das Sonnenlicht. Allerdings gibt es einen Unterschied: Es ist, bleibt es naturbelassen, ungleich verteilt. In Mittelalter und Neuzeit mußte deshalb dafür gesorgt werden, daß die wenigen Brunnen und Quellen für alle erreichbar waren: Sie durften nicht monopolisiert werden. Deshalb war Wasserversorgung kein freies, sondern ein öffentliches Gut. Dies war sie auch (und das sogar immer mehr), als Technik zu Förderung, Verteilung und Qualitätssicherung eingesetzt, bis schließlich in den am weitesten entwickelten Ländern das Wasser aus der Leitung in jedem Haushalt floss. Damit es nicht zum Transportmittel von Seuchen wurde – und das war es in der Vergangenheit oft –, mußte für seine Reinhaltung gesorgt werden. Dies taten kommunale Einrichtungen, die so sorgfältig arbeiten, daß das Wasser aus dem Hahn nach der Aussage von Kennern oft sauberer ist als Mineralwasser in der Flasche. Die Kommunen haben eine Gewährleistungspflicht für eine gesicherte und für alle erschwingliche Ver- und Entsorgung. Als sich dies am Ende des 19. Jahrhunderts durchsetzte und durch Eigenbetriebe realisiert wurde, sprach man zuweilen von einem »Gas- und Wassersozialismus«. (Später, in den zwanziger Jahren, wurde er als »kalte Sozialisierung« gescholten.) Etwa zur gleichen Zeit kam die Elektrizität hinzu. Was letztere und auch das Gas angeht, zeigen spätere Privatisierungen, daß diese Entwicklung auch rückgängig gemacht werden kann. Damit sind wir wieder beim Wasser.
Die Nachfrage nach diesem Stoff ist unelastisch, kann also nicht beliebig gesenkt werden. Deshalb ist es interessant für Leute, die daran verdienen wollen. Solange die Kommunen ein Versorgungsmonopol hatten, konnte dieses Geschäft nicht gemacht werden.
Daran hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten etwas geändert. Zur marktradikalen Strategie gehört der Angriff auf die Unternehmen der öffentlichen Hand, einschließlich der Sparkassen. Der Staat und die Gemeinden, so lautet die reine Lehre, dürfen nichts tun, was die freien Unternehmer auch können. Machen sie
das trotzdem, sei dies Wettbewerbsverzerrung.
Besonders energisch wurde deren Beseitigung in Thatchers Großbritannien vorgenommen, wo Privatisierungen mit ideologischem Eifer betrieben wurden. Seitdem wird dort über marode Eisenbahnen und schlechtes Wasser geklagt.
Daß es in Deutschland noch nicht so schlimm ist, mag auch daran liegen, daß hier die Privatisierungen nicht wirtschaftstheologisch, sondern fiskalisch begründet wurden. Allerdings hat das ebenfalls einen dogmatischen Hintergrund. Seit Mitte der siebziger Jahre setzten sich auch in der Bundesrepublik eine Theorie und Praxis durch, wonach die öffentlichen Hände möglichst wenig einnehmen und ausgeben sollen. So bleibe die Geldwertstabilität erhalten, Kapital könne in privaten Händen gesammelt und Nachfrage sowie Arbeitsplätze geschaffen werden. Im Ergebnis (insbesondere nach den Steuersenkungen der rotgrünen Bundesregierungen der Jahre 1998 bis 2005) sind viele Kommunen klamm. Die Umstellung auf den neuen Wirtschaftsstil war der erste Schritt, der einen zweiten nahelegte, nämlich die Erschließung neuer Einnahmen der Gemeinden jenseits der Steuern. Eines der Mittel, die dabei gefunden wurden, waren die Privatisierungen von Versorgungsleistungen, darunter das Wasser.
Ein Paradefall sind die »Berliner Wasserbetriebe«, das größte städtische Unternehmen dieser Art. 1999 wurde es durch eine Public Private Partnership (PPP) zu 49,9 Prozent an RWE und den französischen Konzern Veolia verkauft. Der Senat garantierte hohe Gewinne. Für die Offenlegung der geheimen Verträge kämpfte der »Berliner Wassertisch«, ein von ihm angestrengter Volksentscheid kam 2011 durch. Aber der Senat weigert sich immer noch, die Verträge zu revidieren. Das Volk habe Illegales verlangt und die Rechtssicherheit in Frage gestellt. 2012 verkaufte die RWE AG ihren Anteil von 24,9 Prozent wieder an das Land Berlin.
