Seit Jahren wirbt die Rußlanddeutsche Landsmannschaft auch an Schulen fürs Deutschtum.
Jakob Fischer ist ein großer, breiter Mann mit leichtem russischen Akzent. Er hat viel zu erzählen über Migration, Integration und vor allem über Rußlanddeutsche und das Deutschsein überhaupt. Im Frühjahr 2013 hält er einen Vortrag in einer Bildungseinrichtung im Hessischen, und schnell ist er bei der Sache. Ausgerüstet mit Beamer und zwei riesigen Europa-Karten erklärt Fischer den knapp 80 jugendlichen Zuhörern die historischen Wanderungsbewegungen deutscher Volksgruppen jenseits der deutschen Staatsgrenzen und wie es um deren Integration in Deutschland heute steht. Fischer ist, wie er wissen läßt, selbst sogenannter Wolgadeutscher und Vertreter der »Landsmannschaft der Deutschen in Rußland e.V.« (LMDR). Außerdem hat er Teile der Wanderausstellung »Ein Volk auf dem Weg« mitgebracht, die hier aber unter dem Titel »Geschichte und Integration der Deutschen aus Rußland« firmiert.
Die Wanderausstellung folgt inhaltlich den Darstellungen der Vereinszeitung der LMDR, die ebenfalls »Volk auf dem Weg« heißt und 1996 zum Stein des öffentlichen Anstoßes wurde, nachdem in einem Artikel der Zeitschrift »Forum Wissenschaft« darauf hingewiesen worden war, daß »die Darstellung der Geschichte der Rußlanddeutschen in dieser Broschüre« auf überarbeiteten Manuskripten von Dr. Karl Stumpp basierte. Stumpp war, berichtete »Forum Wissenschaft«, in der NS-Zeit Experte für Volksbiologie und »als Leiter des ›Kommandos Dr. Stumpp‹ in den ›Sippenämtern‹ Shitomir und Dnjepropetrowsk an der Selektion beteiligt«.
Referent Fischer zeigt in seinem Vortrag, der anstelle des eigentlichen Unterrichts und klassenübergreifend stattfindet, zunächst einen Ausschnitt aus dem Film »Wadim«. Dieser rekonstruiert den Leidensweg des gleichnamigen lettischen Jugendlichen und sorgte 2011 für einige Aufregung. Nach Wadims Abschiebung nach Riga und mehreren illegalen Deutschland-Besuchen hatte sich der Junge in Hamburg das Leben genommen.
In der gezeigten Sequenz sagt Wadims sichtlich betroffener Anwalt: »Wadims Geschichte verdeutlicht so sehr, wie wichtig es ist zu verstehen, daß es für jeden Menschen ein Zuhause geben muß, einen Ort wo er hingehört, und daß das ein sehr wertvolles Gut ist, auf dem man nicht herumtrampeln darf.« Der Referent nutzt dieses Zitat zur Überleitung zu seinem eigentlichen Thema, nämlich der »Vertreibung« und Zwangsumsiedlung der Rußlanddeutschen. Dieser Trick ist ein häufig wiederholtes Stilelement des Vortrags: Aktuelle vollkommen anders gelagerte Fälle von Abschiebungen stehen in Fischers Darstellung undifferenziert neben Beispielen von Vertreibungen deutscher Siedler in Rußland beziehungsweise deren späterer Auswanderung nach Deutschland.
Über die Rußlanddeutschen im allgemeinen erfährt man, daß sie den einheimischen Nachbarn seit ihrer Immigration ab 1763 in Sachen Sauberkeit, Fleiß und technischem Know-how weit überlegen gewesen seien. Stark profitiert hätten die Russen beispielsweise von den medizinischen und landwirtschaftlichen Kenntnissen der germanischen Einwanderer. Weder der Vernichtungskrieg der Deutschen gegen Rußland noch der Holocaust spielen in Fischers Darstellung eine nennenswerte Rolle. Wenn etwa von Deportationen die Rede ist, dann ausschließlich im Zusammenhang mit der Verschleppung der deutschen Minderheit in Rußland während des Zweiten Weltkriegs.
