Den Knigge ersetzt in links-alternativen Zusammenhängen nun die ähnlich restriktive »Awareness-Arbeit«. Von Malina Schwarz
Den Anspruch, sich anderen gegenüber rücksichtsvoll, sensibel, einfühlsam und aufmerksam zu verhalten, kann man an mündige Personen mit einiger Berechtigung stellen. Da im alltäglichen Umgang Wünsche und Sehnsüchte nicht immer eindeutig artikuliert werden, kann der Versuch aber auch nach hinten losgehen. Man denke an ältere Menschen, denen im Bus ein Platz angeboten wird und die sich dadurch auf ihr Alter reduziert fühlen könnten. Um Gefahrenquellen zu verkleinern, scheint es bei immer mehr Veranstaltungen verschiedener Couleur eindeutiger Benimmregeln zu bedürfen, deren Einhaltung eine bestimmte Gruppe, das sogenannte Awareness- Team, kontrolliert.
Der Begriff Awareness stammt aus der Psychologie und drückt ein Bewusstsein für die eigene Umgebung aus: Man versucht, die Bedürfnisse anderer zu erahnen und adäquat und behutsam darauf zu reagieren. Heute taucht der Begriff häufig in entstellter Form auf: Den Knigge, der in konservativen Kreisen ehemals als Orientierung für gutes Benehmen diente, ersetzt in links-alternativen Zusammenhängen nun die ähnlich restriktive »Awareness-Arbeit«.
Lehnten sich Subkulturmitglieder einst bewusst mittels »schlechtem«, gar beleidigendem Benehmen gegen gängige Normen und Werte auf, zeigen sie sich heute gern von einer konformistischen Seite. Beim Einlass zum Punkkonzert wird einem nun schon mal ein Zettel mit den dort geltenden Grundsätzen in die Hand gedrückt: »against sexism, racism, lookism, ableism and classism«.
»Awareness-Arbeit hat«, kann man bei awareness-blogsport.eu nachlesen, »das Ziel, mit allen Beteiligten diskriminierungsfreie(re) soziale Räume herzustellen.« Das sei notwendig, »damit sich dort möglichst viele Menschen wohlfühlen können«.
Was unter Erwachsenen selbstverständlich sein sollte, scheint heutzutage erst artikuliert werden zu müssen: So wünscht sich das Awareness-Team des Piraten-Parteitags 2014 »ein von Respekt und Empathie geprägtes Miteinander unter allen Teilnehmenden«. Damit die Spielregeln des Miteinanders auch eingehalten werden, gibt es bei Veranstaltungen Awareness-Teams, an die man sich wenden kann und die dann für Vermittlung sorgen sollen oder Fehlverhalten dadurch sanktionieren, dass der (meist männliche) Übeltäter gehen muss.
Im akademischen Betrieb hat sich Awareness ebenfalls etabliert. So verdeutlicht der Arbeitskreis Awareness der Universität Kassel anhand konkreter Beispiele, wie ein sensibles und durch Einfühlungsvermögen geprägtes Miteinander aussehe: Es gelte, »sich einzumischen, wenn Menschen unsere Unterstützung brauchen«. So lohne es, ist auf der Homepage des Arbeistkreises zu lesen, etwas zu sagen und einzugreifen, »wenn auf einer Party eine Person eine andere penetrant antanzt, welcher dies offenbar unangenehm ist«. Der AK Awareness hat darüber hinaus Internetseiten verlinkt, die sich ebenfalls gegen »rassistisches, sexistisches, ableistisches, klassistisches, lookistisches Verhalten« wenden.
Man bekommt einen Leitfaden über geschlechtergerechte Sprache an die Hand und kann sich auf der Seite von »Hurraki« über leicht verständliche Sprache informieren, denn: »Viele Menschen reden umständlich. Nicht jeder versteht das. Die Wörter bei Hurraki soll jeder verstehen können. Niemand soll ausgegrenzt werden.« Und so liegen die Einträge dieses Wörterbuchs, das ein studentischer Arbeitskreis verlinkt, meist unter dem Niveau von Kinderbüchern: »Die Erde kann wackeln. Man sagt dann: Das ist ein Erdbeben.«
Dass Gutgemeintes selten gut ist, wird bei der Auseinandersetzung mit Awareness-Arbeit deutlich. Hier versuchen meist linkspolitisierte Erwachsene ebensolche zu erziehen, wenn nicht gar zu entmündigen. Man könnte es mit Humor nehmen, wenn man in ehemals besetzten Häusern Flyer in die Hand bekommt, die darauf hinweisen: »Außerdem wünschen wir uns einen bewussten Konsum: Kenne deine Grenzen, und nimm nur soviel, wie du für dich selbst und für andere verantworten kannst.« Das erinnert nicht zufällig an die eingängigen öffentlichen Warnhinweise auf Zigarettenpackungen (»Rauchen ist tödlich«), an Autobahnen (»Einer rast, zwei sterben«) und auf Nahrungsmitteln (»Kann bei übermäßigem Verzehr abführend wirken«).
