In den syrisch-kurdischen Gebieten bedroht die Terrorgruppe Islamischer Staat nicht nur das Leben Tausender Menschen, sondern auch ein sozial-emanzipatorisches Projekt. konkret sprach mit der kurdischen Aktivistin Dilar Dirik über die Errungenschaften der Rojava-Revolution, den IS-Krieg gegen die Frauen und die Versäumnisse der internationalen Linken.
Konkret: In den kurdischen Kampfverbänden sind viele Frauen in eigenen Bataillonen organisiert. Sie kämpfen an vorderster Front gegen die islamistische Bande des IS. Dieser Kampf ist gleichzeitig auch ein Kampf für ein eigenes politisches Programm. Was sind die Ziele der kurdischen Frauenbewegung?
Dirik: Die kurdische Frauenbewegung stellt sich gegen alles, wofür der sogenannte Islamische Staat steht. Der IS versucht nicht nur, alle Religionen, Kulturen und Zivilisationen, die Diversität des Nahen Ostens, auszulöschen und ein einheitliches Kalifat, mit einer sehr speziellen Interpretation des politischen Islams, zu gründen, sondern der IS führt gleichzeitig auch einen Krieg gegen die Frauen – einen Feminizid. Frauen werden vom IS versklavt, verkauft, vergewaltigt und ermordet. Der Krieg gegen die Frauen wird vom IS, der sich eben auch als patriarchale Macht zu etablieren versucht, äußerst brutal und sehr systematisch geführt. Die kurdischen Frauen, die derzeit an vorderster Front gegen den IS kämpfen, halten es für ihre Aufgabe, sich nicht nur als Kurdinnen, sondern als Frauen dieser mörderischen Bewegung in den Weg zu stellen.
Der IS macht sich bei seinem Kampf gegen die Frauen die feudal-patriarchalen Strukturen in der Region zunutze. Die vergewaltigten jesidischen Frauen beispielsweise werden oft von ihren Familien nicht mehr akzeptiert, weil sie als Opfer von Vergewaltigung als schmutzig und als Schande für die Familie gelten. Das nutzt der IS bei seiner Kriegführung aus.
Den kurdischen Frauen geht es um ein sozial-emanzipatorisches Projekt. Natürlich wird derzeit ein Kampf um Leben und Tod gegen den IS geführt. Aber parallel dazu wird schon seit langer Zeit der Aufbau eines sozialen Projekts vorangetrieben, das ganz explizit auf der Befreiung der Frau basiert.
Wie sieht das praktisch aus? Was haben Kurdinnen und Kurden in den autonomen Regionen in Syrien in den vergangenen Jahren aufgebaut?
Ganz konkret wurden die YPJ, die kurdischen Frauenverteidigungseinheiten, als autonom organisierte militärische Einheiten eingerichtet. Aber abgesehen davon wurden in den letzten Jahren sehr viele soziale und politische Organisationen, Institutionen und Räte gegründet. In den kurdischen Kantonen wurde eine Quote eingeführt, der zufolge in den jeweiligen Parlamenten mindestens 40 Prozent Frauen vertreten sein müssen. Diese Quote gilt auch auf niedrigeren Ebenen, bei Kommissionen oder auf der Ebene lokaler Rätestrukturen. Die PYD (Partei der Demokratischen Union) hat außerdem das Prinzip der Copräsidentschaft eingeführt. Das heißt, dass auf allen Parteiebenen, nicht nur bei der Parteiführung, sondern auch in lokalen Nachbarschaftsräten, immer ein Mann und eine Frau an der Spitze stehen müssen.
Parallel dazu haben sich autonom organisierte Frauenräte in allen Städten und Dörfern des Gebiets gegründet, die unabhängig über Angelegenheiten entscheiden, die vor allem Frauen betreffen. Es wurden auch Frauengerichte eingeführt, die sich speziell um Fälle kümmern, bei denen es um Gewalt gegen Frauen geht. Außerdem wurden Frauenakademien gegründet, die Bildungsarbeit betreiben. Es gibt Frauenkommunen und Frauenkooperativen. Ein Ziel der Rojava-Revolution – Rojava ist das kurdische Siedlungsgebiet in Syrien – besteht darin, die Frauen effektiv in die Wirtschaft einzubinden, so dass sie sich auch finanziell emanzipieren können.
In der gegenwärtigen Kriegssituation liegen diese sozialen Projekte natürlich weitgehend auf Eis – vor allem in Kobane. Aber etwa im Cizire-Kanton, das ist der östlichste Kanton, der noch verschont ist, werden sehr viele dieser Projekte verwirklicht. Dort wurde auch eine Universität gegründet, die einen alternativen Bildungsweg anbietet und sich vor allem auf Sozialwissenschaften spezialisiert hat.
Natürlich geht es auch darum, die Mentalität der Menschen umzuformen. Frauenquoten und Doppelspitzen allein werden die sehr patriarchal geprägte Gesellschaft Kurdistans nicht verändern. Aber auch der Kampf gegen den IS hat in dieser Richtung etwas bewirkt. Wenn Männer sehen, wie die Frauen, ihre Töchter, ihre Schwestern, gegen diese ultra-patriarchale Terrorgruppe kämpfen, macht es sie auch stolz, und es verändert ihren Blick auf die Frau.
Das Ziel der autonom organisierten Frauenbewegung in Rojava ist es, die Befreiung der Frau als zentrales Anliegen im Freiheits- und Demokratiekampf zu positionieren. So soll verhindert werden, dass die Durchsetzung von Frauenrechten als sekundäres Ziel auf die Zeit nach der Befreiung verschoben wird – und es dann doch nie dazu kommt.
Im Westen glauben die meisten Menschen nach wie vor, dass die Kurden einen eigenen Staat gründen wollen.
Die PKK hat schon vor 15 Jahren den Staatsanspruch aufgegeben. Öcalan selbst hat in seinen Büchern, die nach 2000 erschienen sind, den Nationalstaat scharf kritisiert. Der kapitalistische, nationalistische, chauvinistische und patriarchale Nationalstaat ist nicht die Lösung, sondern das Problem. Den Kurden geht es um regionale Autonomie. In Syrien haben sie sich von Anfang an gegen die Idee eines eigenen Staates gewandt. Der einzige Teil Kurdistans, der noch an dieser Idee festhält, ist der irakische Teil. Es ist interessant, dass gerade diese Region in besonderem Maße vom Westen unterstützt wird.
Der Internationalismus war einmal ein linkes Projekt. Derzeit muss man dagegen wohl von internationalen jihadistischen Brigaden reden. Wissen Sie von linken Gruppierungen oder Einzelpersonen, die sich dem Widerstand gegen den IS anschließen?
Leider hat sich die internationale Linke oft in Diskussionen über Antiimperialismus und Waffenlieferungen verfangen und die Chance, diesen revolutionären Kampf im Nahen Osten zu unterstützen, nicht wahrgenommen. Doch vor allem in den letzten Wochen ist das, was in Rojava passiert, immer mehr ins Bewusstsein von linken Bewegungen und Parteien gerückt. Der Kampf in Kobane ist eine historische Chance für die internationale Linke. In nächster Zeit wird es sicher zu stärkerer internationaler Unterstützung des Kampfes gegen den IS kommen. Es gab bereits einige Aufrufe an Linke, sich dem Widerstand anzuschließen. Ich weiß von einer Gruppe Anarchisten aus Istanbul, die nach Kobane aufbrechen will. Die Unterstützung und Verteidigung der Projekte in Rojava müsste der internationalen Linken ein zentrales Anliegen sein.