In einer Filmsequenz zur Geschichte der Wolgadeutschen heißt es lapidar: »Für die Rußlanddeutschen hatte der Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion verheerende Folgen. Unter dem Vorwurf der Kollaboration mit dem Feind wurde im August 1941 die Wolgarepublik aufgelöst.« Fischer insistiert mehrfach, es habe keine Kollaboration der Rußlanddeutschen mit »Adolf Hitler« gegeben, die gewaltsame Umsiedlung ab 1941 unter Stalin sei vollkommen grundlos und rassistisch motiviert gewesen. 2008 kam der KONKRET-Autor Jörg Kronauer dagegen in einem Beitrag für das antifaschistische »Lotta-Magazin« zu einer ganz anderen Einschätzung. Demnach habe es nur deshalb keine relevante Kollaboration der Rußlanddeutschen mit den faschistischen Angreifern gegeben, weil die deutschen Einwanderer rechtzeitig abtransportiert wurden: »Stalin, der die Techniken der deutschen ›Volksgruppen‹-Politik spätestens seit der Zerschlagung der Tschechoslowakei mit Hilfe der ›Sudetendeutschen‹ genau kannte, kam den Nazis diesmal zuvor – mit der Umsiedlung und Deportation der Rußlanddeutschen nach Zentralasien oder sogar Sibirien.«
Angesichts der nachmaligen Zusammensetzung der Gründungsriege der LMDR muß man Stalin geradezu seherische Fähigkeiten bescheinigen, was die Gesinnung der Rußlanddeutschen betrifft: Der Initiator der LMDR-Gründungsversammlung von 1950, Heinrich Roemmich, erklärte bereits 1937, »der Führer sei der von Gott gesandte Retter Deutschlands«, während mit Dr. Gottlieb Leibbrandt ein vormals glühender Nationalsozialist 1951 zum Ersten Vorsitzenden der LMDR gewählt wurde. Leibbrandt hatte nichts ausgelassen und sich als Mitglied in NSDAP, SA und der NS-Studentenorganisation engagiert. Der oben erwähnte SS-Mann Stumpp machte indes nicht nur als Sprecher, Vorsitzender und Ehrenvorsitzender bei der LMDR Karriere, auch die BRD ehrte ihn 1966 mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse für Verdienste um Volk, Staat und Landsmannschaft. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen.
Daß die rußlanddeutschen LMDR-Gründer ein Verein strammer Nazis gewesen sind und Stalins Vorsichtsmaßnahmen daher möglicherweise doch nicht ganz so unbegründet waren, ist bei Fischer selbstverständlich kein Thema. Die Homepage der LMDR aber gibt beredt Auskunft über die Größe des von Fischer und Konsorten erreichten schulischen Zwangspublikums: »Allein 2010 unterrichteten die Projektleiter als Gastlehrer in weit über 1.100 Schulklassen mit mehr als 30.000 Schülerinnen und Schülern und stellten die Geschichte der Deutschen aus Rußland und ihre Integration in Deutschland in den Mittelpunkt des Unterrichts.« Ein Blick in Terminliste und Pressespiegel verrät, daß seither weitere Zehntausende Schüler dazugekommen sind.
Wer von dieser Art Unterricht irritiert ist, dürfte im zweiten Teil der insgesamt gut fünfstündigen Veranstaltung seinen Ohren nicht trauen. Nach der Mittagspause zeigt Projektleiter Fischer seine weiteren Talente: Er singt volkstümliche deutsche Lieder. Mit Schlagern wie »Es wollt ein Mann nach seiner Heimat reisen«, »Dreihunderttausend Mann zogen ins Manöver« oder »Nun ade, du mein lieb Heimatland« besingt der Gastlehrer lautstark Heimatliebe und den deutschen Soldaten. Der zweite Veranstaltungsteil besteht fast ausschließlich aus derartigen Gesangseinlagen. Einige Kostproben von Fischers Gesangskünsten sind unter dem Usernamen »Herr Vaterland« neben weiterem deutschen Liedgut bei Youtube abrufbar.
Gefördert und finanziert wird die Veranstaltung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf ) und das Bundesinnenministerium (BMI). Dabei hat auch die Liaison zwischen BMI und LMDR Tradition. Im Zuge des erwähnten »Forum Wissenschaft«-Artikels bezeichnete es die damalige Grünen-Bundestagsabgeordnete Annelie Buntenbach als »unglaublichen Skandal, daß Bundesmittel aus dem Haushaltstitel ›Informationspolitische Maßnahmen‹ für derartige Desinformationen zur Verfügung gestellt werden.«
Innenminister Friedrich, Mitglied der Katholischen Studentenverbindung Ludovicia Augsburg, die laut Selbstauskunft »einzige KVVerbindung, die statt ›scientia‹ ›patria‹ als drittes Prinzip hat«, also Vaterlandsliebe statt Liebe zur Wissenschaft, dürfte die von seiner Behörde finanzierte Geschichtsstunde des rußlanddeutschen Landsmannes vorzüglich gefallen.
Nicolai Hagedorn ist Sprachlehrer und freier Journalist und lebt in Frankfurt a. M.