Linke Gruppen und Veranstalter, die die von ihnen genutzten Orte gern als Freiräume bezeichnen, kultivieren einen gesamtgesellschaftlichen Trend, der Erwachsene zu Kindern degradiert, die für alles Ratgeber und Verhaltenskodizes brauchen: Studierende wissen nicht mehr, was sie machen sollen, wenn man ihnen keinen Plan an die Hand gibt; im Fernsehen lernen mündige Bürger, wie sie mit Geld umgehen, kochen und ihre Kinder erziehen sollen; in Bus und Bahn hängen Bilder, die vermitteln, für wen man bei Bedarf Platz machen sollte. Ohne Reglement gilt, so scheint es, anything goes: Die Menschen würden in Passivität versinken oder gar übereinander herfallen.
Dass man mit Reglementierungen nur das fortsetzt, was man gerade vermeiden will, reflektieren insbesondere links-alternative Kreise meist nicht. Anstatt Leute zu befähigen, mit Selbstbewusstsein, zu der auch Selbstironie gezählt werden kann, Einfühlungsvermögen und Wissen auf das Verhalten anderer adäquat zu reagieren, tut man genau das Gegenteil.
Manche Kritiker des sogenannten classism (eine der vielen Diskriminierungsformen, gegen die man sich mit dem Awareness-Konzept wendet) behaupten zum Beispiel, wer sich so artikuliere, dass andere ihn nicht verstehen, verhalte sich klassistisch und diskriminiere dadurch sein Gegenüber. Dabei sind jedem und jeder Situationen im Leben bekannt, in denen andere mehr wissen als man selbst. Das sollte man einfach hinnehmen, im besten Fall sollte es einen dazu anregen, sich das fehlende Wissen anzueignen. Durch die Aufforderung, Wissen nicht herauszustellen, flüchtet man hingegen in ein kollektives Unwissen. Anstatt sich gemeinsam darüber aufzuklären, wodurch gesellschaftliche Diskriminierungen entstehen und warum sich diese auch in sogenannten Freiräumen nicht aufheben lassen, kultiviert man in manchen Kreisen eher infantiles Verhalten: Man erlegt sich selbst und anderen regressive Formen des gesellschaftlichen Miteinanders auf, reduziert den eigenen Wortschatz beispielsweise auf den eines »Erklärbären« (awareness-blogsport.eu) oder kommuniziert nonverbal mittels Handzeichen, die denen in der Schule gleichen. Auch die Anforderung, Ironie und Sarkasmus zu kennzeichnen (wirliebenkonsens.wordpress.com/nettiquette) und damit einzugestehen, dass man nicht in der Lage ist, diese zu verstehen, und sich dadurch möglicherweise streitet, ähnelt eher kindlichem Verhalten.
Zweifellos gibt es Sexismus, Rassismus und Ressentiments gegenüber Menschen mit einem anderen Bildungshintergrund auch unter Linken. In Gruppen, die, um solchen Ressentiments zu begegnen, ein Awareness-Team brauchen, läuft was falsch. Außerdem relativiert man, wenn man jedes unschöne Verhalten unter Erwachsenen zur Diskriminierung erklärt, zum einen tatsächliche Diskriminierungen und suggeriert zum anderen, man sei permanent gewaltförmigen Handlungen ausgesetzt. Jede Berührung ohne vorher artikulierte Zustimmung des Berührten ist demnach schon ein übergriffiges, potentiell gewaltförmiges Verhalten. Jede sachliche Kritik, die eine Auseinandersetzung zum Ziel hat, wird durch sogenannte gewaltfreie Kommunikation im Keim erstickt. Anstatt sich zu fragen, woher die kollektive Harmoniesucht stammt und warum sich anscheinend immer mehr Menschen ständig durch andere angegriffen fühlen, bestätigen Awareness-Beauftragte dieses Schutzbedürfnis und schwingen sich zu Hütern der Ordnung auf, die den staatlichen ähneln. Dabei waren gerade linke und linksalternative Lokalitäten doch immer auch Orte, an denen Menschen, die in ihrem Äußeren oder in ihren Gedanken nicht der Mehrheitsgesellschaft entsprachen, Schutz fanden. Dieser Schutzraum, der notfalls zu Recht auch mit Gewalt verteidigt wurde, schlägt nun mancherorts in einen Schonraum um.
Woher kommt dieses enorme Harmonie und Schutzbedürfnis? Die sich verstärkende ökonomische Konkurrenz, die heute schon in der Schule vermittelt wird, stellt kooperatives zwischenmenschliches Verhalten in immer stärkerem Maß in Frage, da es kontraproduktiv für das eigene Fortkommen sei. Das wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus. Um das eigene Vorankommen zu sichern, müssen gesellschaftliche Anforderungen vor allem durch Selbstdisziplinierung verinnerlicht werden, die im eigens dafür vorgesehenen Rahmen exzessiv kompensiert wird. Es mag daher durchaus sein, dass tatsächlich weniger Leute in der Lage sind, sich ohne vorgegebene Regeln rücksichtsvoll zu verhalten. Weil die Flucht in den
Konformismus und ins Autoritäre, zu der auch Awareness-Arbeit gehört, ebenfalls nicht dazu befähigt, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, kann sie aber kein Ausweg sein.
Malina Schwarz promoviert in Sozialpolitik und hält und organisiert Vorträge im Rahmen des AK Kritische Intervention der Universität in Halle