Die Privatisierung oder Teilprivatisierung ist die zweite Stufe auf der schiefen Ebene des marktliberalen Sachzwangs. Die dritte folgt logisch daraus: Michel Barnier, EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen, ist der einleuchtenden Ansicht, daß Privatunternehmen sich dem Wettbewerb stellen müssen. Also sind die Leistungen, die sie anbieten, auszuschreiben. Damit der Wettbewerb nicht eingeschränkt ist, habe das europaweit zu geschehen, denn es besteht ja ein gemeinsamer Markt. Dient ein Versorgungsunternehmen dem Eigenbedarf der Kommune (bzw. des Landes) oder werden mehr als 80 Prozent des Umsatzes von der öffentlichen Hand bestritten, müssen seine Leistungen nicht ausgeschrieben werden. Die erste Bedingung ist schwer zu erfüllen, denn Gas, Wasser und Busfahrten dienen nicht der Versorgung oder dem Transport des Oberbürgermeisters, sondern werden von einem breiten Publikum abgenommen. Zur zweiten Bedingung: Durch Public Private Partnership ist der öffentliche Anteil oft schon unter achtzig Prozent gesunken. Verschärft wird das Problem bei einem halböffentlichen Mischkonzern. Selbst wenn das Wasserwerk noch hundertprozentig in städtischer Hand ist, müßten seine Lieferungen, falls die Richtlinie wirklich in Kraft tritt, dann ausgeschrieben werden, wenn der private Anteil an der gesamten Aktivität des Unternehmens – das etwa auch Strom, Gas und Verkehrsdienstleistungen anbietet – über 20 Prozent liegt. Herr Barnier ist großzügig: Den Kommunen könne bis 2020 Zeit gegeben werden, um die Sektoren, die sie schützen wollen, auszugliedern. Eine Privatisierung bedeute die Ausschreibung schon deshalb nicht, weil ja nur solche Unternehmen betroffen sind, die ein Mindestmaß an nichtöffentlichen Anteilen haben.
Unrecht hat er insofern, als bei PPP auch der jeweilige kommunale Bereich in den Wettbewerb einbezogen würde. Siegt ein voll privatisierter Konkurrent, ist Schluß mit der öffentlichen Wirtschaftstätigkeit. Es bliebe nur noch die Versorgungsgewährleistung einschließlich Qualitätskontrolle, die unverändert Gemeindeaufgabe ist. Doch kann man sich vorstellen, daß dies aus Kostengründen etwas weniger genau genommen wird als vorher. Befürworter der neuen Pläne argumentieren, daß die Stadt ja die Ausschreibungen selbst formulieren könne. Außerdem habe sie die Entscheidung über das Ergebnis, sie könne also dem (teil)eigenen Unternehmen den Zuschlag geben. – Das geht ja nun wohl aus mehreren Gründen nicht. Wird die Ausschreibung auf das eigene Wasserwerk zugeschnitten, ist das Wettbewerbsverzerrung und führt zu Konkurrentenklagen. Ähnliches gilt, wenn man einem städtischen Unternehmen den Zuschlag gibt, obwohl es zwar vielleicht besser, aber auch teurer anbietet. Dann hat man die Kommunalaufsicht, die zu kostengünstigem Wirtschaften anhält, oder den Bund der Steuerzahler auf dem Hals.
Barnier und die Seinen trösten, niemand sei gezwungen, zu privatisieren oder den eigenen Anteil unter 80 Prozent zu drücken. Damit treffen sie einen wunden Punkt. Das Kind liegt nämlich – um beim Wasser zu bleiben – oft schon seit längerem im Brunnen, da in der Vergangenheit bereits viele Privatisierungen vorgenommen wurden. Wenn der Druck auf die öffentlichen Hände bleibt oder zunimmt (Schuldenbremse, die von Bund und Ländern aus auch auf die Gemeinden wirkt!), könnten sie ihre Anteile weiter verringern und sie der Unterbietung aussetzen.
Die Stufen, mit denen wir es zu tun haben, führen unverkennbar nicht nach oben, sondern nach unten. Nach der dritten wird eine vierte folgen. Welche? Sehen wir das doch als Alternative: Entweder es geht weiter abwärts. Oder: Die neue Richtlinie wird verhindert. Das wird nicht reichen. Es muß der gesamte Weg, der
dorthin führte, rückabgewickelt werden: Rekommunalisierung = Revision von Stufe zwei + eine neue Ausstattung der öffentlichen Hände durch Aufhebung ihrer bisherigen Austrocknung (denn so begann es).
Das Europäische Bürgerbegehren wäre ein erster Schritt. Es ist nicht sehr viel. Dennoch: Hier ist eine Adresse: https://signature.right2-water.eu/oct-web-public/success.do. Da kann man unterschreiben.
Georg Fülberth schrieb in KONKRET 3/13 über das Ende der Studiengebühren