Gründe für einen Krieg bietet ein jeder Feind zuhauf. Anlässe loszuschlagen aber muß man sich selber machen. Von Michael Schilling
Alexander und Napoleon, als sie aufbrachen, die ihnen bekannte Welt zu erobern, brauchten keine Gründe als den. Damals galt: Wer konnte, durfte. In der neueren Zeit der Moral reicht es nicht, daß der Feind ein Schurke ist. In neun von zehn Fällen hat man mit ihm bis gestern ja anstandslos kollaboriert. Um in den Krieg zu ziehen, muß er tags zuvor eine besondere Missetat verbrochen haben.
Am 2. August 1914 verbreitete Deutschland, »die verfolgende Unschuld« (Karl Kraus), die Lüge, französische Flugzeuge hätten Nürnberg bombardiert, und los konnte er gehen, der »heilinge Verteilungskrieg« (derselbe Dichter). Um einen Vorwand für den Überfall auf Polen zu haben, ließ die deutsche Regierung von SS-Männern, die als Polen verkleidet waren, am 31. August 1939 den Sender Gleiwitz überfallen und übers Radio in polnischer Sprache eine erfundene Kriegserklärung Polens gegen das Deutsche Reich verlesen, auf die hin Hitler erklärte: »Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen!«
Mit dem sogenannten Tonkin-Zwischenfall im August 1964 besorgte sich Präsident Johnson die Zustimmung des Kongresses zum Kriegseintritt gegen Vietnam. 1971 bewiesen die von Daniel Ellsberg veröffentlichten Pentagon Papiere, daß die Darstellung des Zwischenfalls, bei dem Kriegsschiffe der USA von nordvietnamesischen Schnellboten angegriffen worden seien, eine bewußte Falschinformation war.
Zur Rechtfertigung des ersten Irak-Kriegs wurden Greuelberichte lanciert, die den irakischen Truppen vorwarfen, in kuwaitischen Krankenhäusern Babys aus Brutkästen gerissen zu haben. In Wahrheit hatte eine New Yorker PR-Firma diese Geschichte erfunden. Die fünfzehnjährige Nijirah al-Sabah, die als angebliche Krankenschwester unter Tränen vor dem US-Kongreß von den Säuglingsmorden berichtet hatte, war die Tochter des kuwaitischen Botschafters in den USA. Ein angeblicher Chirurg, der als Zeuge vor den Vereinten Nationen auftrat, war in Wahrheit Zahnarzt und gestand später, gelogen zu haben.
Die Legitimation der Deutschen, den Balkan zum dritten Mal im 20. Jahrhundert mit Krieg zu überziehen, schwafelte der damalige Verteidigungsminister Scharping mit unvergeßlichen Erzählungen wie dieser vom April 1999 über serbische Untaten herbei:
Es (ist) für einen normalen menschlichen Kopf extrem schwierig, noch auszuhalten, was man dort an Berichten bekommt. Wenn beispielsweise erzählt wird, daß man einer getöteten Schwangeren den Fötus aus dem Leib schneidet, um ihn zu grillen und dann wieder in den aufgeschnittenen Bauch zu legen; wenn man hört, daß systematisch Gliedmaßen und Köpfe abgeschnitten werden; wenn man hört, daß manchmal mit den Köpfen Fußball gespielt wird, dann können Sie sich vorstellen, daß sich da einem der Magen umdreht …
Ähnlich die Lügen vor dem zweiten Irak-Krieg. George W. Bush hatte »Beweise für die Existenz von Programmen, die mit Massenvernichtungswaffen in Verbindung stehen«. Das war gelogen. Seine Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice wußte: »Es gibt eindeutige Kontakte zwischen Al-Qaida und Irak.« Eindeutig gelogen. Außenminister Colin Powell beschrieb vor dem UN-Sicherheitsrat im Februar 2003 mobile Giftlabore, Anlagen zur Urananreicherung, bis zu 500 Tonnen Chemiewaffen (»konservative Schätzung«), all diese facts and conclusions based on solid intelligence – waren gelogen. Dokumente, die beweisen sollten, daß der Irak seit Jahren versucht, im afrikanischen Niger Uran zu kaufen: plump gefälscht. Powell im März 2013: »Unsere Informationen waren falsch.«
