Aktuelles

tl_files/hefte/2019/abo919start.jpg

To watch this video, you need the latest Flash-Player and active javascript in your browser.

Tomayers Video-Tagebuch

No-Go-Area Deutschland

Filmkritiken

Termine

von konkret

Einzelzimmer auf der Palliativstation, vormittags halb elf. Horst Tomayer wird erst beim vierten Versuch von einer der beiden Krankenschwestern am Fuß des Betts verstanden: »Datum? Wochentag?« Die Antwort versteht er auch erst im vierten Versuch: »Freitag, der 13. Dezember.« Tomayer: »Das paßt.« Famous last words. Zwei Stunden später ist er tot, der liebe Freund, der große Dichter, an dem Deutschlands Literaturbetrieb sich blamiert hat für und für.

 

DÉFORMATION PROFESSIONNELLE

 

Unsre Zeit, sie deformiert

Nicht allein den Leiharbeiter.

Auch im Künstlerhirn vibriert

Zeitgeist wie verdreckter Eiter.

 

Andersrum: in der fixierten

Staatsform steigen rings zuhauf

Vorzugsweis die Deformierten

In den Dichterhimmel auf.

 

Sich in den Olymp zu pressen

Sind sie allbereit und munter.

Wenn die Wolke durchgesessen,

Falln sie alle wieder runter.

 

Einer, der zu diesen öden

Possen keine Neigung fand,

Dichtete, fernab vom Schnöden,

Am verbauten Elbestrand.

 

Tomayer, gepriesen seien

Und der Nachwelt aufbewahrt

Deine laxen Litaneien:

Polternd, tänzelnd, winterhart.

 
Marco Tschirpke

 

Ein paar Tage vor seinem Tod hatte Tomayer Sohn Jonas, Enkelin Louisa und die Freunde zu sich bestellt. Er wolle Abschied nehmen. Begonnen hatte der lange Weg dorthin im Frühjahr 2012. Ein ums andere Mal fühlte er sich »latschert«, ohne Elan. Aber im August noch war er wie jedes Jahr mit seinem Rad an einem

Tag die 300 Kilometer von Hamburg nach Berlin gefahren. Im Herbst dann die ersten Gleichgewichtsstörungen,

unterbrochen von der letzten Lesereise im »Sehr gemischten Doppel«. Im ICE erkannte ein Schaffner in ihm den Schauspieler aus dem Fernsehen. Es war das ganz große Glück. Am Abend dann, in Heilbronn, war er nicht von der Bühne zu kriegen: Tomayer verlängerte das zweistündige Doppel mit einem Solo auf drei Stunden.

Nach der Heimkehr ein Schwindelanfall, im Uniklinikum Eppendorf die Diagnose: Eine Geschwulst blockierte die Verbindung zwischen Rückenmark und Gehirn. Nach der OP saß er vergnügt in seinem Bett, ließ sich von Werner Heine, der sein Leibgardist wurde, von Marit Hofmann, Fritz Tietz und Hermann Gremliza täglich Knabberware vom Hansebäcker Junge, die »FAZ« und die »Süddeutsche« bringen, ein bißchen Obst von Edeka, dazu zehn bis zwanzig Zweieuromünzen, die er an Schwestern und Helfer verteilte. Er hatte immer gern bezahlt: Jeder bekam Trinkgeld für irgendwas, noch in der Apotheke rundete er den Preis nach oben auf (»Der Rest für Sie!«), und bevor er sich mit dem »Karren« (Rad) oder dem »himmelblauen Fratz« (Vespa) aufmachte, in der Redaktion sein »Ehrliches Tagebuch« zu imprimieren, faxte er einen Bestellschein, in den jeder eintragen durfte, welches Fischbrötchen Tomayer ihm von Hagenah mitbringen solle – gratis, versteht sich, bei einer monatlichen Rente von mehr als fünfhundert Euro.

Aus dem Klinikum floh er nach jeder Behandlung so rasch wie möglich zurück in »meine geliebte Wohnung«. Wenn er nichts brauchte, wehrte er jeden Besuch ab, und nahm es doch hin, wenn man sich nicht an sein Nein hielt. Nach einer halben Stunde erteilte er Platzverweis. Der große Kümmerer, der so viele besucht, umsorgt, durchgefüttert und gefördert hatte, war bis zum Schluß davon erschöpft, Zahl und Länge der Besuche an seinem Krankenbett »einzureduzieren«.

Worte wie dieses sammelte er: die Außenfassade, das Vorprogrammieren, die Neurenovierung, das Aufmontieren und das Durchpassieren. Sie werden sich in seinem Nachlaß finden, neben Minikassetten mit Deutschen Gesprächen und Ordnern mit geschätzten zehntausend Seiten Faxen, liebevoll gestaltet und mit Vignetten geschmückt. Ob es je ein Verlag riskieren wird, die Gesammelten Faxe als Typoskript herauszugeben? Es wäre ein Zeichen, daß es jenseits der literarischen Zwergenwelt Freunde der Dichtung gibt, denen die Walsers, Grünbeins und die Kehlmänner nicht genug sind.

 

Denn Dein ist der Reim und die Kraft

und die Fröhlichkeit

in Ewigkeit

F.W. Bernstein

 

Ein letztes von der Kulturredakteurin Marit Hofmann zusammengestelltes »Ehrliches Tagebuch« steht auf Seite 65 in dieser Ausgabe. Das Tomayer-Gedenken wird im Februarheft fortgesetzt.

Zurück