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Klimbim und Marketing

Heimisch in der Nordkurve und in der Business-Lounge: Die Betriebsnudel Sigmar Gabriel gilt seit 15 Jahren als große Zukunftshoffnung der SPD. Von Eric Rotziegler

Es gibt politische Karrieren, die einen roten Faden haben, und es gibt Karrieren, die sich am besten durch Anekdoten bebildern lassen – letzteres gilt für die von Sigmar Gabriel. Dass die Laufbahn des SPD-Vorsitzenden überhaupt eine Betrachtung verdient, liegt an der massiven Berichterstattung der vergangenen Wochen: Nimmt man deren Frequenz und Tönung als Maßstab, könnte es scheinen, die Partei

Rudolf Scharpings habe es diesmal besser getroffen und sich auf einen unaufhaltsamen Siegeszug begeben. »Alles, was Gabriel in den vergangenen Wochen getan und gelassen hat, atmete die Botschaft: Ich habe keine Zeit für Klimbim und Marketing, ich habe zu tun«, schrieb anerkennend die »FAZ« – und zwar noch bevor sich die SPD-Spitze für eine durch allerlei Ausnahmen unkenntlich gemachte Regelung zum »Mindestlohn« feiern ließ.

Die erste überregional wahrgenommene Regung Gabriels stammt aus dem Jahr 1995. Damals innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im niedersächsischen Landtag, dachte er über Maßnahmen zur Entlastung des Landeshaushalts nach und schlug vor, einige Ministerien zu fusionieren – unter anderem das Frauen- mit dem Sozial- oder Justizressort. Die Vorstandssprecherin der Grünen klassifizierte die Idee als »typische Milchbubirechnung von SPD-Männern«, die von der Zusammenlegung bedrohte Frauenministerin bezichtigte Gabriel der »persönlichen Profilierungssucht« und blieb im Amt, bis ihr damaliger Chef Gerhard Schröder nach Berlin wechselte.

Schröders Nachfolger als niedersächsischer Ministerpräsident wurde Gerhard Glogowski, der nach lauter werdenden Vorwürfen, er habe sich im Amt materielle Vorteile verschafft, bald wieder zurücktrat. Als Ende 1999 sein Nachfolger gesucht wurde, sollte der Wechsel (so seinerzeit der »Spiegel«) wie eine »Frischzellenkur« aussehen – Gabriel, damals 40 Jahre alt, war der politische Ziehsohn von Glogowski und jetzt an der Reihe. »Taktisch« sei der Neue wohl durchaus talentiert, analysierte das Nachrichtenmagazin überaus korrekt und fügte hinzu: »Skeptiker freilich befürchten, sein rhetorisches Talent sei auch schon sein größter Vorzug. Prinzipienfestigkeit, bei einfachen Mitgliedern der SPD noch immer im Kurs, trauen Parteifeinde ihm nicht im Übermaß zu.«

Gabriel war gerade zwei Monate im Amt, da hatte er schon wieder eine Zusammenlegungsidee. Bei einer Pressekonferenz mit dem bremischen Regierungschef Henning Scherf schlug er diesem spontan vor, die Landesämter für Statistik und Verfassungsschutz zu vereinigen, um Geld zu sparen – auch dieser Gedankenblitz verpuffte. Im März 2000 rühmte der niedersächsische Wissenschaftsminister Thomas Oppermann unter expliziter Berufung auf seinen Chef »die positiven Lenkungswirkungen« von Studiengebühren, ebenfalls eine Idee, die ihrer Zeit nennenswert voraus war. Im Sommer des gleichen Jahres kritisierte Gabriel den rotgrünen Gesetzentwurf zur gleichgeschlechtlichen Heirat und forderte eine »hinreichende Abgrenzung zur Ehe«: »Die Vorstellungen zur Hinterbliebenenversorgung gehen mir zu weit.« Im darauffolgenden Herbst verteidigte er die stark kritisierte Verleihung des  Bundesverdienstkreuzes an Heinz Eckhoff aus Stade, der früher der Waffen-SS angehört hatte: Man müsse sich überlegen, »wie wir mit Menschen umgehen, von denen wir froh sind, dass sie einer demokratischen Partei angehören«. Eckhoff war 1968 auf der NPD-Liste in den Kreistag von Stade gewählt worden, zwei Jahre später trat er in die CDU ein.

Im August 2001 und damit lange vor Hartz dachte Gabriel ein weiteres Mal an eine Zusammenlegung. Diesmal ging es um Arbeitsvermittlung und Sozialhilfebehörden. »Wir brauchen Qualifizierung, Arbeitsvermittlung und Betreuung aus einer Hand. Das ist die eigentliche Reform, die in den USA stattgefunden hat und die wir dringend übertragen sollten.« Der Bund solle dabei die Kosten für arbeitsmarktbedingte Sozialhilfe übernehmen. Einige Wochen vor diesem Statement hatte die »Taz« freundlich orakelt, Gabriel könne ein »Nachfolgekandidat für Kanzler Gerhard Schröder« sein. Im November 2001 plädierte Gabriel für eine deutsche Unterstützung der amerikanischen Antiterrorpolitik und erinnerte öffentlich an eigene frühere Plakataktionen zugunsten der Guerilla in El Salvador. »Internationalistische Politik« müsse heute humanitäre Hilfe und militärische Mittel zusammenbringen.