Seit Wochen nun arbeiten alle verfügbaren Dienste, die geheimen wie die öffentlichen, an Erfindungen, die einen Angriff auf Syrien legitimieren könnten. Weil, seit Obama den Einsatz von Giftgas durch die syrischen Truppen zu dem Casus belli erklärt hat, die übrige Propaganda über die Greueltaten der regulären Armee und ihre durchweg zivilen Opfer (nie wird die »Freie Syrische Armee« bombardiert, immer nur »Frauen und Kinder«) allein nicht mehr in den Krieg führt, nicht mehr »zielführend« ist, wie die Kanzlerin in ihrem schlichten DDR-Deutsch zu sagen pflegt, richten sich alle Bemühungen darauf, das Regime des Übertretens dieser »roten Linie« anzuklagen. Beispielhaft der von der deutschen Regierung kontrollierte Sender* ZDF:
Die Hinweise, daß Syriens Machthaber Assad Chemiewaffen gegen seine Gegner eingesetzt hat, verdichten sich … Die Erkenntnisse des US-Geheimdienstes, daß Assads Truppen offenbar Aufständische mit chemischen Kampfstoffen angegriffen haben, setzen Obama jetzt unter Druck … Obamas Regierung (bestätigte) am Donnerstag erstmals, daß in Syrien offenbar »in geringen Mengen « das Nervengas Sarin zum Einsatz gekommen sei … »Ich denke, es ist ziemlich offensichtlich, daß die rote Linie überschritten wurde«, sagte der republikanische Senator John McCain.
Was sich verdichtet, sind Hinweise auf solche Hinweise. Wohl wahr: Das Regime ist keines, unter dessen Fuchtel zu leben man irgendeiner Bevölkerung wünschen möchte (wofür übrigens schon spricht, wie reibungslos die Freie Welt all die Jahrzehnte mit Vater und Sohn Assad zusammengearbeitet hat, nämlich fast so gut wie vormals mit Saddam Hussein). Assad mag ein Schurke sein, ein Selbstmörder, das zeigt sein bisheriges Agieren im Bürgerkrieg, ist er nicht. Ein Einsatz chemischer Kampfstoffe, für den er verantwortlich wäre, bedeutete sein Ende.
Die gewiß in Sachen westlicher Propaganda nicht übermäßig skrupulöse Carla del Ponte, die für die Vereinten Nationen Kriegsverbrechen in Syrien untersucht, hat erklärt, ihre Kommission habe Anzeichen dafür gefunden, daß es die syrischen Rebellen waren, die das Gift Sarin eingesetzt hätten. Das liegt nahe. Was Assad von einem Giftgasfund zu befürchten hätte, haben seine Gegner zu erhoffen: den Kriegseintritt westlicher Staaten auf ihrer Seite.
Daß insbesondere Frankreich und Großbritannien, die beiden von den neuen politökonomischen Weltmächten abgehängten Staaten, diesen Krieg ums Verrecken wollen, läßt sich verstehen: Er hülfe ihrem Prestige, dem persönlichen wie dem nationalen, und ihrer Waffenindustrie auf. Der britische Premier David Cameron lügt »eine wachsende Zahl beschränkter, aber überzeugender Meldungen« herbei, die zeigen, daß Assads Regime »chemische Waffen benutzt hat und fortfährt, sie zu benutzen, einschließlich Sarin … Der Raum für Zweifel daran wird immer kleiner« Kurzum: Er weiß nichts und das ist ihm ganz recht. Ein würdiger Nachfolger von Tony Blair, der einst bezogen auf den Irak sagte: »Die Massenvernichtungswaffen sind binnen 45 Minuten einsatzbereit.«
* Staatssender? Im vierzehnköpfigen Verwaltungsrat des ZDF sitzen: als Vorsitzender Kurt Beck (SPD), fünf Vertreter der Bundesländer (darunter Platzeck (SPD), Seehofer (CSU), Tillich (CDU)), ein Vertreter des Bundes (Kulturstaatsminister Neumann), Staatsministerin a. D. Ilse Brusis (SPD), Reinhard Göhner (CDU), Hildegund Holzheid (CSU), Hans Georg Koch (Ministerialdirigent), Gerd Zimmermann (CDU), der Hauptgeschäftsführer der Arbeitgeberverbände und ein Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Deutschen Landkreistags