Eine Neuausgabe von Henri Lefebvres Revolution der Städte gibt Anlass zu einem kritischen Blick auf die »Recht auf Stadt«-Bewegung. Von Felix Klopotek
Es ist ein offenes Geheimnis: Dass die außerparlamentarische Linke sich derzeit auf innerstädtische, »urbanistische« Kämpfe stürzt, von Gentrifizierung fast schon häufiger als von Ausbeutung und Repression spricht und auf spektakuläre Aktionen gegen Zwangsräumungen setzt, hat damit zu tun, dass sie in diesen Auseinandersetzungen endlich mal wieder Land sieht. Die Mieten steigen in den Zuzugsstädten dramatisch, selbst sozialdemokratisch orientierte Kommunalpolitiker schauen heute ratlos auf 15, 20 Jahre verheerend neoliberale Stadtplanung zurück. Linke Aktivisten werden wieder gehört, ihr praktisches Wissen aus dem Häuserkampf der Achtziger kann sich bei Wohnungsblockaden und symbolischen Besetzungsaktionen noch einmal bewähren. Allein der in stadtpolitischen Initiativen engagierte Soziologe Andrej Holm hat in diesem Jahr drei Kampfschriften (Mietenwahnsinn, Reclaim Berlin, Wohnraum ist keine Ware!) in ganz unterschiedlichen Verlagen veröffentlicht. Dass die Innenstädte unbezahlbar und die Vorstädte unbewohnbar werden – das ist keine Dystopie apokalyptisch gestimmter Autonomer, sondern Gewissheit des Mainstreams. Nicht die schlechtesten Voraussetzungen für ein Comeback des Häuserkampfs.
Aber so einfach ist es mal wieder nicht. Denn gerade die Mieterkämpfe, für die die Aktivisten Öffentlichkeit herstellen wollen, haben paradoxerweise einen privaten Charakter, sind durch individuelle, »kleine« Lösungen schnell zu befrieden: Mieterproteste, etwa gegen die Freigabe ihrer bislang sozial geförderten Wohnungen für den Markt, was immer eine drastische Mietsteigerung bedeutet, fallen nicht selten in sich zusammen, wenn den Mietern Ersatzobjekte oder eine »weiche« Übergangszeit in Aussicht gestellt werden. In den Verwaltungen der kommunalen Wohnungsbaugesellschaften, die längst hemmungslose Marktakteure sind, ist man für diese Art von Protesten sensibilisiert. Wohnen ist immer noch Nischenfrage: Wer seinen Rückzugsort, sein ruhiges Plätzchen gefunden hat, der sieht keine Notwendigkeit mehr zu kämpfen. Auch – besser: gerade – völlig überhitzte Wohnungsmärkte leben von der klassenübergreifend geteilten Illusion, es gäbe noch Geheimtips, unentdeckte Ecken, sagenhafte Altbauwohnungen, die ohne Makler vermittelt würden – man müsste bloß gründlicher suchen.
Zudem krankt der neue urbane Kampf daran, dass er sich auf die wenigen dynamischen, wachsenden Städte in Deutschland fokussiert, auf Hamburg, Berlin, Köln, vielleicht noch München und Frankfurt. Aber wer redet von der Verödung, dem Schrumpfen, auch eine Form der Stadtzerstörung, vielleicht sogar die brutalere, wer kämpft also für Bottrop, Hagen, Saarbrücken oder die ostdeutschen Städte? Kaum hat sich die Linke ins Getümmel gestürzt, fällt auf, müsste eigentlich auffallen, dass ihr ein Begriff von Urbanität fehlt, dass das »Recht auf Stadt« nicht nur Köln-Ehrenfeld und das Hamburger Schanzenviertel meint, sondern auch Duisburg-Meiderich. Wer an Begriffsarbeit interessiert ist, dem bietet sich mit der Neuauflage von Henri Lefebvres Die Revolution der Städte eine gute Gelegenheit: Es ist ein Grundlagenwerk, 1970 in Frankreich erschienen, 1972 in einer teils kuriosen Übersetzung erstmals auf deutsch veröffentlicht (statt Überbau Oberbau, statt Akkumulation Anhäufung etc.), die– noch kurioser – in keiner der folgenden drei Auflagen korrigiert wurde. Grundlagenwerk ist radikal zu verstehen: Denn Lefebvre (1901–1991) argumentiert auf einem abstrakten Niveau jenseits der Baumgrenze, hinzukommt, dass das Buch unmittelbar vom Geist des Pariser Mai getragen wird: Die Sprache ist kategorial, ihr Gestus aber von großer Dringlichkeit. Eine eigentümliche Mischung, wie sie wohl angemessen nur in (post-)revolutionären Zeiten verstanden werden will. Lefebvre gilt in Deutschland als legendärer marxistischer Unbekannter (viele seiner Werke sind allerdings übersetzt), den niemand liest, von dem aber jeder weiß, dass er Lehrer und Stichwortgeber Guy Debords war (Die Gesellschaft des Spektakels) und das Alltagsleben der marxistischen Kritik erschloss.