Bereits etliche Jahre bevor er im Wochenrhythmus verkündete, Politik müsse »nordkurventauglich« sein, wartete Gabriel im Sommerloch 2002 mit dem Vorschlag auf, die Einwanderung aus Russland zu begrenzen. Während die CDU die größte und problematischste Gruppe der Zuwanderer weiterhin »ungesteuert ins Land« lassen wolle, werde Rotgrün die Zahl der Aussiedler minimieren. Es sei ein Fehler, angesichts der riesigen Probleme bei der Integration der Russlanddeutschen zu schweigen.

Als im Januar 2003 »Superminister« Wolfgang Clement wieder einmal eine Reduzierung des Kündigungsschutzes vorschlug, erinnerte Gabriel zustimmend daran, er selbst habe dies bereits in der jüngeren Vergangenheit angeregt. Vier Wochen später stürzte die SPD bei der Landtagswahl in Niedersachsen von 47,9 auf 33,4 Prozent ab, und Gabriel wurde zunächst Oppositionsführer. Zudem trat der gelernte Berufsschullehrer nach langjähriger Mitgliedschaft in den Gewerkschaften ÖTV/Verdi in die IG-Metall über. Begründung: Von Bsirske und seinen Leuten habe er sich im Landtagswahlkampf nicht vollherzig unterstützt gefühlt.

Gabriel war jetzt im politischen Nebenjob auch Parteibeauftragter für Popkultur und Popdiskurs. Als solcher bezeichnete er im Juni 2003 die Trennung von Thomas Anders und Dieter Bohlen alias »Modern Talking« als »überfällig« und betonte, als Ministerpräsident habe er persönlich verhindert, dass Bohlen das Bundesverdienstkreuz bekommen habe. Acht Stunden später hatte sich herausgestellt, dass diese Haltung unter SPD-Wählern nicht nordkurventauglich war, und Gabriels Landtagsfraktion verschickte ein Dementi – ihr Vorsitzender habe lediglich eine Journalistenfrage scherzhaft beantwortet.

Ende 2003 wiederholte die »Taz«, Gabriel sei die »größte Zukunftshoffnung der SPD«, musste aber wenige Wochen später berichten, die Zukunftshoffnung habe als Ministerpräsident eine Anfrage der CDU-Fraktion falsch beantwortet und 141 Beraterverträge verschwiegen, von denen zufällig der Großteil an die Firma Roland Berger gegangen war – diese machte damals auf Staatskosten regelmäßig als Gutachten getarnte Werbung für Schröders SPD. Gabriel war nun für kurze Zeit unten durch, überall war zu lesen, er habe sein letztes Quentchen Glaubwürdigkeit und seine Zukunft als Politiker verspielt. Die niedersächsische SPD-Fraktion, so die »Taz«, habe »begriffen, dass Gabriel nur noch eine Altlast ist«.

Im August 2004 forderte die Altlast »mehr sozialen Patriotismus«. Adressiert war der nord-kurventaugliche Appell an die Wohlbetuchten, für die stand die Senkung des Spitzensteuersatzes von 45 auf 42 Prozent an. »Wenn wir Veränderungen von Arbeitslosen und Kleinverdienern verlangen, können die Reichen nicht abseits stehen«, sagte Gabriel, der damit erneut seine eifrige Unterstützung für Agenda 2010 und Hartz-IV bekräftigte. Bereits vier Wochen vor diesem Appell hatte die »Taz« einen Text über den Zustand der SPD so betitelt: »Nach Schröder ist vor Gabriel«. Zur Förderung seines Fortkommens trat Gabriel den »Netzwerkern« bei, einer parteiinternen Gruppierung, die sich in Abgrenzung zum linken und rechten Flügel gerne »pragmatisch« zeigt – eine Vokabel, die sich liest, als sei sie für Gabriel erfunden worden.

Das Jahr 2005 begann für Gabriel mit der Enthüllung, er habe seine guten Beziehungen zu VW für einen 100.000 Euro schweren Auftrag eingesetzt, der an die Beraterfirma Cones vergeben wurde. An dem Unternehmen war das ehemalige Aufsichtsratsmitglied des Autokonzerns selbst mit 25 Prozent beteiligt; er habe nach der verlorenen Landtagswahl mit einem Umstieg in die Privatwirtschaft »geliebäugelt« und sei deshalb bei Cones eingestiegen, erklärte Gabriel.

Am Ende des gleichen Jahres war er Umweltminister in der Großen Koalition Angela Merkels. Die »Taz« sah ihn im Wahlkampf vor dieser Ernennung »auf der Fahrt ganz nach oben« und lobte, seine »Selbstironie« habe »etwas Vitales, Ungebrochenes. Er kann cool wirken, schlagfertig, fast wie die Helden in amerikanischen Gangsterfilmen.«

Kaum war der Held im Amt und kaum hatte er ein »neues Kyoto- Protokoll« verlangt, stand er im Dezember 2005 als »Autominister« (»Taz«) da. Der Koalitionsvertrag enthielt im von Gabriel verantworteten Kapitel zur Umweltpolitik eine Passage, die wortgleich die Abgasposition des Verbandes europäischer Automobilhersteller (Acea) wiedergab. Für diesen beziehungsweise dessen Chef Pischetsrieder hatte Gabriel, siehe oben, über seine Firma Cones Lobbyarbeit in Brüssel betrieben. Dabei ging es insbesondere darum, neue Umweltvorschriften für die Autokonzerne auf das geringstmögliche Maß zu reduzieren.

Ende 2007 warf Gabriel der EU vor, mit den geplanten Abgasnormen für die europäische Autoindustrie einen »Wettbewerbskrieg« gegen die deutschen Abteilungen der Branche zu führen. Im Sommer 2008 gab der Minister klein bei, als sein Versuch auf Widerspruch traf, die steuerliche Absetzbarkeit von Spritkosten zu beschränken. Es blieb dabei, dass jene 85 Prozent der gehobenen Mittelklasse- und Oberklassekarossen, die hierzulande als Dienstwagen zugelassen sind, auch weiterhin vollständig der Steuerkasse in Rechnung gestellt werden können. 2009 wurde Gabriel zum Vorsitzenden der SPD gewählt.

Als 2010 das Sommerfest des Bundespräsidenten anstand, kritisierte ausgerechnet Gabriel, dass der BP-Konzern zu den Finanziers gehören sollte. Angesichts der Katastrophe im Golf von Mexiko sei das geschmacklos, er würde sich »schämen«, von »BP bewirtet zu werden«. Der Konzern zog sich angesichts des drohenden Trubels zurück, und der rote Narziss konnte eine miese kleine Rache an seinem ehemaligen Gegenspieler aus Hannoveraner Zeiten, Christian Wulff, feiern.

Als die US-Militärs 2011 Osama Bin Laden liquidierten, zeigte sich der SPD-Vorsitzende sehr erfreut und forderte von der CDU/FDP-Regierungskoalition die gesetzliche Zulassung der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland – für den Antiterrorkampf sei sie höchst wertvoll. Im März 2012 fuhr er nach Hebron und bezeichnete danach via Facebook die israelische Politik gegenüber den Palästinensern als »Apartheidsregime, für das es keinerlei Rechtfertigung gibt«; wie üblich hatte er keine Probleme damit, den Vergleich angesichts von Protesten kurz danach ein wenig zu relativieren.

Heute hier, morgen dort – eine Art Querschnittsthema war in Gabriels Laufbahn die Vermögenssteuer. Bis 2002 war er dafür, dann schlug sein Kanzler für Steuerflüchtige eine Abgeltungssteuer von 25 Prozent vor, wenn diese ihr Schwarzgeld zurück nach Deutschland transferierten. Flugs rechnete Gabriel die zu erwartenden Einnahmen auf aberwitzige 25 Milliarden Euro hoch und attestierte Schröder artig, einen »unglaublich mutigen Schritt« zu gehen; eine Vermögenssteuer sei damit unnötig. Auch im SPD-Programm für die Bundestagswahl im vergangenen Jahr war eine Vermögenssteuer angekündigt – in den Koalitionsverhandlungen spielte das Thema dann keine Rolle mehr. Statt dessen fragte Gabriel auf dem Parteitag im November 2013, dem die Abstimmung über die Koalitionsvereinbarungen folgte: »Wir haben Wahlkampf für soziale Gerechtigkeit gemacht, für die, die Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt haben. Aber was haben wir denen angeboten, denen es gutgeht?«

Ende Juni hat Georg Fülberth im »Freitag« geschrieben, »die bisherige Bilanz« des SPD-Chefs sei »nicht schlecht«. Womöglich stehe ein wirtschaftspolitischer Umschwung bevor, »eine neue keynesianische Periode« für Europa und die USA. »In einem solchen Kontext mag Sigmar Gabriel vom reinen Parteipolitiker sogar zum Parteiführer mit strategischer Statur heranwachsen.« Das ist ein Satz, der dem Gemeinten sehr gefallen würde: Alles kann, nichts muss.

Eric Rotziegler schrieb in konkret 6/14 über den SPD-Europa-Politiker Martin Schulz

 

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