Die Schwierigkeit der Lektüre wird nicht nur durch die Übersetzung und den zeitgenössischen Pathos bedingt, sondern liegt auch an einem Schwanken Lefebvres: Er kann sich nicht recht entscheiden, ob er »nur« Ideologiekritik üben will – und zwar am Urbanismus, heute würde man sagen: an der Stadtsoziologie – oder ob er die Herausbildung der spezifischen Form »Stadt« darstellen und ihre potentielle Widerständigkeit wie ihre kapitalistische Zerstörung herausarbeiten soll. Hell wird es dort, wo die Geistesblitze einschlagen: Etwa wenn Lefebvre die Stadt – wenn man so will: als Produktivkraft – mit der Fabrik vergleicht. Die Fabrik ist ja nicht nur eine Ansammlung vieler Arbeiter, ein örtliches Zusammenführen vieler Werkstätten, sondern steigert die Produktivität der Arbeitskraft durch Kombination und Verschaltung weit über jedes bis dato bekannte Maß. Mit der Stadt verhält es sich ähnlich, auch sie ist kein Verschmelzen von Dörfern, kein Ergebnis einer einfachen Multiplikation, sondern bringt einen neuen sozialen Raum hervor, der beides ist: auf die Bedürfnisse der Kapitalverwertung zugeschnitten, aber ebenso ein Ort, an dem ein eigenständiges, eigensinniges Bewusstsein seiner Bewohner entsteht – ein Ort der ungezügelten Kommunikation, der Zusammenballung widerständiger Energie.
An diesem für Staat und Kapital problematischen Kippmoment, an dem die Stadt als Fabrik zur Stadt des Widerstands werden könnte, setzt nach Lefebvre die Ideologie ein: Wie die Fabrik selber zu einem Gegenstand bürgerlicher Ideologie wird – das Ideal der »wissenschaftlichen Betriebsführung« und die Betriebswirtschaftslehre als eigenständige Forschungsrichtung entstehen bekanntlich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts –, so wird in der akademischen Reflexion die Stadt herausgelöst aus ihrem kapitalistischen Zusammenhang und von Stadtplanern als isolierte Einheit betrachtet. (In Frankreich, wo der eigentliche Urbanisierungsschub erst in der Nachkriegszeit, genauer: in den sechziger Jahren, stattfand, mag sich der Ideologiecharakter der Soziologie noch krasser dargestellt haben.) Zwar kommen Soziologen und Stadtplaner auf jede Menge »humanistischer« Lösungen, die aber immer auf ein Ruhigstellen der Bewohner, ein Verschweigen und Trennen hinauslaufen: die Trennung der Innenstädte von den Produktionsstätten, die Schaffung abgeschlossener Siedlungen, die den Arbeitern größeren Wohnraum bieten, sie jedoch vom übrigen Stadtraum fernhalten. Dass viele urbane Kämpfe heute diesen isolierten, »privaten«, defensiven Charakter haben, liegt an der Zerstückelung des städtischen Raums – und seiner nachgerade psychotischen Wiederauferstehung als Konsumsphäre: »Nehmen wir uns die Stadt!« meint heute »Mehr Platz für die Außengastronomie«.
Lefebvre muss sich im Auge des Taifuns gewähnt haben: Hier der Vormarsch der Urbanisten – in Tateinheit mit den sozialistischen und kommunistischen Parteifunktionären in den proletarischen Banlieues, die nur auf lieblose quantitative Maßnahmen setzen –, dort die Aufständischen und Streikenden vom Mai 1968: die Zuspitzung der Widersprüche, Verschärfung der Klassenkonflikte bei gleichzeitiger Aufrüstung des Gegners. Man merkt dem Buch eine gewisse Hast an – der nächste Mai schien ja nur ein paar Monate entfernt! Heutige Leser müssen deshalb Übersetzungsarbeit leisten: Der Urbanismus hat gesiegt und ist ein Freund der Linken – weil die verloren haben und sich an dessen bürgernahe Visionen klammern, wie sie zum Beispiel vor einigen Jahren das Architekturbüro von Albert Speer Junior in einem aufsehenerregenden Masterplan für die Kölner Innenstadt vorgestellt hat: Wiederherstellung eines einheitlichen städtischen Raums, Integration ehemaliger Industriebrachen, Stärkung von Plätzen und Ausweitung der Fußgängerzonen, Wiederbegrünung, Drosselung des Autoverkehrs, und das alles in nachvollziehbaren Schritten. Natürlich klingt das gut, und natürlich ändert das nichts an der Entproletarisierung der Innenstadt selbst (der Masterplan wurde von den »Unternehmern für die Region Köln« in Auftrag gegeben und von der Kommunalpolitik übernommen). Um die Leere hinter diesem schönen Schein zu entdecken – dafür taugt Lefebvre immer noch.
Henri Lefebvre: Die Revolution der Städte. La Revolution Urbaine. Mit einer Einführung von Klaus Ronneberger. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2014, 224 Seiten, 19,90 Euro
Andrej Holm: Mietenwahnsinn. Warum Wohnen immer teurer wird und wer davon profitiert. Knaur, München 2014, 192 Seiten, 7 Euro
Ders. (Hg.): Reclaim Berlin. Soziale Kämpfe in der neoliberalen Stadt. Assoziation A, Berlin 2014, 368 Seiten, 18 Euro
Andrej Holm/Leo Kühberger (Hg.): Wohnraum ist keine Ware! Sozialer Wohnbau: Geschichte, Kämpfe, Perspektiven. Mandelbaum, Wien 2014, 240 Seiten, 19,90 Euro
Felix Klopotek wohnt in der letzten Ecke Köln-Ehrenfelds, in der die Punks und Obdachlosen noch neben die Mülltonnen kotzen